“Nichts dazugelernt”

Dieser Beitrag von mir erschien bei Cicero Online: 

Zehn Jahre nach Beginn der Finanzkrise klopfen sich Notenbanker und Politiker auf die Schultern: Das Schlimmste läge hinter uns und die Erholung sei geschafft. Ein Irrtum. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Krise wieder ausbricht. Und zwar mit voller Wucht.

Vor zehn Jahren ging die US-Bank Lehman Brothers pleite. Auf die Jahre danach blicken viele Akteure zufrieden zurück. Man lobt sich selbst für die gelungene Bewältigung der Krise und die Erholung von Wirtschaft und Finanzmärkten. Dabei zeigt eine nüchterne Betrachtung, dass sie das zu Unrecht tun. Die Krise ist noch lange nicht vorbei. Stattdessen wurde auf Zeit gespielt, ohne die Krisenursachen zu bereinigen. Schlimmer noch: Mit ihrem Tun legen Notenbanker und Politiker die Basis für eine noch größere Krise.

Krise nicht verstanden

Zunächst lohnt es sich zu erinnern, dass Notenbanker und Politiker die Krise von 2008 nicht kommen sahen. Allein dies spricht schon für eine erhebliche Skepsis, wenn heute Aussagen getroffen werden, wonach die Krise „überwunden sei“ und es keine neue Krise mehr zu „unseren Lebzeiten“ geben kann. Solche Aussagen heutiger Notenbanker erinnern fatal an US-Notenbank Chef Ben Bernanke, der – obwohl er über die große Depression geforscht hat – die Wiederholung derselben nicht kommen sah. Noch 2007 hielt er die Subprime-Krise für ein kleines Problem, welches die US-Wirtschaft nicht nachhaltig beeinflussen würde.

Bis heute gibt es kein gemeinsames Verständnis für die Ursachen der Krise. Da wird über die „Finanzkrise“ gesprochen, ausgelöst von zweifelhaften Krediten im US-Immobilienmarkt, die über allerlei Umwege in den Portfolios der Investoren in aller Welt landeten – vor allem in Deutschland. Da wird von der „Eurokrise“ gesprochen, deren Ursache man gerne in der überbordenden Staatsverschuldung einzelner Sünderländer verortet, die nun mal über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Die Wahrheit ist eine andere: Beides sind Überschuldungskrisen gewesen und sind es immer noch. Seit Mitte der achtziger Jahre haben wir es weltweit mit einer explodierenden Verschuldung von Staaten, privaten Haushalten und Unternehmen zu tun, vor allem in den USA, Europa und Japan. In den 20 Jahren bis zum Krisenausbruch 2007 hatten sich die Schulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt. Real hatten Unternehmen mehr als dreimal so viele Schulden wie zuvor, Staaten mehr als viermal und private Haushalte mehr als sechsmal so viel.

2008 war es dann so weit. Die Welt schien am Ende der Verschuldungskapazität angelangt. Der „Minsky-Moment“ war erreicht, der Zeitpunkt an dem schuldenfinanzierte Blasen platzen. Benannt ist der Punkt nach dem verstorbenen US-Ökonomen Hyman Minsky, den zu Lebzeiten keiner der Akteure ernst nahm und dessen Gedanken auch heute viel zu wenig Beachtung finden. Statt anzuerkennen, dass die schuldenfinanzierte Wohlstandsillusion an ihre Grenzen stößt, wurde alles getan, um die Verschuldungskapazität zu erhöhen und eine weitere Runde mit noch mehr Schulden anzustoßen.

Schulden wachsen weiter

Die Verschuldungskapazität hängt vom beleihungsfähigen Eigenkapital oder Einkommen und von den Zinsen ab. Je höher das Eigenkapital und das Einkommen und je tiefer die Zinsen, desto mehr Schulden lassen sich schultern. 2008 stiegen die Kosten für Kredite drastisch, nicht zuletzt, weil das Vertrauen der Kreditgeber in die Zahlungsfähigkeit der Schuldner deutlich zurückging. Zugleich verfiel der Wert des Eigenkapitals und die Einkommensaussichten verschlechterten sich wegen der sich abzeichnenden Rezession. Was bei moderater Verschuldung im Einzelfall ärgerlich ist, erweist sich bei zu hoher Verschuldung als Brandbeschleuniger für eine große Depression. Keiner hat das besser beschrieben als Irvin Fisher in seiner „Debt-Deflation-Theory of Great Depressions“. In der Tat waren wir 2008 auf dem besten Weg in eine Weltwirtschaftskrise wie in den dreißiger Jahren. Der Absturz war anfangs sogar weit dramatischer als damals.

Richtigerweise haben die Verantwortlichen alles daran gesetzt, dies zu verhindern. Mit staatlichen Konjunkturprogrammen und Null- und Negativzins haben sie die Verschuldungskapazität wieder hergestellt. Vermutlich hätte es dennoch nicht gereicht, wäre China nicht mit einem gigantischen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm eingesprungen. Damit wurde nicht nur die Schuldentragfähigkeit im Westen erhöht, sondern zugleich noch neue Verschuldungskapazität in der Welt mobilisiert.

Mit erheblichem Erfolg. Weltweit ist die Verschuldung auf über 325 Prozent des BIP gestiegen, 50 Prozentpunkte mehr als noch 2007. China ist mit einer Vervierfachung der Verschuldung seit dem Jahr 2000 und einem Anstieg von rund 120 Prozent des BIP auf über 280 Prozent einsamer Spitzenreiter.

Politiker und Notenbanker haben es also geschafft, die weltweite Verschuldungskapazität durch Hinzuziehung neuer Schuldner und die Senkung der Finanzierungskosten nochmals deutlich auszuweiten und haben davon dann ausgiebig Gebrauch gemacht. Damit wurde die Politik, die uns in die Krise von 2008 geführt hat, noch konsequenter fortgesetzt. Das Problem ist nur, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir vor dem nächsten „Minsky Moment“ stehen. Dann allerdings mit noch mehr Schulden und schon rekordtiefen Zinsen.

Zeit, die Systemfrage zu stellen

Es ist Zeit, dass wir unsere Wirtschaftspolitik grundlegend hinterfragen. Seit Mitte der achtziger Jahre setzen wir im Westen darauf, mit immer mehr Schulden kurzfristiges Wachstum zu erzielen. Dabei nimmt die Produktivität der neuen Schulden immer mehr ab. Nachdem jahrzehntelang die Wirtschaft im Einklang mit der Verschuldung wuchs, werden heute weltweit immer mehr Schulden gebaucht, um überhaupt noch Wachstum zu erzielen. Die Ursache liegt in der überwiegend unproduktiven Verwendung der Schulden. Wir kaufen uns damit gegenseitig vorhandene Vermögenswerte zu immer höheren Preisen ab. Im Unterschied zu Investitionen in neue Produkte und Dienstleistungen wächst dadurch die Wirtschaft jedoch kaum, wenn man von dem Zusatzkonsum durch den Reichtumseffekt steigender Vermögenspreise absieht.

Ermöglicht wird das Ganze von einem Bankensystem, das fast unbegrenzt neues Geld schöpfen kann, indem es Kredite gewährt. In unserem Geldsystem wird neues Geld überwiegend (zu rund 90 Prozent) durch das Bankensystem geschaffen. Steigende Nachfrage nach Vermögenswerten führt dabei zu einem Preisanstieg, der wiederum eine höhere Beleihungskapazität für alle Vermögenswerte ermöglicht. Wir sind damit abhängig von steigenden Vermögenswerten, neuen Schuldnern und immer tieferen Zinsen. Die Zinsen müssen morgen noch tiefer sein, einfach weil sie heute schon tief sind.

Nur mit immer mehr Risiken bleibt das System am Laufen. Das Problem dabei ist, dass wir nicht einfach aufhören können. Die ausstehenden Schulden müssen bedient werden, soll es nicht zum Kollaps kommen. Dies bedingt, dass zumindest in Höhe der Zinsen auf der ausstehenden Schuld neue Schulden aufgenommen werden. Denn woher sonst soll das Geld denn kommen?

Es gibt keinen einfachen Weg aus unserer selbst gewählten Misere. Wir haben uns von der Schuldendroge abhängig gemacht und brauchen eine ständig steigende Dosis. Bleibt sie aus, ist der „Minsky Moment“ da – der ultimative Crash.

Es geht auch anders

Dass es auch ohne die Droge geht, konnte man in den fünfziger und sechziger Jahren gut beobachten. Natürlich stieg auch damals die Verschuldung deutlich an. Da die Schulden jedoch einer produktiven Verwendung zugeführt wurden, wuchs auch die Wirtschaft entsprechend. Die Schuldenquoten blieben also stabil oder gingen sogar zurück.

Um das zu erreichen, müssten wir das Bankensystem wieder auf die eigentliche Rolle als Vermittler von Krediten reduzieren, als Versorger für die Realwirtschaft. Damit einhergehend muss eine Limitierung der Kreditvergabe durch deutlich höhere Eigenkapitalanforderungen realisiert werden. Zu prüfen ist zudem eine Abschaffung der Geldschöpfungsmöglichkeit des Bankensystems durch eine Umstellung auf Vollgeld.

Damit nicht genug. Wir müssen auch einen Weg finden, die angehäuften Schulden intelligent zu bereinigen. Vermutlich wird uns nichts anderes übrig bleiben, als sie bei den einzigen Schuldnern abzuladen, die über eine praktisch unbegrenzte Verschuldungskapazität verfügen: den Notenbanken. Diese sind ohnehin schon dabei im großen Umfang Forderungen aufzukaufen. Dies müssten sie noch verstärkt tun, und sobald sie einen signifikanten Bestand haben, sollten sie die Forderungen abschreiben und den Schuldnern in einer Art „Jubel-Jahr“ erlassen. Da Notenbanken per Definition nicht illiquide und damit nicht insolvent werden können, bleibt dies wohl der einzige und relativ schmerzfreie Weg der Bereinigung.

Auf dem Weg zur nächsten Krise

Die Notenbanken tun als Vertreter des Systems jedoch alles dafür, das jetzige System am Laufen zu halten. Ihre Mission ist klar: Die Verschuldung muss weiter steigen, denn nur dann kommt es nicht zum finalen Crash. Zugleich sind sie die letzten, die ernsthaft einen Systemwechsel betreiben. Zu groß sind die Interessen am Status quo. Wer hätte nicht gerne das Recht und die Möglichkeit legal Geld aus dem Nichts zu schaffen und damit reale Assets zu kaufen und Erträge zu erwirtschaften?

Damit bleiben wir jedoch in einem System gefangen, welches zwangsläufig auf die nächste Krise zusteuert. Wie bei Waldbränden ergibt sich ein dramatisches Szenario. Je mehr kleinere Feuer gelöscht werden, desto größer die Gefahr eines Großbrandes. Da wir den Großbrand von 2008 gelöscht haben, laufen wir Gefahr, dass das nächste Feuer noch brutaler wird. Und zugleich haben wir deutlich weniger Löschwasser zur Verfügung: Die Verschuldungskapazität ist noch mehr ausgeschöpft, die Zinsen sind noch tiefer. Gut möglich, dass das nächste Feuer auch die Notenbanken hinwegfegt.

→  cicero.de: “Nichts dazugelernt”, 13. September 2018