„Betrachtungen zur Populismus-Debatte”

Thilo Sarazin auf meiner Seite zu bringen, ist natürlich hochriskant. Dennoch ist er ein scharfer Beobachter. In einem Beitrag für die F.A.Z. erklärt er sehr sachlich den Zuwachs der Populisten. Das hat mich an einige Kommentare von mir u. a. im manager magazin erinnert: Es sind fundamentale Gründe, wo die Altparteien für alle offensichtlich versagen, die den Populisten erst die Glaubwürdigkeit geben, damit die Menschen sie wählen: Unfähigkeit bei Eurorettung und Zuwanderungspolitik und die Weigerung dies einzugestehen. Das hat mir gefallen:

  • Weshalb liegen die schweizerische SVP, die österreichische FPÖ, der französische Front National, die niederländische Freiheitspartei, die Dänische Volkspartei und andere durchweg nah an dreißig Prozent? Was hat die Schwedendemokraten auf über 20 Prozent getrieben? Weshalb liegt die AfD in Deutschland mittlerweile bei 15 Prozent oder mehr und rückt der taumelnden SPD gefährlich nahe? Wie konnte Donald Trump die Vorwahlen bei den Republikanern gewinnen und Bernie Sanders so viele Stimmen bei den Demokraten holen? bto: weil es echte Probleme gibt, auf die die alten Parteien keine Antwort geben (wollen)?
  • Das Versagen bei der Steuerung unerwünschter Zuwanderung und die wirtschaftliche Lähmung Südeuropas durch das Euro-Korsett haben dazu beigetragen. In den Köpfen der Besorgten und Verdrießlichen fließt vieles zusammen, was man vielleicht besser trennt, aber das so entstehende Amalgam entfaltet offenbar eine große emotionale Wucht. Hier baut sich eine politische Grundsee auf, auf die die Steuerleute in den etablierten Parteien offenbar nicht vorbereitet sind.
  • Wenn Wählererwartungen nachhaltig enttäuscht werden, oder neuartige ungelöste Probleme das Vertrauensband zermürben, dann entstehen neue Bewegungen, die oft stark emotionsgesteuert sind, und zunächst recht radikal und unordentlich daherkommen. Wenn etablierte Parteien sich dieser Strömungen gar nicht oder nur unzureichend annehmen, können auch neue Parteien entstehen, die das Parteienspektrum nachhaltig verändern. So geschah es vor 40 Jahren mit den Grünen, und das kann jetzt mit der AfD passieren.
  • In allen entwickelten Industriegesellschaften ist der starke Wohlstandsaufschwung der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelaufen und hat einer neuen Normalität Platz gemacht. Diese spiegelt sich in einem recht gemächlichen Trendwachstum der Arbeitsproduktivität von etwa einem Prozent pro Jahr. Das bedeutet, dass die Realeinkommen breiter Schichten schnell stagnieren oder gar dauerhaft sinken können, wenn sich Verteilungsrelationen ändern, der Anteil der Rentnergeneration wächst, Einwanderung den Kampf um Arbeitsplätze verschärft, die Globalisierung zum Export von Industriearbeitsplätzen führt oder der technische Fortschritt das Geschäftsmodell ganzer Branchen gegenstandslos macht. bto: dazu noch die Euro-Krise, die ungelöst ist und der Migrationsdruck und man fragt sich, weshalb die radikalen Parteien erst bei 30 Prozent liegen.
  • In allen Industriestaaten haben breite Schichten der Bevölkerung den berechtigten und auch in konkreten Zahlen nachweisbaren Eindruck, dass es ihnen materiell schlechter geht als der Generation ihrer Eltern, und sie erleben zudem, dass Lebensläufe unsicherer und weniger planbar werden.
  • Aus der soziologischen Forschung ist bekannt, dass das gegenseitige Vertrauen das sogenannte soziale Kapital – in einer Gesellschaft abnimmt, wenn deren ethnische und kulturelle Diversität zunimmt. Dieses Sentiment ist offenbar in der Evolution tief verwurzelt. Man sieht das daran, dass die Feindseligkeit zwischen ethnischen Gruppen, die durch die Umstände zum Zusammenleben gezwungen sind, umso höher ist, je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen.
  • Insbesondere bei der zunehmenden Einwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika überhörte man in den westlichen Gesellschaften für lange Zeit die Warnsignale. Als einwanderungskritische Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums immer stärker wurden, beziehungsweise neu gegründet wurden, setzte man zunächst auf die Macht der gesellschaftlichen Verdammnis durch die Medien und der politischen Parteien. Als das nichts mehr half, verfiel man in eine Phase der Ratlosigkeit. Diese hält großenteils immer noch an.
  • Einwanderung ist nämlich wirtschaftlich nur dann positiv, wenn die Einwanderer im Durchschnitt qualifizierter sind als die aufnehmende Bevölkerung, anderenfalls verbraucht sie Wohlstand, statt ihn zu schaffen. Nach diesem Kriterium war die gesamte Einwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika nach Europa, wie sie seit 1960 stattfand, wirtschaftlich nachteilig und ist es auch weiterhin. bto: O. k., das ist natürlich politisch nicht korrekt, deckt sich aber mit den Erkenntnissen der Bertelsmann Stiftung, des DIW (welches das natürlich am liebsten leugnen würde) und auch mit meinen Berechnungen.
  • Soweit Einwanderer mit durchschnittlich niedriger Qualifikation überhaupt in den Arbeitsmarkt integriert werden, treten sie in unmittelbare Konkurrenz zu den Arbeitslosen und niedrig Qualifizierten der aufnehmenden Gesellschaften und beeinflussen deren Lebensbedingungen negativ. Es liegt deshalb im objektiven Interesse der weniger begünstigten Bevölkerungsschichten der aufnehmenden Länder, die Einwanderung von niedrig Qualifizierten ganz zu unterbinden.
  • Hier gibt es eine Übereinstimmung zwischen dem, was viele Menschen fühlen, und den tatsächlichen Wirkungen des Zustroms von niedrig qualifizierten Einwanderern. Soweit Parteien sich dieser einwanderungskritischen Stimmung annehmen, haben sie einen Punkt zu ihren Gunsten, denn hier haben die politischen Parteien des etablierten Spektrums offenbar versagt.

Wenn die etablierten Parteien und gesellschaftlichen Kräfte keine sachlich tragfähige und politisch kommunikationsfähige Position zur weiteren Zuwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika finden, wird sich in ganz Europa der Zulauf zu den einwanderungskritischen Parteien rechts der politischen Mitte weiter vergrößern.

F.A.Z.: Betrachtungen zur Populismus-Debatte, 6. Juni 2016