Interview zum Märchenbuch mit FOCUS ONLINE

Folgendes Interview führte FOCUS-ONLINE-Redakteur Volker Tietz mit mir:

FOCUS Online: Herr Dr. Stelter, Sie bezeichnen die Deutschen im Vergleich zu den Menschen in anderen europäischen Ländern als arm – das ist schwer zu glauben.

Dr. Daniel Stelter: Wir dürfen nicht Einkommen und Vermögen verwechseln. Unser Einkommen ist recht hoch, angesichts von Vollbeschäftigung und Exportboom geht es uns gefühlt sehr gut. Diese Einnahmen sind aber einer Sonderkonjunktur geschuldet und nicht nachhaltig.

FOCUS Online: Mit Sonderkonjunktur meinen Sie das billige Geld der EZB und den schwachen Euro?

Stelter: Ganz genau. Aber auf der Vermögensseite zeigt eine EZB-Statistik, dass wir zusammen mit den Österreichern und den Slowenen zu den ärmsten Ländern gehören. Die Deutschen haben im Median, das ist der Wert genau in der Mitte, 60.500 Euro privates Vermögen. Die Franzosen und die Italiener zum Beispiel haben je das Doppelte, sie liegen bei 120.000 Euro. Und die Spanier haben noch mehr. Das liegt daran, dass in diesen Ländern der Immobilienbesitz deutlich höher ist als bei uns in Deutschland.

FOCUS Online: Die Politik betont aber die hohen Pensionsansprüche, die mit einfließen müssen und für Wohlstand sorgen.

Stelter: Wenn man da aber reinschaut, zeigen Zahlen des Versicherungskonzerns Allianz und anderer aber, dass die Deutschen auch bei den Rentenansprüchen im unteren Mittelfeld rangieren. Wir haben es demnach mit einem Phänomen zu tun: Als Bürger im Land verdienen wir echt gut, aber die Privathaushalte sind im europäischen Vergleich arm. Und die Rentenansprüche sind auch nur unterdurchschnittlich. Deshalb komme ich zu meiner Aussage: Wir sind gar nicht so reich, wie immer getan wird. Jetzt könnten Sie entgegnen: Dafür ist der Staat ja reich, der zuletzt Schulden abgebaut hat.

FOCUS Online: Das entgegne ich.

Stelter: Aber es stimmt nicht. Laut IWF sieht es für Deutschland nicht gut aus. Eigentlich müsste der Staat ausweisen, was er an Versprechen für die Zukunft abgegeben hat. Er müsste dann Rückstellungen bilden für Renten-, Pensions- oder Gesundheitsleistungen einer alternden Gesellschaft. Und wenn wir uns das im Detail anschauen, stellen wir fest, dass dort noch erhebliche Lasten und Schulden stecken, für die nicht vorgesorgt wurde. Wir sind nicht so reich, wie wir denken und die Politiker gerne behaupten, wenn sie irgendwelche neue Ausgabenprogramme beschließen.

FOCUS Online: Was läuft denn bei uns bei den Renten falsch? Als Paradebeispiel gelten die Niederlande. Dort erhalten die Bürger eine hohe Rente und das System gilt als gesund.

Stelter: Die Holländer haben ein Grundrentensystem, d. h. der Staat zahlt jedem eine Grundrente, der zwischen 15 und 65 in den Niederlanden gelebt hat. Der Rest ist dann aber ein betriebliches Pensionssystem, in das wirklich angespart wird. Bei uns ist die Grundlage für die Rente der sogenannte Generationsvertrag: Die nachfolgenden Generationen finanzieren die Rente für die Alten.

FOCUS Online: Welches Modell ist besser?

Stelter: Beide Modelle sind möglich. Aber in Deutschland müssen wir alles Denkbare tun, um die künftige Generation in die Lage zu versetzen, möglichst viel Wohlstand zu erwirtschaften. Dafür werden genug Kinder benötigt, die sehr gut ausgebildet sind und eine entsprechende Infrastruktur erhalten, um daraus das Bestmögliche zu machen.

FOCUS Online: Infrastruktur ist keine Kernkompetenz in Deutschland.

Stelter: Richtig, es sieht übel aus. Die Autobahnen verfallen zusehends, das Bildungswesen ist ein Desaster und die schulischen Leistungen nehmen immer mehr ab. Wir investieren nicht ausreichend in die Fähigkeiten zukünftiger Generationen, damit diese die Lasten stemmen können. Das niederländische System ist vollkommen richtig, aber jetzt ist es zu spät, um zu switchen. Wir müssen das Richtige aus unserem Umverteilungsrentensystem herausholen.

FOCUS Online: Was wäre das Richtige?

Stelter: Erst einmal anzuerkennen, dass wir nicht so reich sind wie wir denken. Dann die richtigen Prioritäten zu setzen und in Infrastruktur zu investieren. Wir benötigen auch eine andere Art der Zuwanderung, die nicht die Sozialsysteme belastet, sondern produktiv ist.

FOCUS Online: Was muss bei der Zuwanderung passieren, damit wir uns nicht überfordern?

Stelter: Es gab 2014 eine Bertelsmann-Studie über Migration. Die Headline war: ‚Migration ist gut‘. In der Studie lesen Sie aber, dass die Zuwanderung bis 2014 ein Verlustgeschäft war. Weil die Zuwanderer im Schnitt weniger produktiv waren, haben sie eine geringere Erwerbsbeteiligung und verdienen weniger als die, die schon länger hier wohnen. Die Kernaussage der Studie war: Die Gastarbeiterzuwanderung kann sich Deutschland in Zukunft nicht mehr leisten.

FOCUS Online: Deutliche Worte.

Stelter: Deutschland muss gezielt auf die Zuwanderung von gut ausgebildeten und qualifizierten Menschen achten. Wir müssen den Standort Deutschland so attraktiv machen, dass möglichst viele hochqualifizierte Menschen kommen und sagen, ich möchte meinen Beitrag leisten. Und das gilt 2019 noch mehr als 2014.

FOCUS Online: Das ist die Einnahmenseite. Vermutlich wollen Sie auch die Ausgaben reduzieren.

Stelter: Ja, wir müssen die Abgabenlast senken und uns aber auch eingestehen, dass die Leistungsversprechen unfinanzierbar sind. Wir müssen zu einem System kommen, in dem die Menschen länger arbeiten. Wir müssen konsequent auf Roboter und Automatisierung setzen, anstatt davor Angst zu haben. Die Produktivität muss steigen, damit der Kuchen, der nachher verteilt wird, größer wird.

FOCUS Online: Und wenn der Kuchen groß genug ist?

Stelter: Dann muss er sinnvoll verteilt werden, also das Geld muss gezielt eingesetzt werden.

FOCUS Online: Nennen Sie doch ein Beispiel.

Stelter: Der Kohlekompromiss. Der Ausstieg aus Kohle kostet 40 Milliarden, andere sagen bis zu 80 Milliarden Euro. Ich will hier nicht auf die Umweltdiskussion eingehen, aber es handelt sich hier um Konsum. Wir vernichten vorhandene Infrastruktur und müssen diese irgendwie ersetzen. Aber danach geht es Deutschland nicht besser als zuvor, auch wenn wir weniger CO2-Ausstoß haben.

FOCUS Online: Ein wichtiger Aspekt.

Stelter: Das ist ein wichtiges Thema, klar. Aber noch einmal zur Finanzierung: Die „heute-show“ kennen Sie ja auch.

FOCUS Online: Sicher.

Stelter: Dort wurde plakativ vorgerechnet: Im Kohlesektor arbeiten 20.000 Leute. Wenn wir jedem eine Million geben, kostet das 20 Milliarden Euro. Da frage ich mich ganz ehrlich: Wäre es nicht sinnvoller, jedem diese Million zu geben? Dann wäre das Thema erledigt.

FOCUS Online: Zusammengefasst heißt es, dass der Staat zu viel auf einmal will?

Stelter: Wir können nicht alles gleichzeitig machen: Energiewende, Rentenzusagen erhöhen usw. – wer soll das bezahlen? Wir müssen zuerst daran denken, den Kuchen größer zu machen, bevor wir ihn verteilen. Und das ist das Problem. Seit über zehn Jahren verfolgen wir in Deutschland die Politik des Kuchenverteilens. Das führt aber dazu, dass der Kuchen kleiner wird, denn wir sind nicht auf die Zukunft ausgerichtet. Und gleichzeitig laufen wir mit stolzgeschwellter Brust durch die Gegend und sagen, wir müssen allen helfen. Wenn ich an die Eurozonen-Diskussionen denke und wenn ich höre, wir sind der Haupt-Profiteur und müssen solidarisch sein, dann sage ich ganz ehrlich: Warum müssen Privathaushalte in Deutschland, die halb so reich sind wie die Italiener, die italienische Banken retten.

FOCUS Online: Weil wir den Euro brauchen, der unsere Existenz sichert?

Stelter: Das ist ein Irrglaube. Sehen Sie allein die Exporte außerhalb der Eurozone, die in den letzten zehn Jahren deutlich schneller gewachsen sind als innerhalb. Eigentlich brauchen wir die Eurozone nicht zum Exportieren. Der Euro ist ein Subventionsprogramm der Industrie und sichert ihr die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums.

FOCUS Online: Noch einmal zurück zur Rente: Sind die Zusagen nicht auch nötig, weil die Altersarmut ansteigt? Die Schere zwischen arm und reich geht doch immer weiter auseinander.

Stelter: Die Zunahme der Armut in den letzten zehn Jahren lässt sich ganz einfach erklären durch den höheren Anteil an Migranten – das ist durch einen einfachen Dreisatz zu ermitteln. Nehmen wir die Türkei: Dort liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf bei etwa 10.000 US-Dollar. Wenn sie aus so einem Land nach Deutschland kommen und Hartz-IV-Bezieher mit einer hervorragenden Gesundheitsversorgung sind, ist der Lebensstandard dank guter Sozialleistungen gesichert. Dann kann man die Frage aufwerfen, ob sich dieser Migrant wirklich arm fühlt.

FOCUS Online: Eher nicht.

Stelter: Denke ich auch nicht, aber bei uns wird er als arm definiert. Das führt zu einem Anstieg der Armut. Aber das ist nicht der Kern des Problems.

FOCUS Online: Sondern?

Stelter: Der Staat greift Menschen mit normalen Einkommen brutal in die Tasche, was Steuern und Abgaben betrifft. Wir haben die zweithöchsten Abgaben laut OECD nach Belgien. Diese Leute sind gefrustet, weil sie alles finanzieren müssen und aus eigenem Einkommen eigentlich kein Vermögen bilden können. Der Staat nimmt ihnen alles weg.

FOCUS Online: Und was passiert mit den ganzen Einnahmen?

Stelter: Die werden ausgegeben, aber nur in einem geringen Umfang in die Zukunft investiert.

FOCUS Online: Was heißt das in Zahlen?

Stelter: Die Regierung hat seit 2008 in Summe 280 Milliarden zusätzlich ausgegeben. Dazu kommen 136 Milliarden Zinsersparnis und 46 Milliarden Euro, die für Arbeitslosigkeit oder Hartz IV weniger ausgegeben wurden. Das macht seit 2008 eine freie Verfügungsmasse von 460 Milliarden Euro, aber nur 50 Milliarden davon wurden in die Zukunft investiert. Viel zu wenig, um den Rückstau aufzuholen.

FOCUS Online: Und wohin flossen die Gelder sonst?

Stelter: Zum Beispiel je 100 Milliarden Euro zusätzlich in Rente und Krankenversicherung. Über 100 Milliarden in den Posten Sonstiges – dahinter stecken die Kosten der Energiewende oder Migration. Und für die Bundeswehr noch einmal 4,5 Milliarden – kein Wunder, dass nichts schwimmt und fliegt.

FOCUS Online: 200 Milliarden für Rente und Krankenversicherung ist immens viel Geld.

Stelter: Das ist keine Wohlstandssicherung, sondern plumpes Wählerkaufen. Auf jedes Problem reagiert die Regierung mit Geld ausgeben: Um Migranten aufzuhalten, gibt es Geld für die Türkei. Nach einem Atomunfall in Japan schalten wir quasi unkontrolliert den Atomstrom ab. Das kauft politischen Frieden, aber es trägt nichts dazu bei, den zukünftigen Wohlstand zu sichern. Und der Wähler wird für dumm verkauft.

FOCUS Online: Inwiefern?

Stelter: Nehmen wir ein weiteres Beispiel, die Griechenland-Rettung. Es wir doch allen Ernstes erzählt, Deutschland verdient daran. Dabei überweist die Bundesbank den Zinsgewinn wieder an Griechenland. Zudem verleugnen die Politiker den Zeitwert des Geldes. Wir beide wissen, dass ein Euro, den ich heute in der Tasche habe, wertvoller ist als der, den ich in zehn oder 30 Jahren bekomme. Die Politiker tun aber so, als wäre alles gut, weil wir ja in 30 Jahren alles wiederbekommen. Griechenland hat aber durch das Aufschieben der Zahlungsziele, wenn man sie nach Marktwerten betrachten würde, viel geringere Schulden. Dann ist auch der Marktwert der Forderungen auch geringer. Ganz banal. Was hier passiert, ist Volksverdummung.

FOCUS Online: Was muss sich ändern?

Stelter: Wir brauchen eine Bevölkerung, die sich für Wirtschaft interessiert. Dann fällt auch auf, wenn die Politiker im Fernsehen immer sagen: Ein reiches Land wie Deutschland sollte doch… nun können Sie ankreuzen, welche Antwort kommt: mehr für Migranten, mehr für Familien, mehr für Rentner tun, Respektrente zahlen, mehr für Kindergärten usw.

FOCUS Online: Alles zusammen ist nicht finanzierbar.

Stelter: Das ist genau das Problem: Finanzminister Scholz entdeckt ein Loch im Haushalt und wo kürzt er? Bei Investitionen und Zuschüssen für die digitale Ausstattung bei den Schulen. Na super! Wir sollten zurückgehen zur Kreidetafel und gar nicht in die künftige Generation investieren. Hauptsache, wir können heute Rentner, welche die größte Wählergruppe sind, für ein paar Jahre ruhigstellen. Das ist Wahnsinn.

FOCUS Online: Die Grundrente ist auch so ein Projekt, das auf Wählerfang geht.

Stelter: Was ist das Ziel des Politikers? Er möchte gewählt werden. Und für seine Partei möchte er möglichst viele Stimmen gewinnen. Er muss daher schauen, was beim Volk gut ankommt. Und nach den jüngsten Umfragen sieht der überwiegende Teil der Deutschen die Respektrente positiv, die SPD nähert sich sogar wieder der Marke von 20 Prozent. Aus Sicht des Politikers nachvollziehbar: Er möchte überleben, einen guten Job haben, ein sechsstelliges Gehalt, einen Dienstwagen und eine sichere Pension.

FOCUS Online: Klingt alles logisch.

Stelter: Und es geht auch so weiter, denn: Bürger, die so lange gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt haben, verdienen eine Respektrente, da stimme ich grundsätzlich zu. Und sollten wir mehr für Familien tun? Natürlich! Das ist alles richtig und steigert auch die Beliebtheit, aber in Summe übernehmen wir uns, weil uns das Geld fehlt, in die Zukunft zu investieren. Aber den Politikern geht es um den persönlichen Machterhalt – menschlich verständlich, aber für Deutschland schlecht.

FOCUS Online: Welche Vorschläge haben Sie denn, wie man es besser machen könnte?

Stelter: In meinem Buch ‚Das Märchen vom reichen Land: Wie die Politik uns ruiniert‘ habe ich die Möglichkeiten beschrieben, wie man es besser machen kann. Da ist für jeden etwas dabei. Die Linkspartei wird begrüßen, dass ich die Vermögenssteuer nicht ausschließe und auch die Erbschaftssteuer ohne Ausnahme erweitere. Was sie nicht mögen: Ich würde die Einkommenssteuer, also die Abgaben, senken. Auch das Rentenalter würde ich hochsetzen, die Zuwanderung begrenzen und steuern, das würden dann andere Parteien mögen. Das Programm, das Deutschland braucht, ist ein Programm, das keine Partei haben will.