“Wir haben zu viele schlechte Schulden”

Interview mit mir anlässlich meines Vortrages beim Exchange Tradet Product (ETP) Day in Zürich. Veröffentlicht bei finanzen.ch und der Handelszeitung:

Sie widersprechen dem viel beachteten französischen Ökonomen Thomas Piketty. Nicht die ungleiche Vermögensverteilung sei das grösste Problem der Wirtschaft, sondern die Schulden. Wieso glauben Sie das?

Daniel Stelter: Das Vermögen ist nur ein Symptom, nicht die Ursache. Parallel zum Vermögen sind die Schulden in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Sie sind das wahre Übel.

Unser Wirtschaftssystem ist jedoch darauf angewiesen, dass wir Schulden machen können. Nur wenige könnten sich etwa ohne Hypothek Immobilien leisten. Firmen besorgen sich Kapital für Wachstum.
Das stimmt, solange Schulden zu einem positiven Zweck führen. Das ist aber nur der Fall, solange der Druck, den Kredit zu bedienen, dazu führt, innovativ zu sein und neue Produkte zu entwickeln. Problematisch wird es, wenn wir Schulden machen in der Erwartung, diese durch Wertzuwachs des gekauften Assets, zum Beispiel einer Immobilie, bedienen zu können. In den letzten 30 Jahren hat die Verschuldung, um zu konsumieren und zu spekulieren, massiv zugenommen. Wir haben heute zu viele schlechte Schulden.

Dann ist es heute mit praktisch Nullzins zu einfach, Schulden zu machen? 
Billiges Geld verhindert Innovation. Es erhält alte Unternehmen am Leben, die dank billigem Geld zwar noch ihre Zinsen zahlen können, aber nicht mehr investieren oder innovieren. Das erschwert auch den anderen Unternehmen den Wettbewerb.

Tiefe bis negative Zinsen auf Staatspapiere ermöglichen aber Euro-Krisenländern wie Portugal, Spanien und Italien günstiger wichtige Investitionen anzuschieben. 
Sicher: 2015 ist ein relativ gutes Jahr für Europa, die Geldschwemme der Europäischen Zentralbank und der tiefe Ölpreis stützen. In den Krisenländern hat sich enorme Nachfrage aufgestaut. Dennoch wird es nur eine vorübergehende Erholung sein. Die Schulden wachsen immer noch schneller als die Wirtschaft. Erforderlich wäre, dass weniger Schulden gemacht werden. Aber das ist illusorisch.

Trotzdem steht Europa punkto Verschuldung besser da als die USA.
Nur bezüglich der Staatsverschuldung. Betrachtet man sowohl die Staatsschulden wie auch die privaten Schulden, ist die Schuldenlast in Europa grösser. Die USA stehen relativ gesehen – bezüglich Demografie und der Möglichkeit, faule Schulden abzuschreiben – besser da als Europa. Europa hat lange Zeit massiv über die eigenen Verhältnisse gelebt.

Für Griechenland wird über eine Parallelwährung diskutiert. Wäre das eine Lösung?
Eine neue Währung löst das Schuldenproblem nicht. Griechenland und übrigens auch Portugal werden nie wettbewerbsfähig sein. Innovation gibt es in diesen Ländern nicht. Was es braucht, ist einen Schuldenschnitt – und zwar auf europäischer Ebene. Nach Möglichkeit sollte die Europäische Zentralbank mithelfen und die Staatsschulden abschreiben.

Genau das fordern Befürworter von Vollgeld. In der Schweiz werden aktuell Unterschriften für eine entsprechende Initiative gesammelt. Würden Sie dafür stimmen?
Ich bin in dieser Frage hin- und hergerissen. Vollgeld ermöglicht einen Schuldenschnitt durch die Hintertür. Für mich wäre es die eleganteste Art und Weise, die Schulden zu bereinigen. Denn anders als bei einem normalen Schuldenschnitt, bei dem die Gläubiger alles verlieren, verliert beim Vollgeld niemand. Das hat eine Simulation durch den Internationalen Währungsfonds gezeigt. Die Notenbanken würden für die Staatsschulden aufkommen.

Aber Sie stehen nicht vorbehaltslos dahinter?
Das Problem ist das Monopol, welches Vollgeld bedeutet. Die Versuchung ist zu gross, dieses zu missbrauchen, wenn das Geldmonopol beim Staat liegt. Käme es zur Planwirtschaft? Die Geschichte lehrt, dass die Menschen dann alternative Währungen suchen. Zum Beispiel Bitcoins oder auch Gold. Denken sie an die Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Was wäre, wenn die Schweizer tatsächlich Vollgeld beschliessen? Kann dies ein Land alleine überhaupt einführen?
Dann wäre der Schweizer Franken noch viel begehrter. Das würde die Realwirtschaft enorm belasten. Richtigerweise müsste Vollgeld mindestens auf europäischer Ebene eingeführt werden. Ich würde es aber begrüssen, wenn die Initiative zustande käme, und die Diskussion breit geführt würde. Dies könnte für die Banken ein Anreiz sein, mehr Eigenkapital zu halten.

Mit der Frankenstärke kämpft die Schweizer Nationalbank bereits heute. Was halten Sie von den Interventionen der SNB?
Die SNB sollte, wie von einigen gefordert, den Wechselkurs gegenüber einem Währungskorb pflegen, ohne eine fixe Grenze vorzugeben. Der Erlös sollte dann genutzt werden, um im Ausland reale Vermögenswerte zu erwerben. Europäische Staatsanleihen sind sicherlich keine gute Geldanlage.

Die SNB versucht wie andere Zentralbanken, die Währung mit Negativzinsen zu stabilisieren. Was halten Sie davon?
Das ist totaler Quatsch. Negativzinsen enteignen die Kleinsparer und führen nur zu Ausweichreaktionen, Fehlinvestitionen und Blasenbildung.

In den USA wird die Fed wohl bald die Zinsen anheben. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Die USA wollen nur die Zinsen anheben, um wieder Interventionsmöglichkeiten zu haben. Ich denke, wir werden bald wieder von der nächsten Lockerung, dem nächsten QE sprechen.

Sie sehen ziemlich schwarz. Was raten Sie Anlegern in diesem Umfeld?
Ich rate dazu, international zu diversifizieren. Oder noch besser: das Geld zu geniessen, auszugeben und sich etwas zu leisten.

→ Handelszeitung: “Wir haben zu viele schlechte Schulden”, 29. Mai 2015