“So sanieren wir die Welt­wirt­schaft”

Dieser Kommentar erschien in der September-Ausgabe des Magazins Cicero:

Die Angst vor der „säkularen Stagnation“, der „Eiszeit“, wie ich es in meinem letzten Buch nenne, geht um. Dass trotz der von den Notenbanken quasi unbegrenzt bereitgestellten Liquidität, trotz historisch tiefer Zinsen und trotz einer Erhöhung der weltweiten Schulden um mehr als 55 Billionen US-Dollar seit 2007 die Wachstumsraten in fast allen Ländern deutlich unter dem Vorkrisenniveau liegen, muss strukturelle Gründe haben. Wir brauchen jedoch Wachstum und höhere Inflationsraten, um die Lasten einer alternden Gesellschaft zu tragen, den Wohlstand für kommende Generationen zu sichern und die Folgen der weltweiten Migrationsbewegungen zu bewältigen. Zwei Prozent Wachstum, zwei Prozent Inflation und dann übrigens auch wieder Zinsen für die Sparer, wären das Ziel.

Wachstum ist kein Zufall

Wirtschaftliches Wachstum ist kein Zufall. Knapp zusammengefasst sind es zwei Faktoren, die das Wachstum einer Wirtschaft treiben: die Zahl der Erwerbstätigen und deren Produktivität, also die Leistung, die sie im Durchschnitt pro Kopf erbringen. Letzteres hängt vom Kapitaleinsatz, wie zum Beispiel dem Grad der Automatisierung, dem technischen Fortschritt und dem Bildungsniveau ab. Je anspruchsvoller und technisierter eine Aufgabe ist, desto größer ist die pro Kopf erbrachte Leistung. Rein ökonomisch betrachtet sind Tätigkeiten beispielsweise in der Gastronomie oder auf dem Bau weniger produktiv als Tätigkeiten in Produktion, Forschung und Entwicklung.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten wir von wachsenden Erwerbsbevölkerungen und deutlichen Produktivitätszuwächsen. In der Folge ist das Wohlstandsniveau in der westlichen Welt deutlich gestiegen. Doch schon Anfang der 1980er-Jahre nahmen die Effekte ab. Die Erwerbsbevölkerung wuchs weniger schnell, und vor allem die Produktivitätszuwächse gingen zurück.

Verstärkt wurde dieser Trend durch den Fall des Eisernen Vorhangs und dem Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft. Damit stieg das weltweite Arbeitskräfteangebot um mehrere Hundert Millionen Menschen. Diese Menschen waren und sind bereit für deutlich geringere Löhne zu arbeiten, als wir in der westlichen Welt. Dieser Lohnwettbewerb führte zu stagnierenden Löhnen und Arbeitsplatzverlusten in den Industrieländern. Aus ökonomischer Sicht kamen die Erwerbsbevölkerung und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter Druck. Das Wachstumspotenzial der Wirtschaft ging zurück.

Die Politik reagierte auf die veränderte Situation mit einer Politik der Nachfragestimulierung. Die angelsächsische Welt setze auf tiefere Zinsen und eine Deregulierung des Bankensystems, um fehlende Einkommen durch steigende Verschuldung zu kompensieren. In Kontinentaleuropa waren es derweil schuldenfinanzierte Sozialleistungen und Konjunkturprogramme, bis mit der Einführung des Euro auch hier die private Verschuldung deutlich zunahm und zu einer temporären Scheinblüte in den heutigen Krisenländern führte.

Diese Wirtschaftspolitik hat in den letzten 30 Jahren nicht nur die zunehmende Erlahmung der wirtschaftlichen Antriebskräfte übertüncht, sondern die Probleme weiter verstärkt. Immer mehr Schulden haben nur dazu gedient, Konsum und Spekulation zu finanzieren. Überall sind die Vermögenswerte in Folge dieser Verschuldung deutlich gestiegen. Die Zinsen für diese Schulden müssen jedoch nach wie vor aus dem Einkommen finanziert werden, was letztlich zu einer geringeren Nachfrage führt. Zugleich wurden Investitionen getätigt, die sich bei genauerer Betrachtung nicht rechnen. Überkapazitäten und Fehlinvestitionen drücken auf den Markt und verstärken die deflationären Kräfte. Immer deutlicher wird: Schulden sind nichts anderes als vorgezogener Konsum. Und diese Nachfrage fehlt heute.

Gefangen in der Eiszeit

2008 kam die Politik des Lebens auf Pump zu einem abrupten Ende. Weltfinanzsystem und Weltwirtschaft standen vor dem Kollaps. Es drohte eine neue große Depression mit Bankenzusammenbrüchen, Staatspleiten, Massenarbeitslosigkeit und sozialen und politischen Konflikten innerhalb und zwischen Ländern. Die Politik hat darauf mit den bewährten Mitteln reagiert: noch billigerem Geld und noch mehr Schulden. Es wurden weiter nur die Symptome bekämpft und nicht die eigentlichen Ursachen. Nur eine anhaltende Steigerung der Medikamentendosis konnte das System stabilisieren. Statt einer neuen großen Depression bekamen wir die Depression in Zeitlupe. Statt dem raschen Kollaps die Eiszeit.

Das Problem ist: Die Medikamente wirken immer weniger. Selbst Zinsen von unter null genügen nicht, um eine Welt mit schrumpfender oder stagnierender Erwerbsbevölkerung und ohne Produktivitätsfortschritte wieder auf Wachstumskurs zu bekommen. Notenbanken erfinden nichts und bekommen auch keine Kinder.

Wollen wir die Eiszeit überwinden, müssen wir uns den Realitäten stellen und uns einer Rosskur unterziehen. Sie basiert auf drei Säulen: der Bereinigung der Folgen der falschen Politik der letzten 30 Jahre, der Erhöhung der Erwerbstätigenzahl und der Steigerung der Produktivität.

Finanzieller Neustart

Die Schulden, die gemacht wurden, um die Illusion von Wachstum und Wohlstand aufrechtzuerhalten, sind untragbar geworden und erdrücken die Wirtschaft immer mehr. Nur mit Tiefstzinsen ist es bisher gelungen, den Schuldenturm vor dem Einsturz zu bewahren. Deshalb ist ein wichtiger erster Schritt die Bereinigung der faulen Schulden in einem geordneten Prozess. Im Fall der Eurozone bedeutet dies, dass sich Gläubiger und Schuldner an einen Tisch setzen und wie bei einer Unternehmenssanierung die untragbar gewordenen Schulden abschreiben. Das ist schmerzhaft, weil eine solche Sanierung immer mit erheblichen Verlusten für die Gläubiger – leider vor allem auch Deutschland – einhergeht. Doch die Verluste sind längst eingetreten; sie sich nun auch einzugestehen, verhindert zumindest den ungeordneten Zusammenbruch.
Ein geordnetes Verfahren hieße in der Praxis, dass in einem Schuldentilgungsfonds die untragbaren privaten und öffentlichen Schulden zusammengefasst und über einen langen Zeitraum von den Euroländern gemeinsam abgetragen werden. Denkbar ist auch, diesen Tilgungsfonds durch die EZB finanzieren zu lassen, was allemal besser wäre als die Fortsetzung der gegenwärtigen Politik, die faktisch zu einer Schuldensozialisierung ohne demokratische Legitimierung und ohne Gegenleistung der Schuldnerländer über die Bilanz der EZB hinausläuft. Die Beträge, um die es hier geht – auch dies muss offen angesprochen werden – dürften sich auf mindestens drei Billionen Euro belaufen.

Zu dem finanziellen Neustart gehört allerdings auch, dass wir die ungedeckten Verbindlichkeiten für Renten und Gesundheitsleistungen einer alternden Gesellschaft reduzieren. Schon vor Jahren haben Experten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) die tatsächliche Verschuldung der westlichen Industriestaaten, sprich: unter Einbeziehung von versteckten Lasten für zukünftige Versorgungsansprüche, auf mehrere Hundert Prozent des BIP beziffert und ein drastisches Gegensteuern gefordert. Auch für Deutschland werden die Verbindlichkeiten des Staates auf bis zu 400 Prozent des BIP geschätzt. Eine Kürzung dieser Zusagen, zum Beispiel durch einen späteren Renteneintritt ist unumgänglich, würde doch eine einseitige Belastung der nachfolgenden Generation das Wachstum zusätzlich schwächen und vor allem zu einem Exodus der Best-Qualifizierten in Länder mit geringerer Belastung führen.

Stärkung der Wachstumskräfte

Dieser Teil der Rosskur – so gewaltig die Anstrengung auch erscheint – genügt jedoch nicht, um wieder zu Wachstum zurückzufinden. Dazu müssen wir zunächst dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in Europa entgegentreten: Längere Lebensarbeitszeit, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Arbeitsmarktreformen, um die Einstellung von Arbeitskräften zu erleichtern, und eine Kombination aus Qualifizierung und Kürzung von Sozialleistungen, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Gerade die hohe Arbeitslosigkeit in den Krisenländern unterminiert die künftigen Wachstumsaussichten, weil wertvolle Qualifikationen verloren gehen.

Kritiker werden an dieser Stelle zu Recht einwenden, dass die wirtschaftliche Lage in weiten Teilen Europas zu schlecht ist, um die Beschäftigungsquote zu steigern. Deshalb wäre es im Zuge dieser Reformen sehr wohl angezeigt, ein letztes Mal die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stimulieren, zum Beispiel durch Investitionen in Infrastruktur.

Ein weiterer Ansatzpunkt zur Erhöhung der Zahl der Erwerbstätigen ist eine gezielte Zuwanderungspolitik. Dabei muss der ökonomische Nutzen im Vordergrund stehen, wie im Falle Deutschlands bereits vor Jahren von der Bertelsmann Stiftung gefordert. Dies setzt eine Auswahl der Zuwanderer nach Qualifikationsniveau voraus, ähnlich wie dies klassische Einwanderungsländer wie Kanada und Australien vorexerzieren.

Der zweite Faktor ist die Produktivität der Erwerbstätigen. Hier kommt es vor allem auf deren Qualifikation und Ausrüstung an. Mit mehr Kapital für Investitionen in Infrastruktur – Beispiel schnelles Internet – und Maschinen und Anlagen – Stichwort Automatisierung und Roboter – und Bildung kann Innovation gefördert werden. Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, kann dies nur mit einem herausragenden Bildungssystem. In der Schweiz, beispielsweise, erzielen 43 von 1000 Schülern Höchstleistungen in Mathematik. In Deutschland liegt der entsprechende Wert bei 26. Kein Wunder, dass die Schweiz bei Hightech-Exporten pro Kopf fast das Dreifache des deutschen Niveaus erreicht. Dabei ist Deutschland noch eines der führenden Länder Europas, was die Leistungen des Schulsystems betrifft.

Ende der Wohlstandsillusion

Die Rosskur wäre nicht populär. Besitzstände aller Bevölkerungsgruppen wären tangiert. Die Vermögenden müssten ihren Beitrag zur Beseitigung der faulen Schulden und zur Finanzierung der dringend nötigen Investitionen leisten. Arbeitnehmer müssten länger arbeiten und sich weiter qualifizieren. Unternehmen müssten, wollten sie einer höheren Besteuerung entgehen, mehr investieren. Der Staat müsste, statt zu konsumieren, mehr investieren und die Politiker müssten ihren Wählern verdeutlichen, dass es ohne mehr Anstrengung und Investition nicht möglich sein wird, den Wohlstand zu erhalten und zu Wachstum zurückzukehren.

Zur Abmilderung der sozialen Folgen sollten Notenbanken und Staaten den zwingend erforderlichen Anpassungsprozess noch einmal begleiten. Ein Instrument könnte tatsächlich das zurzeit intensiv diskutierte „Helikopter-Geld“ sein. Gemeint ist die direkte Finanzierung von Staatsausgaben durch die Notenbanken in Form von Geldgeschenken an den Staat. Mit Blick auf die Erfahrungen der Hyperinflation der Weimarer Republik sicher ein Risiko. Doch denken wir in Alternativen: ist eine noch extremere Fortsetzung der Politik der letzten 30 Jahre besser als das kalkulierte Risiko einer gezielten Intervention zum Anstoß und zur Begleitung eines radikalen Reformprozesses?

Ich habe allerdings wenig Hoffnung, dass die Vernunft sich durchsetzt. Als der französische Ökonom Thomas Piketty Wirtschaftsminister Gabriel besuchte, zeigte der sich erfreut von dessen Thesen zu höherer Umverteilung und Besteuerung, weil er doch gerne vier Milliarden mehr für Bildung ausgeben würde. Sicher: ein richtiger Gedanke. Doch warum er zuvor lieber 180 Milliarden Euro (oder mehr, je nach Schätzung) für die Rente mit 63 – die in jeder Hinsicht im eklatanten Widerspruch zu dem steht, was wir tun müssten – ausgegeben hat, ließ er offen. Konsum statt Investition bleibt eben das Motto der Politik.