Wo bleibt das Wachstum? Die neuen Realitäten in der globalen Ökonomie

Dieser Kommentar erschien im Kundenmagazin der Union Investment zur Jahreswende 2016/17:

Auch sieben Jahre nach der Finanzkrise bleibt das Wachstum der Weltwirtschaft schwach. Sind wir gefangen in einer Dauerstagnation oder gibt es Hoffnung auf einen neuen Wachstumsschub?

Wirtschaftswachstum ist kein Zufall

Im Kern sind es zwei Faktoren, die das Wachstum einer Wirtschaft treiben: die Zahl der Erwerbstätigen und deren Produktivität, also die Leistung, die sie im Durchschnitt pro Kopf erbringen. Letzteres hängt vom Kapitaleinsatz, wie zum Beispiel dem Grad der Automatisierung, dem technischen Fortschritt und dem Bildungsniveau ab. Je anspruchsvoller und technisierter eine Aufgabe ist, desto größer ist die pro Kopf erbrachte Leistung. Rein ökonomisch betrachtet sind Tätigkeiten beispielsweise in der Gastronomie oder auf dem Bau weniger produktiv als Tätigkeiten in Produktion, Forschung und Entwicklung.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten wir von wachsenden Erwerbsbevölkerungen und deutlichen Produktivitätszuwächsen. In der Folge ist das Wohlstandsniveau in der westlichen Welt gestiegen. Nun erleben wir einen fundamentalen Wandel: Bis zum Jahr 2030 prognostizieren die Vereinten Nationen, dass es in 56 Ländern mehr über 65-Jährige als unter 15-Jährige geben wird. Weltweit dürfte sich das Verhältnis im Jahre 2075 umkehren. Dann beginnt nach Europa und Nordamerika die ganze Welt zu vergreisen.

Eine geringere Erwerbsbevölkerung wirkt unmittelbar negativ auf das Wachstum einer Wirtschaft. Wuchs diese beispielsweise im Jahr 2006 noch um rund 0,6 Prozent p. a. in Europa, so schrumpft sie jetzt um 0,4 Prozent. Alleine diese Differenz erklärt einen Rückgang des realwirtschaftlichen Wachstums um einen ganzen Prozentpunkt!

Deshalb kommt dem Wachstum der Produktivität eine überragende Rolle zu. Japan erlebt schon seit Jahren ein Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung und hat es dennoch geschafft, das Bruttoinlandsprodukt stabil zu halten. Dahinter steht eine Steigerung der Produktivität pro Kopf, die in den letzten Jahren sogar über dem Niveau der USA lag. Trotzdem gelang nur eine Stabilisierung der Wirtschaft, kein nennenswertes Wachstum.

Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass das Produktivitätswachstum in der westlichen Welt seit Jahren rückläufig ist. Die technologischen Fortschritte der letzten Jahre schlagen sich nicht in entsprechender Produktivitätssteigerung nieder. Gesamtwirtschaftlich sieht man nichts von Internet, Smartphone und neuer Energie in den Zahlen. Optimisten sehen nur eine zeitverzögerte Wirkung der neuen Technologien, Pessimisten erachten die Entwicklung der letzten Jahrhunderte als eine Ausnahme. Nach einem wahren Produktivitätsboom im Zuge der industriellen Revolution seien die Potenziale weitgehend erschöpft und weitere Fortschritte nur noch gering.

Noch ist offen, welche der beiden Denkschulen recht bekommt. Doch selbst im optimistischen Fall dürften die Produktivitätszuwächse wie im Falle Japans die Wirkung der rückläufigen Erwerbsbevölkerung nur abmindern.

Schulden als gefährliche Medizin

Der Trend zu geringeren Wachstumsraten dauert in der westlichen Welt schon Jahrzehnte an. Verstärkt wurde die Entwicklung durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft. Damit stieg das weltweite Arbeitskräfteangebot um mehrere hundert Millionen Menschen. Diese Menschen waren und sind bereit für deutlich geringere Löhne zu arbeiten, als wir in der westlichen Welt. Dieser Lohnwettbewerb führte zu stagnierenden Löhnen und Arbeitsplatzverlusten in den Industrieländern. Aus ökonomischer Sicht kamen die Erwerbsbevölkerung und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter Druck. Das Wachstumspotenzial der Wirtschaft ging zurück.

Die Politik reagierte auf die veränderte Situation mit Maßnahmen zur Nachfragestimulierung. Die angelsächsische Welt setzte auf tiefere Zinsen und eine Deregulierung des Bankensystems, um fehlende Einkommen durch steigende Verschuldung zu kompensieren. In Kontinentaleuropa waren es derweil schuldenfinanzierte Sozialleistungen und Konjunkturprogramme, bis mit der Einführung des Euro auch hier die private Verschuldung deutlich zunahm und zu einer temporären Scheinblüte in den heutigen Krisenländern führte. Eine Mitschuld an dieser Entwicklung dürfte die asymmetrische Politik der Notenbanken tragen, die auf jede Krise mit Zinssenkungen reagierten, ohne die Zinsen wieder ausreichend anzuheben.

So stieg in den 30 Jahren zwischen 1980 und 2010 die Verschuldung dramatisch an. Berechnungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigen einen Anstieg von 160 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt, BIP) auf über 320 Prozent für die Industrieländer. Real, also bereinigt um Inflation, haben sich dabei die Schulden der Unternehmen mehr als verdreifacht, die der Staaten mehr als vervierfacht und die der privaten Haushalte mehr als versechsfacht.

Temporär hat die zunehmende Verschuldung das Wirtschaftswachstum gestärkt und über den fundamental zu erwartenden Trend (Erwerbsbevölkerung und Produktivität) gehoben. Spätestens mit Beginn der Finanzkrise hat sich die Wirkung umgekehrt. Die Schuldenlast belastet die Realwirtschaft. Zum einen führen Bemühungen, die Schulden abzubauen, zu weniger Nachfrage, zum anderen gibt es wenige Unternehmen und Privathaushalte, die bereit sind, sich zusätzlich zu verschulden. Fast noch schwerer wiegt, dass die Schulden überwiegend für unproduktive Zwecke verwendet wurden: zum Konsum, zur Spekulation an den Finanzmärkten und zum Kauf bereits bestehender Vermögenswerte, vor allem Immobilien. Diese Art der Verschuldung führt nicht zu mehr Produktivität und damit nicht zu mehr Wachstum. Die Zinsen für diese Schulden müssen dennoch aus dem laufenden Einkommen bedient werden und entziehen der Realwirtschaft Nachfrage.

Auch vermeintlich „produktive“ Schulden für neue Maschinen und Anlagen stellen sich oftmals als nicht so produktiv heraus. Oftmals waren erhebliche Überkapazitäten die Folge – man denke beispielsweise an Stahlwerke in China – die dann zu erheblichem Überangebot und entsprechendem Preisdruck führen. Die Inflationsrate geht zurück und es droht gar eine Deflation. Die Zinssenkung der Notenbanken hilft diesen Schuldnern zwar, verhindert jedoch die dringend nötige Bereinigung und perpetuiert damit die Krise.

Das schwache Wachstum der Wirtschaft und die geringe Inflation erschweren nun wiederum die Bedienung der Schulden, weshalb trotz Tiefstzinspolitik der Notenbanken der Druck zum Schuldenabbau weiter zunimmt.

Risiko Populismus

Hier liegen die Ursachen für die schwache Erholung nach der Finanzkrise. Trotz immer weiter steigender Verschuldung und Niedrigstzins gelingt es nicht, an frühere Wachstumsraten anzuknüpfen. Zum einen waren diese ohnehin durch das Schuldendoping überhöht, zum anderen zahlen wir jetzt den Preis für dieses Doping. Die politischen Folgen dieser Entwicklung können wir derzeit besichtigen. Sowohl das Votum der Briten für den Brexit, wie auch die Wahl Donald Trumps in den USA sind ein Symptom für diese Entwicklung. Breite Schichten der Bevölkerung haben seit Jahren keinen Zuwachs an persönlichem Wohlstand erfahren, während die Rettungsbemühungen der Notenbanken die Vermögenspreise nach oben getrieben haben. Kommt es nun zu einer breiten Welle an protektionistischen und nationalistischen Strömungen, so hat dies wiederum negative Auswirkungen auf das weltweite Wirtschaftswachstum. Wie in der letzten großen Depression in den 1930er-Jahren wird damit eine Abwärtsspirale verstärkt. Noch weniger Wachstum und weitaus größere Volatilität in Realwirtschaft und Finanzmärkten dürfte die Folge sein.

Ein Programm für mehr Wachstum

Zunehmend erkennen auch die etablierten Parteien die Problematik. Noch überwiegt der Versuch, neue Parteien zu stigmatisieren. Zunehmend gibt es auch Überlegungen, mit mehr Umverteilung die Unzufriedenheit zu bekämpfen. Ersteres ist falsch und zweites ungenügend. Will man die Wachstumskrise überwinden, muss man bei den Ursachen ansetzen: der Erwerbsbevölkerung und der Produktivität.

Die Erwerbsbevölkerung kann über eine Erhöhung des Anteils der Bevölkerung, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und eine gezielte Zuwanderungspolitik vergrößert werden. Ansatzpunkte sind ein späteres Renteneintrittsalter, längere Wochenarbeitszeiten, weniger Urlaub, eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und eine Reduktion von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor zugunsten der Privatwirtschaft. Unpopuläre Maßnahmen, die zudem nicht genügen würden, um den Rückgang der Erwerbsbevölkerung zu stoppen.

Bei der Zuwanderungspolitik muss der ökonomische Nutzen im Vordergrund stehen, wie bereits vor Jahren von der Bertelsmann Stiftung gefordert. Dies setzt eine Auswahl der Zuwanderer nach Qualifikationsniveau voraus, ähnlich wie dies klassische Einwanderungsländer wie Kanada und Australien vorexerzieren.

Der zweite Faktor ist die Produktivität der Erwerbstätigen. Hier kommt es vor allem auf deren Qualifikation und Ausrüstung an. Mit mehr Kapital für Investitionen in Infrastruktur – Beispiel schnelles Internet – und Maschinen und Anlagen – Stichwort Automatisierung und Roboter – und Bildung kann Innovation gefördert werden. Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, kann dies nur mit einem herausragenden Bildungssystem. In der Schweiz, beispielsweise, erzielen 43 von 1000 Schülern Höchstleistungen in Mathematik. In Deutschland liegt der entsprechende Wert bei 26. Kein Wunder, dass die Schweiz bei Hightech-Exporten pro Kopf fast das Dreifache des deutschen Niveaus erreicht. Dabei ist Deutschland noch eines der führenden Länder Europas, was die Leistungen des Schulsystems betrifft.

Diese Beispiele zeigen, dass es sehr wohl möglich wäre, das Wachstumspotenzial zu heben. Nur dauert es, bis diese Maßnahmen greifen und viele sind äußerst unpopulär. Deshalb sollten wir uns darauf einstellen, dass wir vor einer Phase tiefen Wachstums mit deutlich mehr Volatilität stehen.

Maue Renditen und hohe Volatilität

Dies gilt auch für die Finanzmärkte. Parallel zum Anstieg der Verschuldung ist auch die Bewertung von Vermögenswerten, von Aktien, Immobilien über Anleihen bis hin zu Kunst und anderen Sammlerobjekten gestiegen. Dieser Preisanstieg basierte weniger auf höheren Erträgen und mehr auf der Bereitschaft, immer höhere Preise zu bezahlen. Mit Zinsen um null nähert sich dieser Prozess einem Ende. Wie nach einer langen Bergwanderung sind die Finanzmärkte an einem Gipfel angelangt. Nach oben gibt es noch etwas Potenzial, der Weg nach unten ist deutlich länger. Selbst ohne neue Krise muss man sich als Anleger deshalb auf maue Renditen einstellen. Wo sollen höhere Renditen auch herkommen, bei einer Wirtschaft, die nicht wächst?