“Schlechtes Chance-Risiko-Verhältnis an der Wall Street”

Dieser Kommentar von mir erschien bei der WirtschaftsWoche:

Der Rallye seit Weihnachten zum Trotz spricht vieles für weitere Vorsicht an der Wall Street. Die Chancen stehen in keinem guten Verhältnis zu den Risiken.

Vor zwei Wochen habe ich die These aufgestellt, dass es verwegen sei, einen erneuten Test der letzten Tiefststände des S&P 500 auszuschließen. Bei einem Stand von über 2700 Punkten sind 666 Punkte in der Tat weit außerhalb des Denkbaren. Wie sehr, konnte ich auch an einigen Leserzuschriften erkennen. Zu groß ist der Konsens, dass wir die Finanzkrise überwunden haben, zu groß das Vertrauen in die Notenbanken, die – sollte es erneut turbulent werden – jederzeit genug Liquidität in die Märkte pumpen können, um einen weiteren Absturz zu verhindern.

Dabei macht gerade dieses Urvertrauen in die Notenbanken deutlich, auf welch schmalem Grat wir unterwegs sind. Immerhin zehn Jahre hängen wir nun schon am Tropf billigen Geldes und die Wirkungen sind bekannt: ein im historischen Vergleich bestenfalls schwacher Aufschwung, weiter schnell wachsende Schuldenquoten und stark gestiegene Assetpreise. Aktien, Anleihen, Immobilien und „alternative Investments“ von Kunst bis Private Equity boomen.

17 Prozent der weltweiten Anleihen mit negativem Zins

Wie krank das Finanzsystem ist, lässt sich alleine an der Tatsache ablesen, dass nach zehn Jahren Aufschwung weltweit immerhin Anleihen im Volumen von 9000 Milliarden US-Dollar eine negative Verzinsung aufweisen. Im Oktober waren es „nur“ 6000 Milliarden. Die zehnjährige Bundesanleihe ist auf dem besten Weg, erneut eine negative Verzinsung zu bieten.

Negative Zinsen sind kein gutes, sondern ein extrem schlechtes Signal. Vor allem, nachdem bereits so lange so viel Liquidität in die Märkte gepumpt wurde. Das Signal der Anleihenmärkte heißt: Deflation und Rezession voraus. Schon früher habe ich an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Märkte allen Bemühungen der Notenbanken zum Trotz „deflationäre Assets“ bevorzugen.

Was wiederum die Notenbanken vor nicht unerhebliche Probleme stellt. Sie haben sich schon lange auf einen Pakt mit den Finanzmärkten eingelassen. Jede Form der Stimulierung der Realwirtschaft soll über den „Wohlstandseffekt“ steigender Vermögenspreise funktionieren. Umgekehrt gilt es dann, den negativen Effekt fallender Vermögenswerte um jeden Preis zu verhindern. Die Notenbanken sind an die Finanzmärkte gefesselt.

Dabei tut sich eine immer größere Lücke zwischen den Finanzmärkten und der Realwirtschaft auf. Die ganze Diskussion zu Vermögensverteilung und Besteuerung, die gerade in den USA an Fahrt gewinnt, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Der Wohlstandseffekt hat nicht so funktioniert, wie erwartet und erhofft. Die Investitionen blieben schwach, das Produktivitätswachstum und die Lohnentwicklung ebenfalls. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, in welche Richtung es politisch in den kommenden Jahren gehen wird. Mehr Staat, höhere Abgaben und mehr Umverteilung werden dominieren. So oder so kein gutes Umfeld für Finanzmärkte und Vermögen.

Die Kaufpanik vom Dezember

Wie anfällig die Märkte nach zehn Jahren künstlichem Aufschwung sind, konnten wir im vergangenen Jahr beobachten. Die Erwartung steigender Zinsen entzog den Börsen zunehmend den Treibstoff. Markt für Markt drehte nach unten, bis es am Ende auch die Wall Street erwischte, als selbst die FANGS nicht mehr konnten. Letztere hatten sich immer mehr von fundamental rechtfertigbaren Bewertungen entfernt. Das schlechteste vierte Quartal seit Jahrzehnten war die Folge, ein Börsenjahr, in dem fast alle von der Deutschen Bank beobachteten Assetklassen mit einem deutlichen Minus abschlossen.

Zu Weihnachten dann die Panik. Nein, ich meine nicht den deutlichen Rückgang der Kurse, sondern die schnelle Trendwende. Am 26. Dezember gewann der S&P 500 fast fünf Prozent. Hintergrund waren Gerüchte, dass das „Plunge Protection Team“ – eine geheimnisumwitterte Gruppe im Weißen Haus, die sich um die Börsen kümmern soll – aktiv geworden sei und die deutlichen Signale der Fed, den Kurs der geldpolitischen Straffung zu verlassen.

Die Entwicklung unterstreicht allerdings, wie sehr wir uns in die Ecke manövriert haben. Immer mehr Geld ist in die riskanteren Bereiche der Märkte geflossen, die zudem wenig liquide sind, wenn die Stimmung dreht. Dies liegt auch daran, dass die Geschäftsbanken aufgrund der strengeren Regulierung nicht mehr wie früher im Markt intervenieren können. Drastische Kursverluste sind deshalb durchaus wahrscheinlich, egal von wo der Auslöser kommt.

Die Ereignisse des letzten Jahres können durchaus als Vorbeben angesehen werden. Wir haben es mit einer Weltwirtschaft zu tun, die einen Einbruch an den Vermögensmärkten nicht verkraften kann und Märkten, die nicht mehr in der Lage sind, schnelle Stimmungsumschwünge zu bewältigen.

Bleibt der 20. September 2018 das Allzeithoch?

Gut möglich, dass wir das Hoch vom 20. September 2018 lange nicht mehr wiedersehen werden. Um den Weg zu neuen Höchstständen frei zu machen, müsste die US-Börse in den kommenden Wochen deutlich nach oben ausbrechen. Denkbar ist alles, allerdings gibt es signifikante Warnzeichen. So ist der Dow Jones Transport Index – der gemeinhin als konjunktureller Frühindikator gilt – in den letzten Wochen markant gefallen. Immerhin elf Tage in Folge, was zuletzt im März 1969 passiert ist. Damals zu Beginn einer deutlichen Baisse.

Doch selbst wenn es noch ein paar Wochen aufwärtsgehen sollte, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Aktien, namentlich an der Wall Street, teuer sind und nur dann als billig angesehen werden können, wenn man das tiefe Zinsniveau als dauerhaft annimmt (ist nicht unberechtigt) und zugleich davon ausgeht, dass Gewinnquoten und Gewinnwachstum unverändert bleiben. Letzteres ist angesichts von Rekordgewinnen relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine sehr optimistische Hypothese. So steht das margenbereinigte Kurs-Gewinn-Verhältnis – auf Basis des gleitenden Zehnjahresschnitts der Gewinnquoten am BIP, statt nur mit laufenden Erträgen auf Rekordstand – noch über den Werten von 1928 und Ende der 1990er-Jahre. Wir haben also ungewöhnlich hohe Gewinnquoten, für die wir auch noch ungewöhnlich hohe Bewertungen zu zahlen bereit sind.

Selbst ohne Crash muss man angesichts dieser doppelt positiven Abweichung zur Kenntnis nehmen, dass mit US-Aktien in den kommenden Jahren kein Geld zu verdienen ist. Im Gegenteil spricht die Empirie für einen realen Verlust auf Sicht von zwölf Jahren.

Auch ein Einbruch in der Größenordnung von 60 Prozent ist in einem solchen Umfeld nicht auszuschließen, wie die Erfahrung der vergangenen Baissen unterstreicht. Zwar wäre das noch immer ein Stand jenseits von 1000 Punkten im S&P und damit deutlich über den 666, schmerzhaft genug aber allemal.

Die Rally, die wir seit dem 26. Dezember erleben durften, gibt dabei keine Entwarnung. Auch 1929, 2000 und 2007 gab es deutliche Gewinne an den Märkten und die Hoffnung, dass die Baisse am Ende sei und der Weg zu einer nachhaltigen Hausse offen. Immer wieder wurden die Aktionäre damals enttäuscht, bis sie dann auf Verlusten von 45 Prozent (1969 ff. und 2000 ff.), 55 Prozent (2007 ff.) und über 75 Prozent (1929 ff.) saßen. Verluste, die innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums von 18 bis 30 Monaten entstanden.

Was mich zum Fazit führt: Angesichts der hohen Bewertungen an der Wall Street, den gegebenen Unsicherheiten und dem schlechten Chance-/Risiko-Verhältnis spricht mehr dafür, Pulver trocken zu halten, als große Risiken einzugehen.