Tiefere Kurse sind rational

Der Einbruch der Märkte seit Jahresbeginn wird in vielen Kommentaren mit Kopfschütteln betrachtet. Es habe sich doch nichts Grundlegendes geändert, ist da zu lesen: Zinserhöhung in den USA, weniger Wachstum in China, anhaltende lockere Geldpolitik in Europa. Nichts Neues. Die Unternehmen stehen gut da, und angesichts der Tiefst- bis Negativzinsen bleibt einem ohnehin nichts anderes übrig, als in Aktien zu investieren. Mit 2008 habe das alles schon gar nichts gemein, schließlich stehe das Finanzsystem auf einem besseren Fundament, von einigen Problembereichen wie in Italien abgesehen. Fazit deshalb: unverständliche Panik, die eigentlich nur eine Kaufgelegenheit bietet.

Regelmäßige Leser dieser Kolumne wissen, dass auch ich die Situation nicht wie 2008 sehe – sondern schlimmer. Wohin man auch blickt, hat sich die Problemlage verschärft. Über 50 Billionen mehr Schulden in einer Welt, die davor schon unter zu vielen Schulden litt, kann man nun wahrlich nicht als ein Entspannungssignal werten. Das Bankensystem in Europa wurde – im Unterschied zu den USA – nicht saniert und dreht immer noch mit viel zu wenig Kapital ein viel zu großes Rad. Auch in den Schwellenländern sind unsere schwachbrüstigen Banken wieder ganz vorne mit dabei. Kein Wunder, dass die Aktionäre aus den Bankaktien fliehen, ist doch diesmal die Drohung ernster zu nehmen, bei der nächsten Schieflage zur Kasse gebeten zu werden.

So richtig dies ist, so Krisen verstärkend ist es naturgemäß. Bis jetzt ist es Notenbanken und Politik noch gelungen, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass die Banken sicher sind. Dabei haben sie das Glück, dass bisher noch niemand wie im Märchen laut ausgerufen hat: „Der Kaiser ist nackt!“ Sollte sich in den aktuellen Turbulenzen die Erkenntnis der mangelnden Kleidung des Bankensystems breiter durchsetzen, genügt es nicht, auf Banken im Portfolio zu verzichten, wie das Profis schon lange tun. Dann ziehen diese den ganzen Markt mit nach unten.

Natürlich werden die Notenbanken dann die letzten Hemmungen fallen lassen und „all-in“ gehen, um die Inflation nicht nur bei den Vermögenspreisen zu befeuern. Spannend wird sein, wie diese Intervention aufgenommen wird. Als Auftakt zu einer weiteren Börsenhausse getragen von der Inflationshoffnung? Oder als endgültiger Beweis für das Scheitern der Politik der letzten Jahre mit einer Flucht aus allen Finanzassets? Ohne Zweifel hat das (Ur-)Vertrauen in die Allmacht der Notenbanken in den letzten Monaten erheblich gelitten.

Doch selbst wenn es nicht so schlimm kommt, gibt es durchaus rationale Gründe selbst bei unveränderten Annahmen zu Gewinnen und Wachstum, Aktien tiefer zu bewerten als noch vor Jahresfrist. Ein Leser dieser Kolumne – ja, liebe Leser, wenn sie richtig gute Sachen haben, immer an mich schicken! – hat mich auf einen Kommentar von Harlyn Research hingewiesen, der verdeutlicht, dass der Wunsch, Verluste zu begrenzen, bei gestiegenem Risiko zwangsläufig zu tieferen Kursen führen muss. Dies liegt an unserem Verhalten und den Gesetzen der Mathematik.

Nehmen wir an, ein Investor könnte in zwei aufeinander Jahren jeweils zehn Prozent Gewinn oder Verlust machen, wobei die Ereignisse unabhängig voneinander sind. Natürlich würde man sich über zwei Gewinnjahre freuen und über zwei Verlustjahre ärgern. Was wäre, wenn er in einem Jahr einen Gewinn von zehn Prozent macht und im anderen ein Verlust von zehn Prozent? Spontane Antwort: Das Vermögen ist unverändert. Doch das stimmt nicht. In Wirklichkeit verliert der Investor ein Prozent, und zwar egal in welcher Reihenfolge Gewinn und Verlust auftreten:

• 100* 1,1 = 110* 0,9= 99
• 100*0,9 = 90* 1,1 = 99

Das ist einfache Arithmetik, die aber relevant ist, vor allem je größer der Verlust ist. Beträgt der Verlust 15 Prozent, brauchen wir 17,5 Prozent Gewinn, bei 20 Prozent Verlust, 25 Prozent Gewinn um wieder auf Einstiegsniveau zu sein.

Damit ändern sich aber auch die Preise, die wir bereit sind, für eine Aktie zu bezahlen. Mag ein Kurs von 100 für eine Aktie mit gleichmäßiger Gewinn/Verlust-Chance noch angemessen sein, ist dies nicht mehr der Fall, wenn man sich zwar noch 10 Prozent Gewinn erhofft, die Verluste aber bei 15 Prozent oder mehr liegen können. Im Falle eines Verlustrisikos von 30 Prozent rechnet Harlyn vor, dass es völlig rational ist, für die Aktie nur noch 88 Euro zu bezahlen. Und dabei wurde die Gewinnhoffnung noch nicht mal gesenkt.

Da mögen die Analysten noch so sehr betonen, dass sie ihre Annahmen nicht geändert haben. Die Einschätzungen für den Worst Case haben sie sehr wohl geändert und damit das Verlustpotenzial erhöht, ohne zugleich die Gewinnchance anzuheben. Wie sollten sie auch, gab es doch eher negative Meldungen in den letzten Wochen. Solange sich die Gewinn-Verlust-Erwartung der Marktteilnehmer nicht wieder grundsätzlich ändert, dürfte damit eine Rückkehr zu den alten Höchstständen ausgeschlossen sein. Will die EZB das ändern, sollte sie gleich, wie die Bank of Japan, direkt Aktien aufkaufen. Wundern würde mich das angesichts der immer verzweifelten Interventionen nicht.

→ WiWo.de: „Der Bluff mit Banken erhöht das Verlustrisiko“, 18. Februar 2016