So retten wir die EU und uns selbst

Dieser Kommentar von mir erschien bei manager magazin. Heute tagt Brüssel. Es steht zu befürchten, dass ein Plan herauskommt, der uns viel kostet und niemandem wirklich etwas bringt: nur dem Euro ein paar mehr Jahre und den Empfängerländern von  Wiederaufbaufonds oder Ähnlichem die Illusion, dauerhaft von Transfers leben zu können. Die werden aber nicht kommen.

Die Corona-Krise hat die Weltwirtschaft fest im Griff. Zum ersten Mal seit 30 Jahren wird es der Welt schlechter ergehen als im Jahr zuvor, so eine Auswertung der Vereinten Nationen. Dabei trifft es die Entwicklungs- und Schwellenländer am härtesten.

In Europa brechen die ungelösten Probleme von EU und Euro mit voller Wucht wieder auf. Hektisch sucht die Politik, wie zuletzt Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, ein Instrumentarium, um den Euro angesichts des schweren Konjunktureinbruchs zu retten. Wie schon seit Jahren sind es am Ende Kompromisse, die bestenfalls Zeit kaufen, die grundlegenden Probleme aber verschleppen.

Doch was sollte Deutschland tun, um aus der Krise gestärkt hervorzugehen und den Wohlstand zu erhalten? Hier ein Programm:

Hamilton machen, statt davon zu reden

An großen Worten fehlt es bekanntlich nicht. Bundesfinanzminister Scholz orientierte sich im Gespräch mit der ZEIT in dieser Woche an Alexander Hamilton. Als Finanzminister trug dieser 1790 entscheidend zur staatlichen Einheit der USA bei, indem er auf Ebene des Zentralstaats eigene Einnahmen und eine Verschuldungskompetenz schuf.

Obwohl Scholz die “Vereinigten Staaten von Europa” nicht für realisierbar hält, weil Europa auf „längere Sicht ein Europa der einzelnen Staaten mit ihren unterschiedlichen Traditionen, Sprachen und Kulturen” bleibt, ist er bereit, in eine Fiskalunion einzusteigen. Die EU solle selbst Steuern erheben und mit den Ausgaben – so steht es ungesagt im Raum – vor allem den bedürftigen Staaten helfen. Bedürftigkeit ist dabei danach bestimmt, wie hoch die Staaten bereits verschuldet sind. Es ist nichts anderes als die Sozialisierung von Schulden durch die Hintertür.

Selbst ein größeres EU-Budget mit eigenen Steuern und eigener Verschuldungskapazität wird nicht ausreichen, um die Eurozone dauerhaft zu stabilisieren. Dazu sind die grundlegenden wirtschaftlichen Divergenzen zwischen den Mitgliedsländern zu groß. Hinzu kommt, dass die Mitgliedsstaaten keinerlei Bereitschaft erkennen lassen, ihre finanzpolitische Autonomie aufzugeben. Sie wollen weiterhin entscheiden, wie viel Schulden sie machen, wie die Besteuerung aussieht und welches Sozialstaatsniveau sie sich leisten. Hier in eine Umverteilung einzusteigen ohne Mitspracherecht, entspricht dem berühmten Blankoscheck. Selbst bei Freunden keine gute Idee.

Was die EU – vor allem die Eurozone – jedoch dringend braucht, ist eine Reduktion der zum Teil untragbaren Staatsschulden. Denn diese ist das Problem, um das es bei der ganzen Diskussion um Corona-Bonds und Wiederaufbaufonds geht. Italien, Spanien, Portugal, Belgien, Griechenland und auch Frankreich brauchen einen anderen Geldtopf.

Hier könnte Scholz sich an einer anderen Handlung Alexander Hamiltons orientieren. Dieser hat damals die Schulden der einzelnen Staaten auf die Zentralregierung übertragen. Damit verbunden waren Schuldenschnitte für die inländischen Gläubiger.

Abgewandelt sollten wir in der EU das Gleiche tun. Statt Blankoschecks für die Zukunft zu schreiben, sollte Deutschland auf eine Vergemeinschaftung von Altschulden auf Ebene der EU setzen. Dabei sollte jedes Land Staatsschulden in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom BIP auf die EU übertragen. Die EU würde für diese Schulden die Haftung übernehmen und für Zins- und Tilgung einstehen. Finanziert werden würde dies über die Ausgabe ewiger Anleihen, deren Zinsen für die ersten 100 Jahre gestundet werden. Gekauft würden diese Anleihen völlig legal von der EZB im Rahmen ihrer geldpolitischen Programme.

Weil an diesem Modell alle Staaten nach ihrem Anteil am BIP der EU teilnehmen, stellt es zunächst nur eine Umbuchung dar. Es gibt auch kein Verschieben von Vermögen zwischen den Ländern. Das Verlagern führt aber zu einer Reduktion des Anteils an Schulden, für den die einzelnen Staaten allein haften. Letztlich würde die Verschuldung der einzelnen Staaten um genau den Anteil der auf die EU verlagerten Schulden sinken.

Nehmen wir einen Wert von 75 Prozent des BIP an, würde in diesem Modell die Verschuldung des italienischen Staates auf unter 100 Prozent vom BIP sinken, die Verschuldung Deutschlands selbst nach den hohen Kosten der Corona-Krise auf ca. 25 Prozent des BIP. Alle Staaten profitieren also und die Sparleistungen der Deutschen, Niederländer und Österreicher wären nicht umsonst gewesen.

Im Gegenzug für diese einmalige Bereinigung von Altlasten wäre eine eindeutige Veränderung der Verträge der EU zu vereinbaren. Wie Alexander Hamilton sollten wir festschreiben, dass es ein Bail-out-Verbot gibt. Das gab es zwar schon und wurde gebrochen. Diesmal muss es unaufhebbar festgezurrt werden.

Gerieten einzelne Staaten künftig in Schwierigkeiten, so müssten sie, wie in den USA üblich, in die Insolvenz. Ebenfalls festzuschreiben wäre, dass die EZB nur nach Kapitalschlüssel Wertpapiere der Mitgliedsstaaten aufkaufen darf und nicht gezielt mit Interventionen zugunsten einzelner Staaten hilft, es wie es zurzeit erfolgt. Nur so bekommen wir die Disziplinierung des Kapitalmarkts, um erneute Schuldenkrisen zu verhindern.

Damit hätten wir eine Lösung für das dringendste Problem der EU – die zu hohe Verschuldung. Zugleich bestünde die finanzielle Autonomie der Mitgliedsstaaten weiter, allerdings mit der Rückkehr zum Prinzip, dass jedes Land auch für die Konsequenzen eigener Handlungen einstehen muss.

Deutschland aus der Krise führen

Für uns wäre diese Vorgehensweise in vielerlei Hinsicht vorteilhaft: Wir hätten echte Solidarität auf EU-Ebene gezeigt, ohne Blankoschecks für die Zukunft zu unterschreiben. Wir hätten aber auch den finanziellen Spielraum, um unser Land für die Zukunft fit zu machen und unterlassene Investitionen der letzten Jahrzehnte nachzuholen. Dies ist angesichts des einsetzenden demografischen Wandels, der stagnierenden Produktivitätszuwächse, der existenziellen Krise unserer Automobilindustrie und der ungedeckten Versprechen für künftige Sozialleistungen dringend erforderlich.

Konkret sollten wir:

  • die Unternehmen, die im Zuge der Corona-Krise Kredite aufnehmen mussten, entschulden: Tun wir das nicht, werden die Unternehmen entweder unter der Last der Schulden zusammenbrechen oder aber in Zukunft mit der Tilgung beschäftigt sein. Dies belastet die Erholung der Wirtschaft, weil zu wenig investiert und innoviert wird. (Lesetipp: Was Unternehmen in der Corona-Krise tun sollten, um die Krise nicht nur zu überleben, sondern danach auch durchzustarten, erkläre ich in der neuesten Ausgabe vom Harvard Business Manager: Die Mutter aller Krisen.)
  • den Konsum unmittelbar ankurbeln: Dies könnte durch Konsumgutscheine erfolgen, die allerdings mit einem festen Verfallsdatum versehen sind, zum Beispiel Ende Oktober 2020. Damit soll der Neustart nach dem Lock-down erleichtert werden.
  • Steuern und Abgaben senken: In den letzten Jahren ist die Abgabenquote immer weiter angestiegen. Vor allem geht es um die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen. Es muss durchgehend der Grundsatz gelten, dass man von jedem zusätzlich verdienten Euro mehr als 50 Prozent behält. Wie dramatisch die heutige Fehlsteuerung ist, zeigt dieses Beispiel: Wenn ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger Arbeit aufnimmt, darf er die ersten 100 Euro behalten, danach werden die Transferzahlungen jedoch drastisch zurückgefahren. Zwischen 100 und 1000 Euro bleiben faktisch nur 20 Prozent netto mehr, zwischen 1000 und 1200 Euro nur zehn Prozent und zwischen 1200 und 1420 Euro bleibt nichts mehr bei dem früheren Hartz-IV-Empfänger. Solche Missstände sind seit Jahren bekannt und es wird höchste Zeit, sie zu bereinigen.
  • Investitionen fördern: Dies beinhaltet zum einen die Förderung von Investitionen von Privaten im Inland durch deutlich attraktivere Abschreibungsmöglichkeiten. Es bedeutet aber auch, dass der Staat, den schon im letzten Jahr auf 450 Milliarden Euro geschätzten Investitionsbedarf in Infrastruktur und Digitalisierung endlich angeht. Gerade in diesen Wochen mussten wir schmerzlich feststellen, wie konkret der Wettbewerbsnachteil aussieht, wenn man kein leistungsfähiges Internetnetz im Land hat.
  • Bildung und Innovation verbessern: Dies bedeutet, die Grundlagenforschung stärker zu unterstützen, um den Aufbau neuer Industrien bei uns zu fördern sowie vor allem eine Umkehr in der Bildungspolitik. Schneiden wir oberflächlich bei dem internationalen PISA-Test relativ gut ab, offenbart ein tieferer Blick einen erschreckenden Leistungsrückgang: Schafften 2006 noch 4,5 Prozent der 15-jährigen Schüler das Höchstniveau in Mathematik, ist der Anteil bis 2015 auf 2,9 Prozent gesunken. Als rohstoffarmes Land können wir uns diesen Niedergang in der Bildung nicht länger leisten, eben sowenig die immer noch viel zu hohe Anzahl von Jugendlichen, die Schule und Ausbildung abbrechen. Wir brauchen eine Qualitäts- und Leistungsinitiative für unser Bildungswesen.
  • unseren Staat professionalisieren: Es ist eine Schande, dass bei uns seit Jahren über die elektronische Patientenakte gesprochen wird, während Finnland diese seit fast zehn Jahren nutzt. Es ist überhaupt blamabel, wie rückständig die öffentliche Verwaltung ist, auch sichtbar an der IT-Ausstattung der Schulen. Hier wird es Zeit, dass wir anfangen, von den anderen Ländern zu lernen, die uns Jahrzehnte voraus sind. Ebenso peinlich ist die Diskussion über die dringend notwendige Verkleinerung des Bundestags oder das Zusammenlegen von Bundesländern. Der Staat sollte einheitlich nach den Grundsätzen der doppelten Buchführung bilanzieren, damit die wahren Kosten politischer Entscheidungen transparent werden. Und Politiker sollten nicht einfach behaupten können, eine Entscheidung „koste ja nur wenige Milliarden“, obwohl es sich um jährliche und stetig ansteigende Kosten handelt, siehe Beispiel Grundrente.
  • intelligenten Klimaschutz betreiben: Statt wie bisher sollten wir nicht auf staatliche Planwirtschaft setzen, um den CO2-Ausstoß zu senken. Bisher hat sich dieser Weg als sehr teuer und wirkungslos erwiesen. Deshalb muss es in Zukunft um Effizienz und Effektivität gehen. Dies bedeutet, wir müssen uns auf eine ordentliche Bepreisung von CO2 beschränken und die Bürger und Unternehmen im Gegenzug entlasten. Dann werden sich die besten Wege finden und diese dürften vor allem im Entwickeln und im Einsatz neuer Technologien bestehen und nicht – wie von hiesigen Politikern gern gefordert – in Beschränkungen und Verboten.

Die Liste der Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, um Deutschland fit zu machen, könnte sicherlich fortgesetzt werden. Entscheidend ist, dass wir es uns nach einem angepassten „Hamiltonschen Akt“ auch leisten könnten. Die Frage ist nur, wer hätte in Deutschland das Format solche Maßnahmen umzusetzen?

manager-magazin.de: “Die Wiederversöhnung der Deutschen mit der EU”, 23. Mai 2020