“Vor dem nächsten Großbrand”

Dieser Kommentar erschien bei manager magazin online:

Zehn Jahre nach Beginn der Finanzkrise klopfen sich Notenbanker und Politiker auf die Schultern: Das Schlimmste läge hinter uns und die Erholung sei geschafft. Ein Irrtum. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Krise wieder mit voller Wucht ausbricht.

Ihren Platz in den Geschichtsbüchern hat die Präsidentin der US-Notenbank, Janet Yellen, so gut wie sicher. Schon bald wird man ihre Aussage, es gäbe “keine Finanzkrise mehr zu unseren Lebzeiten” als ein weiteres Beispiel für die Hybris der wirtschaftspolitisch Verantwortlichen zitieren, egal ob diese in Regierungen oder Notenbanken sitzen. Auch “Super-Mario” dürfte es ähnlich ergehen, hat er zwar unstrittig mit seinem radikalen Eingreifen den Euro zunächst gerettet, die Grundprobleme jedoch massiv vergrößert.

Zehn Jahre nach Beginn der Finanzkrise loben sich die damals wie heute Verantwortlichen für die gelungene Bewältigung der Krise und die Erholung von Wirtschaft und Finanzmärkten. Dabei zeigt eine nüchterne Betrachtung, dass sie das zu Unrecht tun.

Die Krise ist noch lange nicht vorbei. Stattdessen wurde auf Zeit gespielt, ohne die Krisenursachen zu bereinigen. Schlimmer noch: Mit ihrem Tun legen sie die Basis für eine noch größere Krise.

Krise nicht erkannt

Zunächst lohnt es sich, daran zu erinnern, dass Notenbanker und Politiker die letzte Krise nicht kommen sahen. Allein dies spricht schon für eine erhebliche Skepsis, wenn heute Aussagen getroffen werden, wonach die Krise “überwunden sei”, es keine neue Krise mehr zu “unseren Lebzeiten” geben kann oder wie der britische Notenbankchef Mark Carney kürzlich festhielt wir heute ein “sicheres, einfacheres und faireres Weltfinanzsystem” hätten.

Das erinnert fatal an US-Notenbank Chef Ben Bernanke, der obwohl er über die große Depression geforscht hat – die Wiederholung derselben nicht kommen sah. Noch 2007 hielt er die Subprime-Krise für ein kleines Problem, welches die US-Wirtschaft nicht nachhaltig beeinflussen würde. Yellen, Draghi, Carney und Co. sollten von den Fehlern ihrer Vorgänger lernen. Niemand kann mit Bestimmtheit vorhersagen, dass es wirklich zu keiner Krise kommt, was vor allem daran liegt, dass sie die eigentliche Krisenursache nicht erkennen (wollen).

Krise nicht verstanden

Bis heute gibt es kein gemeinsames Verständnis für die Ursachen der Krise. Da wird über die “Finanzkrise” gesprochen, ausgelöst von zweifelhaften Krediten im US-Immobilienmarkt, die über allerlei Umwege in den Portfolios der Investoren in aller Welt – vor allem in Deutschland – landeten. Da wird von der “Eurokrise” gesprochen, deren Ursache man gerne in der überbordenden Staatsverschuldung einzelner Sünderländer verortet, die nun mal über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Die Wahrheit ist eine andere: Beides sind Überschuldungskrisen gewesen und sind das immer noch. Seit Mitte der 1980er-Jahre haben wir es weltweit, vor allem in den USA, Europa und Japan mit einer explodierenden Verschuldung von Staaten, privaten Haushalten und Unternehmen zu tun. In den zwanzig Jahren bis zum Krisenausbruch 2007 haben sich die Schulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt. Real haben Unternehmen mehr als dreimal so viele Schulden wie zuvor, Staaten mehr als viermal und private Haushalte mehr als sechsmal so viel.

Schuld an dieser Entwicklung waren Politiker und Notenbanker. Im gemeinsamen Bestreben die Wirtschaft zu beleben, haben sie immer mehr auf Schulden gesetzt. Die Notenbanken haben auf jeden kleinen Schock mit Zinssenkungen reagiert, ohne sie anschließen wieder ausreichend zu erhöhen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich kritisiert schon lange dieses asymmetrische Verhalten. Belohnt wurde, wer Schulden machte.

2008 war es dann so weit. Die Welt schien am Ende der Verschuldungskapazität angelangt. Der “Minsky-Moment” war erreicht, der Zeitpunkt, zu dem schuldenfinanzierte Blasen platzen benannt nach dem verstorbenen US-Ökonomen Hyman Minsky, den zu Lebzeiten keiner der Akteure ernst nahm und dessen Gedanken auch heute viel zu wenig Beachtung finden. Statt anzuerkennen, dass die schuldenfinanzierte Wohlstandsillusion an ihre Grenzen stößt, wurde alles getan, um die Verschuldungskapazität zu erhöhen und eine weitere Runde mit noch mehr Schulden anzustoßen.

Schulden wachsen weiter

Die Verschuldungskapazität hängt vom beleihungsfähigen Eigenkapital oder Einkommen und von den Zinsen ab. Je höher das Eigenkapital und das Einkommen und je tiefer die Zinsen, desto mehr Schulden lassen sich schultern. 2008 stiegen die Kosten für Kredite drastisch, nicht zuletzt, weil das Vertrauen der Kreditgeber in die Zahlungsfähigkeit der Schuldner deutlich zurückging. Zugleich verfiel der Wert des Eigenkapitals und die Einkommensaussichten verschlechterten sich wegen der sich abzeichnenden Rezession. Was bei moderater Verschuldung im Einzelfall ärgerlich ist, erweist sich bei zu hoher Verschuldung als Brandbeschleuniger für eine große Depression. Keiner hat das besser beschrieben als Irvin Fisher in seiner “Debt-Deflation-Theory of Great Depressions”. In der Tat waren wir 2008 auf dem besten Weg eine Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er-Jahren zu erleben. Der Absturz war anfangs sogar weit dramatischer als achtzig Jahre zuvor.

Richtigerweise haben die Verantwortlichen alles darangesetzt, dies zu verhindern. Mit staatlichen Konjunkturprogrammen und Null- und Negativzins haben sie die Verschuldungskapazität wiederhergestellt. Vermutlich hätte es dennoch nicht gereicht, wäre China nicht mit einem gigantischen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm eingesprungen. Damit wurde nicht nur die Schuldentragfähigkeit im Westen erhöht, sondern zugleich noch neue Verschuldungskapazität in der Welt mobilisiert.

Mit erheblichem Erfolg! Weltweit ist die Verschuldung auf über 325 Prozent des BIP gestiegen, 50 Prozentpunkte mehr als noch 2007. Angetrieben vom billigen Geld aus den USA und Europa wurde überall auf Pump gelebt. China bleibt dabei mit einer Vervierfachung der Verschuldung seit dem Jahr 2000 und einem Anstieg von rund 120 Prozent des BIP auf über 280 Prozent einsamer Spitzenreiter – wie hier schon mehrfach diskutiert.

Politiker und Notenbanker haben es also geschafft, die weltweite Verschuldungskapazität durch Erhöhen der Anzahl der Schuldner und das Senken der Finanzierungskosten nochmals deutlich auszuweiten und haben diese Situation ausgiebig für ihre Finanzpolitik bzw. ihren Gewinn genutzt. Damit wurde die Politik, die uns in die Krise von 2008 geführt hat, noch konsequenter fortgesetzt. Das Problem ist nur, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir vor dem nächsten “Minsky Moment” stehen, dann allerdings mit noch mehr Schulden und schon rekordtiefen Zinsen.

Kein Wunder, dass schon nach der nächsten Möglichkeit gesucht wird, die Verschuldungskapazität zu erhöhen. Nichts anderes steht hinter den Rufen nach einem Euro-Finanzminister und mehr “Solidarität” Deutschlands. Es geht nur um eines: mehr Schulden zu ermöglichen, um das System noch eine Runde weiter zu bekommen.

Zeit, die Systemfrage zu stellen

Es ist Zeit, dass wir unsere Wirtschaftspolitik grundlegend hinterfragen. Seit Mitte der 1980er-Jahre setzen wir darauf, mit immer mehr Schulden kurzfristiges Wachstum zu erzielen. Dabei nimmt die Produktivität der neuen Schulden immer mehr ab. Nachdem jahrzehntelang die Wirtschaft im Einklang mit der Verschuldung wuchs, werden heute weltweit immer mehr Schulden gebaucht, um überhaupt noch Wachstum zu erzielen. Die Ursache liegt in der überwiegend unproduktiven Verwendung der Schulden. Wir kaufen uns damit gegenseitig vorhandene Vermögenswerte zu immer höheren Preisen ab. Im Unterschied zu Investitionen in neue Produkte und Dienstleistungen wächst dadurch die Wirtschaft jedoch kaum, wenn man von dem Zusatzkonsum durch den Reichtumseffekt steigender Vermögenspreise absieht.

Ermöglicht wird das Ganze von einem Bankensystem, das fast unbegrenzt neues Geld schöpfen kann, indem es Kredite gewährt. In unserem Geldsystem wird neues Geld überwiegend (zu rund 90 Prozent) durch das Bankensystem geschaffen. Steigende Nachfrage nach Vermögenswerten führt dabei zu einem Preisanstieg, der wiederum eine höhere Beleihungskapazität für alle Vermögenswerte ermöglicht. Wir sind damit abhängig von steigenden Vermögenswerten, neuen Schuldnern und immer tieferen Zinsen. Die Zinsen müssen morgen noch tiefer sein, einfach weil sie heute schon tief sind.

Nur mit immer mehr Risiken bleibt das System am Laufen. Das Problem ist dabei, dass wir nicht einfach aufhören können. Die ausstehenden Schulden müssen bedient werden, soll es nicht zum Kollaps kommen. Dies bedingt, dass zumindest in Höhe der Zinsen auf der ausstehenden Schuld neue Schulden aufgenommen werden. Denn woher sonst soll das Geld denn kommen?

Es gibt keinen einfachen Weg aus unserer selbst gewählten Misere. Wir haben uns von der Schuldendroge abhängig gemacht und brauchen eine ständig steigende Dosis. Bleibt sie aus, ist der “Minsky Moment” da der ultimative Crash.

Dass es auch ohne die Droge geht, konnten wir in den 1950er- und 1960er-Jahre gut beobachten. Natürlich stieg auch damals die Verschuldung deutlich an. Da die Schulden jedoch einer produktiven Verwendung zugeführt wurden, wuchs auch die Wirtschaft entsprechend. Die Schuldenquoten blieben also stabil bzw. gingen sogar zurück.

Um das zu erreichen, müssten wir das Bankensystem wieder auf die eigentliche Rolle als Vermittler von Krediten reduzieren, als Versorger für die Realwirtschaft. Damit einhergehend muss eine Limitierung der Kreditvergabe durch deutlich höhere Eigenkapitalanforderungen realisiert werden. Zu prüfen ist zudem eine Abschaffung der Geldschöpfungsmöglichkeit des Bankensystems durch eine Umstellung auf Vollgeld.

Lösung nicht in Sicht

Yellen und Draghi ist gemein, dass sie als Vertreter des Systems alles dafür tun, das System am Laufen zu halten. Ihre Mission ist klar: Die Verschuldung muss weiter steigen, denn nur dann kommt es nicht zum finalen Crash. Zugleich sind sie die Letzten, die ernsthaft einen Systemwechsel betreiben. Zu groß sind die Interessen am Status quo. Wer hätte nicht gerne das Recht und die Möglichkeit, legal Geld aus dem Nichts zu schaffen und damit reale Assets zu kaufen und Erträge zu erwirtschaften?

Damit bleiben wir jedoch in einem System gefangen, das zwangsläufig auf die nächste Krise zusteuert. Wie bei Waldbränden ergibt sich ein dramatisches Szenario: Je mehr kleinere Feuer gelöscht werden, desto größer die Gefahr eines Großbrandes. Da wir den Großbrand von 2008 gelöscht haben, laufen wir Gefahr, dass das nächste Feuer noch brutaler wird. Und zugleich haben wir deutlich weniger Löschwasser zur Verfügung: Die Verschuldungskapazität ist noch mehr ausgeschöpft, die Zinsen noch tiefer. Gut möglich, dass das nächste Feuer auch die Notenbanken hinwegfegt.

→  manager-magazin.de: “Vor dem nächsten Großbrand”, 28. Juli 2017