“Märchen vom reichen Land: Wie sich Merkels Regierung die Finanzen schön rechnet”

Dieser Kommentar von mir erschien bei HuffPost Deutschland:

Deutschland steht wirtschaftlich so gut da, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

  • Im Frühjahr 2018 wurden mit 44,6 Millionen Menschen so viele Erwerbstätige gezählt, wie noch nie seit der Wiedervereinigung.
  • Seit Jahren sind wir Exportweltmeister, erwirtschaften einen Handelsüberschuss von rund acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Nun könnte man meinen, Deutschland wäre ein reiches Land. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass dem nicht so ist. Ein Blick hinter die glänzende Fassade entzaubert unseren Wohlstand als Illusion. Denn statt für die Zukunft vorzusorgen, versäumt es unsere Politik vorzusorgen.  

Kaputtsparen statt Investition 

Einer der größten Gewinner der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) waren die öffentlichen Haushalte in Deutschland. Die von der Politik gefeierte “schwarze Null” wäre ohne die Politik der EZB gar nicht denkbar gewesen. Gut 300 Milliarden Euro hat der Staat an Zinsen seit Beginn der Eurokrise gespart. Zugleich sprudelten die Steuereinnahmen dank Boom und Rekordbeschäftigung. Eigentlich ein Leichtes also, den Haushalt auszugleichen. Wer es in diesem Umfeld nicht schafft, zu sparen, schafft es niemals.

Dabei hat der Staat keineswegs nur an den Zinsausgaben gespart. Ebenfalls abwärts ging es mit den Investitionen in öffentliche Infrastruktur, die sich gegenüber den frühen 2000er-Jahren mehr als halbiert haben. Die Hälfte der Autobahnbrücken beispielsweise wurde zwischen 1965 und 1975 gebaut. Diese Brücken waren nie für die heutigen Verkehrsmengen ausgelegt und sind als wirtschaftlicher Totalschaden einzustufen, rechnet das Institut der Deutschen Wirtschaft vor. Bei den Straßen sieht es nicht besser aus, wo seit dem Jahr 2000 ebenfalls von der Substanz gelebt wird.

Alleine für die Herstellung des normalen Standards der Infrastruktur sind Investitionen in der Größenordnung von 120 Milliarden Euro erforderlich. Dauerhaft brauchen wir ein nachhaltig höheres Ausgabenniveau, um den Standard zu halten. Legen wir dafür den OECD-Durchschnitt von 3,2 Prozent vom BIP an, müssten wir unsere Ausgaben um einen Prozentpunkt vom BIP steigern, also um rund 33 Milliarden pro Jahr. Drücken wir diese Last als Gesamtaufgabe über 30 Jahre aus, kommen wir auf eine Billion Euro latenter Verpflichtungen, nur wenn wir uns vornehmen, unseren Investitionsstandard auf den OECD-Durchschnitt zu bringen und dort zu halten.

Digitalisierung? Verschlafen!

Nicht enthalten sind darin die Kosten der rückständigen digitalen Infrastruktur. In Deutschland sind nur 2,1 Prozent aller Anschlüsse mit Glasfaser ausgestattet, verglichen mit 22,3 Prozent im OECD Durchschnitt. Vermeintlich ärmere Länder wie Spanien (40 Prozent) liegen deutlich vor uns. Nach einem Ranking der EU-Kommission belegen wir Platz 28 von 32!

Die Bundeswehr ist eine Lachnummer ohne funktionsfähiges Material. Es fliegt, schwimmt und fährt fast nichts mehr und die Soldaten haben nicht mal ausreichend Winterbekleidung. Kurzfristig braucht die Bundeswehr rund 130 Milliarden Euro, um überhaupt wieder funktionsfähig zu werden.

Langfristig dürfte angesichts der anwachsenden Aufgaben unvermeidlich sein, sich dem NATO-Ziel von Ausgaben auf dem Niveau von zwei Prozent des BIP zu beugen. Dies bedeutet einen Anstieg in Deutschland von rund 0,8 Prozent des BIP oder 26 Milliarden Euro pro Jahr. Gesamthaft über dreißig Jahre gerechnet also weitere rund 750 Milliarden Euro an Mehrlasten, die zu schultern sind.

  • Die “schwarze Null” hätte man auch auf anderem Wege erreichen können, indem man statt an Investitionen an staatlichem Konsum gespart hätte. Wann, wenn nicht im Boom, hätte die Regierung die Sozialausgaben relativ zum BIP zurückführen können und müssen? Das Gegenteil ist der Fall. Mit rund 1000 Milliarden Euro geben wir so viel aus für Soziales wie noch nie.

Schwarze Null treibt Ersparnis ins Ausland

Die “schwarze Null” führt nicht nur zu schlechteren wirtschaftlichen Aussichten, weil wir zu wenig in die Zukunft investieren. Sie verstärkte auch die globalen Handelskonflikte. Unser Exportüberschuss ist nämlich nicht nur die Folge des schwachen Euro und der wettbewerbsfähigen Industrien, sondern auch von zu wenig Investitionen im Inland. Seit Jahren sind Unternehmen, private Haushalte und eben der Staat Nettosparer, was dazu führt, dass wir unsere Ersparnisse im Ausland anlegen müssen. Wir sind so in den letzten Jahren zu einem der größten Gläubiger in der Welt avanciert.

Dies ist keine gute Position in einer Welt, die unter zu hohen Schulden leidet. Alleine in der Finanzkrise haben unsere Banken und Versicherungen rund 400 Milliarden Euro verloren. Genauer gesagt, wir Bürger haben es verloren.

Hätten wir mehr im Inland investiert, wäre nicht nur die Grundlage für künftige Einkommen geschaffen, sondern wir hätten auch unserer Ersparnisse besser verwendet und einen kleineren Handelsüberschuss erzielt. Vermutlich wären wir dann nicht in den Fokus der Kritik von US-Präsident Donald Trump und anderer Stimmen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geraten, die in den Überschüssen ein erhebliches Problem sehen.

Die Lüge von der schwarzen Null 

Nun könnte man meinen, die Rückführung der Staatsverschuldung in den letzten Jahren würde uns genau den Spielraum geben, den wir brauchen. Leider ist das nicht der Fall.

Bei sauberer Berechnung stellen wir nämlich fest, dass die “schwarze Null” eine große Täuschung der Politik ist. Das liegt daran, dass der Staat den Bürgern die laufenden Einnahmen und Ausgaben zeigt, nicht aber die künftigen Verpflichtungen. 

Bilanzierte der Staat wie ein normales Unternehmen, würde sofort deutlich werden, wie groß das Defizit in Wirklichkeit ist. Jedes neue Versprechen für künftige Renten und Pensionen müsste zu Rückstellungen in der Bilanz führen. Mütterrente, Rente mit 63, höhere Pflegeleistungen – alle Versprechen für künftige Leistungen, würden sofort als das sichtbar, was sie sind: zusätzliche Schulden.

So sank beispielsweise die offizielle Verschuldung des deutschen Staates im Jahre 2016. Gleichzeitig stieg die wirkliche Verschuldung Deutschlands um beeindruckende 12 Prozentpunkte vom BIP, rechnet die wirtschaftsliberale Stiftung Marktwirtschaft vor. Der Internationale Währungsfonds hat erst in diesen Tagen vorgerechnet, dass Deutschland bei einer sauberen Analyse zu den ärmsten Staaten der Welt gehört. Fast kein staatliches Vermögen, dafür aber erhebliche verdeckte Verbindlichkeiten. 

Das Bundesfinanzministerium veröffentlicht regelmäßig einen Tragfähigkeitsbericht zu den öffentlichen Finanzen. Er zeigt die finanziellen Folgen der demografischen Entwicklung, also die steigenden Gesundheits-, Pflege- und Rentenkosten bei gleichzeitig sinkender Zahl der Beitragszahler. Es geht demnach um die Gesamtschulden, die die jetzige Generation der kommenden überlässt.

Und die sind erheblich: Je nach Szenario müssten ab sofort 1,2 bis 3,8 Prozent vom BIP zusätzlich gespart werden, um für die künftig ansteigenden Belastungen vorzusorgen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind dies zwischen 36 Milliarden und 115 Milliarden Euro pro Jahr.

Zerfallene Infrastruktur, rückständiges Internet und unzureichendes Bildungswesen

Und was macht die Politik? Genau das Gegenteil.

So hat die (kleine) Große Koalition vereinbart, eine Grundrente für sozial Schwache einzuführen und die Mütterrente aufzustocken. Zudem soll das Rentenniveau bei 48 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens vor Steuern gehalten werden, das – nach bis dato geltender Rechtslage und in Anerkennung der mathematischen Folgen der demografischen Entwicklung – eigentlich bis 2050 auf 43 Prozent sinken sollte.

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat im Frühjahrsgutachten 2018 vorgerechnet, dass dies zu einem Anstieg der Beitragssätze für die Rentenversicherung um 2,5 Prozentpunkte oder entsprechende Steuererhöhungen führt. Schon ohne diese zusätzlichen Versprechen steigt der Beitragssatz von heute 19 auf dann 24 Prozent – und nach den Reformen fast auf 27 Prozent.

In den letzten Jahren wurde eine merkwürdige Politik betrieben. Die Regierungen haben die tatsächliche Verschuldung des Landes deutlich erhöht und gleichzeitig die Grundlagen für die Erzielung künftiger Einnahmen geschwächt.

Mit verfallener Infrastruktur, rückständiger digitaler Infrastruktur und unzureichendem Bildungswesen wird es der alternden Gesellschaft schwerfallen, diese künftigen Verpflichtungen zu erfüllen. Besser wäre es gewesen, genau umgekehrt zu handeln. Die implizite Verschuldung zu senken, zum Beispiel durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, und die explizite Verschuldung zu erhöhen. Damit hätten wir im Inland entsprechend mehr investiert und im Nebeneffekt die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft reduziert und den Handelsüberschuss begrenzt.

Da die Politik erkennt, dass Renten- und Sozialleistungen angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung endgültig unfinanzierbar werden, gibt es einen breiten Konsens auf Migration zu setzen. Vergessen wird dabei, dass Migration nur dann einen wirtschaftlich positiven Effekt hat, wenn die Zuwanderer mindestens so produktiv sind, wie die bereits hier lebende Bevölkerung. Erwerbsbeteiligung und Durchschnittseinkommen müssen also genau so hoch sein. Sind sie es nicht, wird die Migration zum Zusatzgeschäft.

Die Liste der Versäumnisse ist lang

Wie gezeigt, hat die Politik die letzten guten Jahre nicht dazu genutzt, für die Zukunft vorzusorgen, sondern im Gegenteil auf Konsum statt Investition gesetzt. Neben den genannten massiven Versäumnissen nehmen sich die Kosten für die überstürzte Energiewende mit rund 500 Milliarden Euro als Kleinigkeit aus. Schon heute haben wir die höchsten Strompreise Europas.

Auch die Verschleppung der Eurokrise, jetzt wieder akut angesichts der Entwicklungen in Italien wird uns in den kommenden Jahren noch teuer zu stehen kommen. Die Weigerung der deutschen Politik die Probleme von zu hohen Schulden und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit einiger Länder im Euroraum anzugehen, wird sich in Kosten von mindestens 1000 Milliarden niederschlagen, wobei noch offen ist, wie diese Kosten realisiert werden. Über eine Transferunion, Schuldenschnitte oder eine Inflationierung der Währung.

Wirtschaftliches Desaster 

Will man eine Bilanz der Regierungsjahre von Angela Merkel ziehen, so kann man nur zu einem Schluss kommen: Wirtschaftlich waren sie für uns alle ein Desaster. Je nach Berechnung dürften die Kosten der Entscheidungen in ihrer Regentschaft bei 3700 bis 4700 Milliarden Euro liegen.

Die Politiker haben sich selbst und uns mit dem Märchen vom reichen Land getäuscht. Von dem reichen Land, welches sich zeitgleich höhere Renten, eine Energiewende, Migration in das Sozialsystem und die Rolle des finanziellen Garanten von Euro und EU leisten kann. Und zugleich an Investitionen in die eigene Zukunft spart.

→ huffingtonpost.de: “Märchen vom reichen Land: Wie sich Merkels Regierung die Finanzen schön rechnet”, 27. Oktober 2018