Staatsfinan­zierung muss inflationär wirken

Die EZB hat den Realzins in der Eurozone auf minus 8,6 Prozent erhöht. Ob dies dazu beiträgt, die Inflation zu dämpfen, darf bezweifelt werden. Diese dürfte nur sinken, wenn es zu einer deutlichen Entspannung an den Energiemärkten kommt durch eine deutliche Ausweitung des Angebots und eine Beendigung des Krieges. Alternativ bleibt der schmerzhafte Weg über einen Rückgang der Nachfrage, also eine weltweite Rezession. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir uns bereits auf dem Weg in die Rezession befinden.

Dennoch ist das Risiko erheblich, dass die Inflation sich verfestigt. Hatten wir es in den vergangenen Jahrzehnten mit einem eher deflationären Umfeld zu tun, also einer Tendenz zu fallenden Preisen, so dreht sich dies um. Die demografische Entwicklung (weniger statt mehr Erwerbstätige) und die Globalisierung (weniger statt mehr internationale Kooperation) wirken künftig eher inflationär. Hinzu kommen die politisch gewollte Verteuerung der Energie und die Zwangsmaßnahmen im Klimaschutz, die tendenziell zu höheren Preisen führen.

Für die Schuldner der Welt ist das nur vordergründig eine gute Entwicklung. Steigende Preise erleichtern zwar einigen den Schuldendienst, für viele sinken aber die Realeinkommen und damit die Schuldentragfähigkeit. Die Dimensionen, um die es geht, sind gewaltig. So rechnete der britische The Economist vor, dass ein Zinsanstieg von zwei Prozent die Zinsbelastung um 50 Prozent erhöhen würde, auf immerhin 18 Prozent des Welt-BIP.

Kein Wunder also, dass wir es bei Inflationsraten von über neun Prozent mit offiziellen Leitzinsen von null zu tun haben. Die Notenbanken betreiben dabei aber ein gefährliches Spiel. Mag es in einem deflationären Umfeld funktionieren, Probleme zu hoher Schulden über die „Monetarisierung“, also letztlich über die Finanzierung mit der Notenpresse zu bereinigen, so funktioniert das in einem inflationären Umfeld nicht mehr. Das Risiko eines weiteren Befeuerns der Inflation und eines möglichen breiten Verlustes des Vertrauens in die Währung ist zu hoch.

Dies kümmert die EZB allerdings nicht, was der zweite und weitaus bedeutsamere Beschluss der letzten Woche zeigt. Die EZB will in Zukunft nicht nur das Zinsniveau allgemein festlegen, sondern auch für jeden einzelnen Schuldner. Konkret geht es darum, dass die EZB glaubt, besser als der Markt zu wissen, ob und wie viel Italien mehr für seine Staatsschulden zahlen soll als Deutschland. Das ist ein klarer und eklatanter Bruch mit der bisherigen Praxis aller Notenbanken, eben genau das nicht zu tun, sondern sich „marktneutral“ zu verhalten: Die Notenbank entscheidet über den Eckzins, die anderen Teilnehmer der Wirtschaft entscheiden über den angemessenen Zins – je nach Risiko des Schuldners. Der Bruch mit dieser Tradition ist ein nur mühsam verstecktes Bekenntnis zur Subvention einzelner Staaten und zur direkten Staatsfinanzierung, die offiziell verboten ist.

Um dies zu tun, hat sich die EZB ein neues Instrument einfallen lassen: Das “Transmission Protection Instrument”, kurz TPI. Nötig war das übrigens nicht, haben wir in der Eurozone doch bereits Instrumente für eine mögliche ungerechtfertigte Krisensituation. Mit dem bereits vor Jahren geschaffenen Outright Monetary Transactions (OMTs) kann die EZB Staaten helfen, sofern sie Reformauflagen erfüllten.

Doch diese Auflagen sind bei den betroffenen Regierungen unbeliebt, weshalb nun vier Kriterien genügen, um in den Genuss der Zentralbankunterstützung zu gelangen:

1. Einhalten des haushaltspolitischen Rahmens der EU
2. Fehlen schwerwiegender makroökonomischer Ungleichgewichte
3. fiskalische Tragfähigkeit
4. solide und nachhaltige makroökonomische Politik.

Was hart klingt, dürfte in der Praxis eine wachsweiche Regel sein und zuerst im Falle Italiens Anwendung finden:

Zum einen muss der Staat den „haushaltspolitischen Rahmen der EU einhalten“, was konkret immer gegeben ist, zeigt die EU sich doch seit Jahrzehnten sehr flexibel. Nun, wenn mit einer kritischen Einschätzung ein Wegfall der Unterstützung der EZB einhergeht, dürfte es äußerst unwahrscheinlich sein, dass es überhaupt noch zu Fällen kommt, in denen der Rahmen offiziell nicht eingehalten wird.

Des weiteren dürfen keine „schwerwiegenden makroökonomischer Ungleichgewichte“ vorliegen. Auch das ist eine Beurteilung, bei der es schwerlich zu einer Einschränkung kommt. Was ist schon „schwerwiegend“? Noch leichter als beim Haushalt dürfte die Kommission sich hier tun, alles gutzuheißen.

Bleiben die „fiskalische Tragfähigkeit“ und „solide und nachhaltige makroökonomische Politiken“. Hier wird es zumindest theoretisch objektiver und härter. Nehmen wir das konkrete Beispiel Italiens. Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen, dass Italien beide Kriterien nicht erfüllt. Das Wachstum ist seit über 20 Jahren zu gering, um die Schuldenlast tragfähig zu machen. Es fehlt an Reformen des Arbeitsmarkts und auch die Verwendung der Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds, unter anderem zum Erhalt von Dörfern mit mehr als 140.000 Euro pro Einwohner, spricht nicht für ein gänzlich anderes Szenario. Die demografische Entwicklung und die Produktivitätsentwicklung sind noch schlechter als in Deutschland, weshalb selbst im optimistischsten Szenario das Wachstum gering bleiben wird. Der italienische Staat kann nicht aus seinen Schulden herauswachsen.

Die aktuelle politische Entwicklung in Italien unterstreicht deutlich, dass es unmöglich ist, in Italien „solide und nachhaltige makroökonomische Politiken“ umzusetzen. Wer, wenn nicht Draghi hätte das bewältigen können. Im Gegenteil, es spricht viel dafür, dass die Zinsentwicklung in den letzten Monaten nicht auf einem „unberechtigten Marktversagen“ beruht und die die EZB so beunruhigte, dass sie eine Krisensitzung einberief. Finanzmarktteilnehmer erkennen Probleme früher als Medien (und Notenbanker). Der Zinsanstieg dürfte die frühe Erwartung des Scheiterns von Draghi widerspiegeln, verbunden mit Neuwahlen und dem realistischen Risiko einer sehr EU-kritischen Regierung.
Ebenfalls dazu passt der starke Anstieg der TARGET2-Verbindlichkeiten Italiens auf über 630 Milliarden Euro (vor allem gegenüber der Bundesbank), was für eine zunehmende Kapitalflucht spricht.

Die EZB will dennoch besser wissen als die Märkte, welche Zinsen angemessen sind. In diesem Szenario Italien das Signal zu geben, die Zinsen zu deckeln, wird nicht zu „nachhaltiger Politik und fiskalischer Tragfähigkeit führen“, sondern genau das Gegenteil bewirken. Es ist eine Einladung, eine Politik fortzusetzen, die auf dauerhafte Transfers und Zinssubventionen setzt.

Dass die EZB diesen Weg beschreitet, erklärt, warum der Euro nach der Verkündung der Maßnahmen wieder nachgegeben hat. Es ist eine strukturell inflationäre Politik, die das Vertrauen in die Währung weiter untergräbt. In einem deflationären Umfeld kann man versuchen, Staatsschuldenprobleme mit der Notenpresse zu lösen. In einem inflationären Umfeld muss sie scheitern.

Es ist höchste Zeit, dass unsere Politik sich auch mit Blick auf die Eurozone von ihren Lebenslügen verabschiedet: Der Euro funktioniert nicht und der von GRÜNEN und SPD angestrebte Einstieg in eine Transfer- und Schuldenunion wird daran nichts ändern. Sie würde das Siechtum nur verlängern und das zulasten der hiesigen Steuerzahler und Sparer. Die Eurozone braucht eine grundlegende Reform und eine echte Antwort auf die Schuldenproblematik, die neben Italien auch andere Länder und vor allem Frankreich betrifft. Leider spricht wenig für einen Politikwechsel, erfordert dies doch mutige Entscheidungen und vor allem Bereitschaft und Interesse, auch die eigenen Interessen zu berücksichtigen.

cicero.com: “Der Euro funktioniert nicht”, 25. Juli 2022