Corona: Deutsch­land nicht erfolg­reicher?

Ein Kapitel ist mir bei “Coronomics” besonders schwergefallen. Das Kapitel, in dem ich mich der schwierigen Frage annähere, wie viel ein Menschenleben wert ist bzw. wie viel Geld wir für die Verlängerung von Lebenszeit aufzuwenden bereit sind. Schon im Frühjahr deutete sich an, dass wir viel mehr Geld aufwenden in Form von Wohlstandsvernichtung als für jeden anderen Versuch, Lebenszeit zu verlängern. Angesichts der ethischen Probleme mit dieser Frage und einer gerade in Deutschland in dieser Hinsicht besonders problematischen Diskussion habe ich etwas laviert.

Warum komme ich heute darauf zurück? Nun, es ist Folge eines sehr interessanten Interviews, das ich in der WELT gelesen habe. Der Epidemiologe Klaus Stöhr kommt darin zu folgender Aussage: „(…) abgerechnet wird immer zum Schluss, denn die Schweden, die Israelis und viele andere Länder sind Deutschland weit voraus auf dem Weg durch die Pandemie.“ Stimmt diese Einschätzung – und mir leuchtet sie zumindest ein – dürfte sich die Zustimmung in der Bevölkerung zur Politik nicht auf heutigem Niveau halten.

Bevor wir uns das Interview ansehen, möchte ich an einen Kommentar von Herrn Bauer erinnern, der bereits zweimal auf diesen Seiten zum Thema geschrieben hat (und unzählige Male kommentiert):

COVID-19 – nüchtern betrachtet

COVID-19 – eine Zivilisations­krankheit?

Herr Bauer war so freundlich, mir eine aktuelle Übersicht der Corona-Zahlen im weltweiten Vergleich zukommen zu lassen. Diese sind hier abrufbar:

Aktuelle Corona-Zahlen weltweit

Mit Blick auf die aktuelle Lage verwies er auf diesen im März 2020 bei bto gemachten Kommentar: “Zum Virus selbst ist zu sagen, dass er, wenngleich lästig bis gefährlich, in der allgemeinen Panik überschätzt wird. Für Junge und Gesunde ist er überwiegend gut überlebbar, für gesundheitlich schwer Lädierte eben der letzte Stoß über Bord. Außerdem sind die Zahlen grob übertrieben, da objektiv die saisonal ohnehin fälligen Grippefälle ebenso abzuziehen wären wie die Todesfälle, die wegen der lebensbedrohenden Vorbelastungen ohnehin vorhersehbar waren. Für beide Fälle könnte dieser Anteil bis zur Hälfte betragen.

Die Oberste Heeresleitung, vulgo Regierung, sollte militärisch denken. Dann wäre das Ziel nicht die Rettung möglichst vieler Leben, sondern die Kraft und Funktionsfähigkeit der Gesellschaft am Ausgang. So hart es ist, Einzelschicksale dürfen weder einen Feldherrn noch eine Regierung in die Irre leiten. Im vorliegenden Falle würde das heißen, der Durchseuchung ihren Lauf zu lassen, sie eher sogar zu beschleunigen, die Toten zu beklagen, die Funktionsfähigkeit der realen Wirtschaft zu bewahren, bei dieser Gelegenheit die hypertrophierte Finanzwirtschaft drastisch zurückzustutzen (und dabei der sogenannten Elite die Existenzgrundlage zu entziehen) und auf Grundlage unserer kulturellen Tradition, die das Land zusammenhält, eine hoffentlich etwas besseres und in jeder Hinsicht saubereres Zuhause wieder einzurichten.”

Das passt sehr gut zu aktuellen Lage und zu dem Artikel:

  • Die Belgier kommen erst jetzt in einigen Hospitälern über die Grenzen der Intensivmedizin. Für Deutschland müsste man bei circa 30.000 Neuerkrankungen am Tag und 20.000 Intensivbetten mit einer Auslastung von circa 65 Prozent rechnen. Wenn wir jetzt die Bremse anziehen, kann das Sinn machen. Ich hätte aber noch gewartet. Weil nach dem Ende dieses Teil-Lockdowns in etwa vier Wochen 80 Prozent der Deutschen für das Virus immer noch voll empfänglich sein werden. Wenn wir dann den Fuß von der Bremse nehmen, wird die Pandemie mit vollem Schwung wieder einsetzen.“ – bto: Stöhr sagt im Kern Folgendes: Alle werden es bekommen, solange wir nicht jeden impfen. Je weniger es hatten, desto größer also noch die Zahl der Menschen, denen die Erfahrung noch bevorsteht.
  • „Alles, was die Übertragung reduzieren kann, ist gut. Die Frage ist nur: mit welchem Ziel? Geschlossene Gaststätten werden wie die anderen Beschränkungen die Infektionszahlen vermindern. Die Bundesregierung versucht es mit allen Maßnahmen, die irgendwie wirken könnten. Für mich ist das die Ultima Ratio, wir haben sonst keine Schüsse mehr im Magazin. (…) Aber was mir fehlt, ist die Langzeitstrategie. Und die richtige Kommunikation. Es gibt Leute, die sagen, jetzt noch die vier Wochen Lockdown, und dann wird Weihnachten alles gut. Das ist nicht der Fall. Es dauert noch einen weiteren Winter. Das steht außer Frage.“ – bto: weil wir noch nicht die „Durchseuchung“ haben.
  • „Noch einen weiteren Winter? Sie sprechen von Dezember 2021? Ja. Ich glaube, dass immer noch viele Menschen denken, wir könnten das Virus aufhalten. Ihnen ist nicht klar, dass es sich hier um ein Naturereignis handelt, das wir nicht stoppen können. Die meisten haben nicht verstanden, dass sich alle Menschen auf der Welt anstecken werden. Dass die Pandemie erst vorbei ist, wenn alle infiziert oder geimpft sind. Dass die Herbstwelle nun mit voller Wucht kommt, sollte für niemanden eine Überraschung sein. Deshalb verstehe ich auch nicht, dass man erst jetzt Pläne entwickelt. Dafür hätte man den ganzen Sommer Zeit gehabt.“ – bto: Und da bin ich zu 100 Prozent der gleichen Meinung! Das gilt auch für die Hilfsmaßnahmen, die nun erneut mit heißer Nadel zusammengestrickt werden.
  • „Die wichtigste Frage in der Pandemiebekämpfung lautet doch: Was wollen wir? Wollen wir die gesundheitlichen und die ökonomischen Schäden durch das Virus so gering wie möglich halten? Oder wollen wir um jeden Preis alle Neuinfektionen verhindern? Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.“ – bto: Letzteres ist sehr teuer und wenn ich es richtig verstehe, sinnlos.
  • „In Deutschland war man im Frühjahr und Sommer über offensichtlich auf Letzteres aus. Am 20. März lag die Reproduktionsrate des Virus unter eins, zu dieser Zeit begann der Lockdown. Gegensteuern war richtig, aber warum hat man den Lockdown so lange aufrechterhalten? Wenn die Reproduktionsrate unter eins fällt, dauert es sehr, sehr lange bis zum Ende der Pandemie.“ – bto: weil es eben nicht genügend Infektionen gibt! Auch das klingt logisch.
  • „Wenn das Ziel allerdings die Minimierung der vermeidbaren schweren Erkrankungen und Todesfälle ist, dann hätte man sagen müssen: Wir dürfen auf keinen Fall die Kitas und Schulen schließen, weil wir bei den Kindern und Jugendlichen die Ansteckungen langfristig nicht verhindern können, wenn im Herbst die unvermeidbare Welle kommt. Denn einen zweiten vollständigen Lockdown kann es jetzt nicht mehr geben, der ist nur einmal möglich.“ – bto: Wir sehen allerdings, dass zum Beispiel in Frankreich doch ein zweiter Lockdown möglich ist.
  • „Der schwedische Weg wird immer noch missverstanden. Eine ungehemmte Durchseuchung kann und darf nicht das Ziel sein. Aber das hatten die Schweden auch nicht vor. (…) Die Schweden haben die Triage, also die Richtlinien für die Einweisung von Schwerkranken in die Krankenhäuser, zu früh angewandt. Das geschah, ohne dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen gekommen war. Ohne diesen Fehler würden die Schweden jetzt anders dastehen. Aber abgerechnet wird immer zum Schluss, denn die Schweden, die Israelis und viele andere Länder sind Deutschland weit voraus auf dem Weg durch die Pandemie.“ – bto: konsequent in der Logik, dass man Erkrankung nicht verhindern, nur verschleppen kann. Natürlich hilft es, Spitzen zu vermeiden, nur könnte es sein, dass wir das Niveau zu tief gedrückt haben und deshalb vor einer großen Welle stehen.
  • „Und das Ende der Pandemie tritt ein, wenn 100 Prozent der Leute geimpft oder immun sind. In Israel sind es 14 Prozent, die Dunkelziffer eingerechnet sind es zwei- bis dreimal mehr. Das heißt, die Israelis sind fast zur Hälfte durch, und sie haben hochgerechnet weniger Verstorbene als Deutschland.“ – bto: was wiederum sehr interessant ist, vermutlich aber auch an der Qualität des Gesundheitssystems liegt.
  • „Ich sehe Deutschland nicht unbedingt weit vorn, abgesehen von den Betten. Es gibt kein Land der Welt, das mehr Intensivbetten pro Kopf hat. Bei der Sterblichkeit ist Deutschland nicht einsame Spitze, da liegen wir auf einer Höhe mit beispielsweise den Niederlanden, Ungarn und den USA. Wir liegen bei 2,3 Prozent, die USA liegen bei 2,5 Prozent der laborbestätigten Erkrankten. Es gibt dort zwar mehr als 200.000 Tote, aber hochgerechnet auf die Zahl der Einwohner und die Zahl der Erkrankten ergibt sich ein anderes Bild. Auch bei der Immunität sind andere schon weiter: Nach der Anzahl der Infektionen haben bereits circa 14 Prozent der Bevölkerung in Israel, zehn Prozent in Belgien und in den USA und neun Prozent in Spanien und Tschechien eine Immunität.“ – bto: Das bedeutet, dass es den Ländern besser ergeht, wenn wir höhere Werte haben.
  • „Zu einer guten Bekämpfungsstrategie in der Pandemie gehören Analysen. Man muss wissen, wo man steht. Wie viele Leute haben sich infiziert? Wie viele haben Antikörper? Wie lange bleiben die Antikörper bestehen? Wie immun ist eine Person, die die Infektion durchgemacht hat und keine Antikörper mehr hat? Diese serologischen Studien hat man in Deutschland vernachlässigt. Fest steht: Auf dem langen Weg durch die Pandemie steht Deutschland noch ganz am Anfang.“ – bto: Es ist wieder typisch. Die statistischen Studien haben wir nicht gemacht. Überkapazitäten in Krankenhäusern sind jetzt schön, widerspiegeln aber auch mehr die Vergangenheit als die Gegenwart.
  • „Man muss allen immer wieder klar und deutlich vor Augen halten, dass Infektionen, schwere Verläufe und Todesfälle bei einem Naturereignis Pandemie leider unvermeidlich sind. Stattdessen heißt es auch jetzt vor dem neuen Lockdown, er solle den Anstieg der Todesfälle verhindern. Aber das kann er nicht. Es werden mehr Menschen sterben. Man wird nur vermeidbare Komplikationen und Todesfälle verhindern, die zwangsläufig bei überfüllten Krankenhäusern zusätzlich auftreten würden.“ – bto: Wer sterben muss, weil sein Körper trotz medizinischer Hilfe das Virus nicht besiegen kann, stirbt so oder so ist die unangenehme Aussage.
  • „Übrigens sind in dem Winter 2017/2018 in Deutschland etwa genauso viele Menschen an Influenza erkrankt und in Krankenhäuser eingeliefert worden wie bis jetzt an Corona. Dass man Sars-CoV-2 nicht stoppen kann, wurde mir klar, als die Behörden in Wuhan mit den drastischsten Maßnahmen reagierten, aber das Virus trotzdem weiter wütete. Damit war klar, dass sich alle Menschen auf der Welt infizieren werden. Es sei denn, es gibt eine kollektive Übereinkunft der Viren, die sagen: Wir brechen die Sache ab.“ – bto: Warum sollten sie das tun, wenn es gerade so gut läuft?
  • „Impfstoffe sind wichtig für die Risikopatienten, aber sie sind für das Pandemieende überbewertet. In Deutschland wird es wohl bis zum Sommer 2021 dauern, bis der erste Impfstoff schrittweise auch für die Nicht-Risikopatienten zur Verfügung steht. Bis dahin wird wahrscheinlich die Hälfte der Menschen in Europa Immunität erlangt haben.“ – bto: was aber bedeutet, dass uns das Thema noch einige Monate intensiv beschäftigen wird. Und auch die Wirtschaft belasten. 

welt.de (Anmeldung erforderlich): „Vier Wochen Lockdown, und dann wird alles gut? Das ist nicht der Fall“, 30. Oktober 2020