Die EU hat es in der Hand, eine Hunger­krise noch abzu­wenden

Nichts birgt so viel sozialen Sprengstoff wie steigende Nahrungsmittelpreise und Hunger. Die blutigen Unruhen des Arabischen Frühlings 2011 waren eine Folge der Weizenknappheit, ausgelöst durch eine Dürre in China. Von den neun größten Weizenimporteuren der Welt, die allesamt im Nahen Osten liegen, wurden sieben von Unruhen erschüttert. In Ägypten beendete der Preisanstieg von Brot um 40 Prozent die fast 30-jährige Herrschaft von Husni Mubarak. Der syrische Bürgerkrieg hätte ohne die Dürre im Jahr 2009 wohl nie begonnen.

Nur schwerlich lässt sich behaupten, dass der Nahe Osten sich seither zu einer stabilen Region entwickelt hätte. Käme es erneut zu steigenden Getreidepreisen, wäre ein „Arabischer Frühling 2.0“ die Folge – mit noch mehr Konflikten und einer neuen, noch größeren Migrationswelle in Richtung Europa. Ein grausiges Szenario.

Doch genau ein solches Szenario steht bevor. Russland (18 Prozent) und die Ukraine (acht 8 Prozent) stehen für ein Viertel der weltweiten Exporte von Weizen und spielen auch bei anderen Getreidesorten eine entscheidende Rolle auf den Weltmärkten.

Im Angesicht von Krieg, Zerstörung und Sanktionen müssen wir davon ausgehen, dass die Produktion sinken und der Export erheblich geringer ausfallen wird. Schon im November haben Russland und China einen Exportstopp für Düngemittel verhängt, was den Preisanstieg weiter befeuert hat. Hinzu kommt, dass die Weizenvorräte Ende 2021 auf einem Fünfjahrestief lagen.

Der Weizenpreis war schon vor dem Angriff auf die Ukraine deutlich gestiegen und nähert sich wieder dem Niveau des Jahres 2012. Die EU muss schnell und entschlossen handeln, um eine massive soziale Destabilisierung vor unserer Haustür zu vermeiden.

Das reiche Europa kann eher höhere Preise verkraften

Neben einer breiten Förderung des Getreideanbaus in der EU – Frankreich und Deutschland stehen für 15 Prozent der Weltexporte – muss es um die Umleitung relevanter Mengen zulasten des hiesigen Konsums gehen. Die reichere Bevölkerung Europas ist eher in der Lage, höhere Preise zu verkraften und auf alternative Nahrungsmittel auszuweichen als die Bewohner im nördlichen Afrika.

Konkret bedeutet dies, dass die Europäische Union Weizen zu Marktpreisen aufkaufen und verbilligt an unsere Nachbarn auf der anderen Seite des Mittelmeers liefern sollte. In der Folge würden die Preise hierzulande überproportional steigen, und wir müssen zusätzlich noch Steuergeld für die Subventionierung aufwenden. Das ist unpopulär, aber der günstigste Weg, sind doch die Kosten im Vergleich zu den sozialen und finanziellen Lasten neuer Unruhen und Migrationsströme fast vernachlässigbar.

Der Krieg in der Ukraine hat uns schmerzhaft gezeigt, wie wichtig geopolitisches Denken ist. Beim Thema Lebensmittelpreise haben wir Gelegenheit zu beweisen, dass wir die Lektion gelernt haben.

handelsblatt.com: “Die EU hat es in der Hand, eine Hungerkrise noch abzuwenden”, 4. März 2022