Interview: „Italien ist ein reiches Land. Warum sollten wir dafür zahlen?“

Folgendes Interview mit mir erschien bei der WirtschaftsWoche Online:

Die EU hat Italiens Haushaltsentwurf abgelehnt. Unternehmensberater und Kolumnist Daniel Stelter glaubt dennoch, dass sich Italien durchsetzen kann – und sieht für Anleger hochriskante Zeiten heraufziehen.

Herr Stelter, Italiens Neuverschuldung ist der Zankapfel der Eurozone, das Land hat mit 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine doppelt so hohe Schuldenquote wie Deutschland. Wohlhabende Italiener transferieren ihr Geldvermögen bereits in die Schweiz. Was braut sich da zusammen?

Die Kapitalflucht in Italien findet weniger wegen der hohen Staatsverschuldung und der neuen Schulden im Haushaltsentwurf statt, sondern vor allem aus steuerlichen Sorgen und Angst vor Vermögensabgaben, die die Regierung verhängen könnte. Was wir in Italien beobachten, kann nur jene überraschen, die dachten, die Eurokrise wäre überwunden. Wir haben es mit einem fundamentalen Problem zu tun: Italien hat sich von der Finanzkrise nie erholt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Verständlich, dass die Bevölkerung da unzufrieden ist.

Ginge es Italien ohne den Euro besser?

Das liegt nicht nur am Euro, sondern auch an strukturellen Problemen im Land, an der demografischen Entwicklung, et cetera. Der Euro hat es nur nicht gerade leichter gemacht für Italien. Im Gegensatz zu Belgien hat der italienische Staat auch nicht den Zinssenkungseffekt zur Entschuldung genutzt. Der Euro hat – so wie es eine IWF-Studie auch schildert – nicht zu einer Konvergenz in der Eurozone geführt, sondern zu mehr Divergenz. Das ist in der Finanzkrise ab 2009 deutlich hervorgetreten. In den südlichen Ländern waren die Produktivitätszuwächse geringer, die Wachstumsraten sanken, die Innovationskraft ließ nach. Alles, was man sich vom Euro erträumt hat, ist nicht eingetreten. Die Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank (EZB) hat das im Grunde nur kaschiert. Die EZB kann aber keine Wettbewerbsfähigkeit herstellen, sondern nur Zeit kaufen. Die haben die Italiener nicht genutzt.

Sie hätten es schon gekonnt. Aber unter der Regierung Berlusconi gab es auch keine Reformen, da wurde nur so durchgewurschtelt. Ein Beispiel: Die Erbschaftssteuer in Italien ist viel niedriger als etwa bei uns. Dort ist der Freibetrag mit einer Million Euro doppelt so hoch und der Steuersatz für Erben mit nur vier bis zehn Prozent signifikant unter dem Niveau in Deutschland. Außerdem liegt das Median-Vermögen der italienischen Haushalte bei 240.000 Euro, in Deutschland sind es hingegen 66.000 Euro. Eigentlich könnte die Regierung in Rom das Staatsschuldenproblem ohne Weiteres über Vermögensabgaben und Steuern lösen. Aber das machen sie halt nicht.

Italien geht also eigentlich gut?

Die Privathaushalte in Italien sind gering verschuldet und sehr vermögend. Es ist ein reiches Land, nur der Staat hat nicht viel Geld. Das ist schon lange in der Kultur verankert. Der Staat setzt zudem seine Steuerforderungen nicht durch, es gab in Italien schon viele Steueramnestien für Steuerhinterzieher. Mit sagte mal ein italienischer Konzernchef, „Mit Vermögensabgaben kriegt ihr mich nicht, mein Geld ist in der Schweiz.“ Das ist dort weit verbreitet. Stattdessen hofft man in Rom auf europäische Solidarität oder darauf, dass die EZB die Anleiheschulden annulliert. Aus dortiger Sicht ist das die richtige Logik: In Italien besteuerte man die Wohlhabenden vor dem Euro über die Inflation, so funktionierte das da. Wenn der politische Wille da ist, sind aber Vermögensabgaben – zum Beispiel auf Immobilien – ohne Weiteres möglich. Das wirft ein Schlaglicht auf Europa, wo man versucht, mit einer gemeinsamen Währung Volkswirtschaften zusammenzupacken, die strukturell und in ihrer Art, wie sie gemanagt werden, nicht zueinanderpassen. Aber man kann Italiens Regierung keinen Vorwurf daraus machen, dass sie versucht, die Privathaushalte zu schonen. Als italienischer Politiker würde ich genauso handeln. So gewinne ich doch Stimmen und Popularität, und wenn die EU am Ende dafür zahlt, umso besser.

Italiens Schulden sind also gar kein Problem?

Italien als Land ist nicht pleite, nur der Staat hat Probleme. Es gibt eine Studie der Stiftung Marktwirtschaft, die statt der offiziellen die echte Staatsverschuldung unter Berücksichtigung von Pensionsverpflichtungen, Rentensystemen, Gesundheitsausgaben und Ähnlichem analysiert hat. So gerechnet hat Italien weniger Staatsschulden als Deutschland. Das liegt an Reformen der Vergangenheit, etwa der Kürzung der Altersvorsorge. Das möchte die jetzige Regierung zurückdrehen. Das Defizit steigt dann doppelt: durch höhere Leistungszusagen und höhere verdeckte Lasten für die Zukunft. Aber letztlich hat ja auch die deutsche Regierung solche Geschenke an die Rentner gemacht. Wer sind wir also, dass wir diese Form des Stimmenfangs kritisieren?

Aber sie missachten die Maastricht-Kriterien für die Eurostaaten.

Ich möchte vorausschicken: Die Italiener haben natürlich recht, wenn sie sich darüber beschweren, dass Frankreich jedes Jahr die Maastricht-Kriterien verletzen darf – eben, weil es Frankreich ist -, aber bei ihnen ein Aufstand gemacht wird. Außerdem haben die Italiener recht mit der Idee, dass sie das Wachstum fördern müssen, wenn sie die Staatsschuldenquote irgendwann mal in den Griff bekommen wollen. Ansonsten bleiben nur Zahlungsstopp und Vermögensabgaben. Mit staatlicher Nachfrage die Konjunktur zu beleben, ist völlig legitim. Die Kritik am Regierungsprogramm ist aber, dass es nur ein Strohfeuer entfacht, weil es lediglich den Konsum belebt, aber keine strukturellen Verbesserungen bringt. Vielmehr müssen sie jetzt strukturelle Probleme angehen, etwa durch eine Lockerung beim Kündigungsschutz zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Durch die Kombination aus Stimulus und Reform würde ein besseres Umfeld geschaffen. Dann würde ich sogar sagen, das Paket ist gut, gebt noch mehr Geld aus. Aber so bleibt es nur beim Stimulus und am Ende steigt die Schuldenquote.

Wenn die Schulden weiter steigen, kann die EZB die Zinsen nicht einfach erhöhen, ohne die Staatshaushalte stärker zu belasten.

Erst mal sind hohe Schulden nicht per se schlimm, siehe Japan. Damit lässt sich grundsätzlich leben. Aber in Europa führen hohe Schulden eines Landes irgendwann zu einer Umverteilung der Schulden und Vermögen auf andere Mitgliedstaaten. Einige sagen ja, Deutschland sei Hauptprofiteur der Finanzkrise und müsste Italien helfen. Aber was nützen die höheren deutschen Exporte, wenn wir im Gegenzug Zinsen senken, Darlehen geben im Rahmen von Target oder über eine Transferunion Schulden umverteilen. Dann könnten wir unsere Exporte auch verschenken! Das ist absurd. Was mich an der Argumentation besonders nervt: Warum sollten wir dafür bezahlen, wenn wir doch die ärmeren Privathaushalte haben? Wir schwafeln immer vom reichen Land, aber in Wirklichkeit sind wir viel ärmer als Italien, wenn man die verdeckten Verbindlichkeiten berücksichtigt.

Gelten wir nicht zu Recht als reicher Exportweltmeister?

Wir haben zwar die höchsten Außenhandelsüberschüsse, legen das Geld aber schlecht an. Wir haben auch keinen Staatsfonds wie Norwegen, die Schweiz oder Singapur. Unsere Notenbank kauft auch keine vernünftigen Vermögenswerte wie die Schweizer Nationalbank, die etwa Apple-Aktien kauft. Die Italiener aber wissen, dass wenn sie aus dem Euro austreten, es erhebliche negative Effekte für alle Eurostaaten gäbe. Für Italien ist es also optimal, uns zu erpressen. Und die Chancen auf Erfolg stehen für das Land gut. Am Ende wird es einen Formelkompromiss geben, den wieder nur die Ökonomen verstehen. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst, sondern werden weiter verschleppt. Damit unterminieren wir unseren Wohlstand massiv, und das ohne richtige Gegenleistung.
Wir sind also schon längst in einer Transferunion für Staatsschulden?

Im Grunde sind in Brüssel alle froh, dass die EZB über die Hintertür die Sozialisierung in Europa über billige Zinsen oder den Aufkauf der Wertpapiere herbeiführt. Und logischerweise wird die EZB den Euro immer erhalten wollen und daher zu Maßnahmen greifen, die erst hinterher von Gerichten für legal erklärt werden. So gesehen halten sich die Italiener mit ihrem Defizit im Grunde sogar zurück, die könnten noch viel höhere Schulden planen. Ich glaube deshalb, dass die EZB wie Japan in immer größeren Stil Staatsanleihen und Wertpapiere aufkaufen wird, bevor es zum Schuldenschnitt oder dem Erlass von Target-Schulden kommt. Davon werden die Krisenländer natürlich überproportional profitieren, unser Anteil wird da eher schrumpfen. Damit wäre der Euro nur trotzdem noch nicht gerettet, weil Gelddrucken allein noch keine Produktivität schafft. Das dient nur der Illusion, dass die Schulden noch bedienbar sind.

Die Spannungen in Europa werden zunehmen, weil das grundlegende Versprechen der EU, dass wir alle unseren Wohlstand mehren, nicht erfüllbar ist. Italien ist nur der Anfang. Lösen lässt sich das theoretisch nur durch einen Schuldenerlass – zum Beispiel über Abschreibungen in der EZB-Bilanz – in Kombination mit einer verkleinerten Eurozone. Das wäre rational. Aber es ist politisch nicht mehr darstellbar, dafür gibt es mit Salvini und anderen Staatschefs keine Mehrheit. Auch wird keiner zugeben, dass der Euro ein Konstrukt ist, dem die ökonomischen Grundlagen fehlen und Probleme verschleppt wurden. Also setzen alle auf das Prinzip Hoffnung bis zum Ende ihrer Amtszeit. Insbesondere solange die Bevölkerung weiter zum Euro steht, wird der Euro nicht fallen gelassen.

Ziehen für Anleger also wieder dunklere Wolken herauf? Etwa durch einen Schuldenerlass für Italien?

Die meisten italienischen Staatsanleihen gehören den Italienern, die würden dann massiv verlieren. Rom will deshalb keinen direkten Schuldenerlass, sondern – darauf wird es hinauslaufen – lieber mit irgendwelchen Buchhaltungstricks seine Schulden auf die EZB verschieben. Dort können sie bis in alle Ewigkeit bleiben. Schon die Spanier haben ihre Banken mit einer EZB-finanzierten Bad Bank gerettet. Die Iren haben sich mit Staatsanleihen refinanziert, die komplett von der irischen Notenbank mit frischem EZB-Geld gekauft wurden. Zudem sind das ewige Anleihen, die nie fällig werden, damit war das Problem gelöst. Warum also soll Italien das nicht dürfen? Wir müssen uns allerdings fragen, warum sich die Deutschen dann mit der schwarzen Null kasteien? Wir haben kaputte Brücken und müssten dringend in Bildung investieren. Deshalb bin ich der Meinung, wir sollten auch Schulden machen, um unseren Anteil zu bekommen. Das könnte natürlich auch den Wert des Euro drücken, aber dann zahlen über die Geldentwertung alle Euro-Staaten den Preis dafür.

Sollten Anleger dann nicht auch Schulden machen?

Erstens: Sparer und Anleger sollten natürlich ihr Geld international diversifiziert anlegen und nicht nur in Europa oder gar nur Deutschland. Das ist ganz entscheidend. Zweitens wissen wir nicht, welchen Abgaben uns noch drohen. Es gibt auf der Welt meines Erachtens keinen sicheren Platz. Sparen in Geldvermögen ist jedenfalls eine ziemlich dumme Idee, insbesondere heute. Also sollte man in Aktien, Unternehmensbeteiligungen sowie Immobilien investiert sein, und nicht in Anleihen und Geld. Schulden machen wäre aber nur dann richtig, wenn sicher wäre, dass morgen eine hohe Inflation – ich meine deutlich mehr als fünf Prozent – kommen würde. Kommen aber eher neue Steuern und Abgaben, kann einem eine zu hohe Verschuldung auch das Genick brechen. Wenn Schulden, dann nur im moderaten Rahmen. Ansonsten ist Gold immer eine Versicherung, um großen Wertverlusten vorzubeugen. Gerade jetzt, denn ich sehe für Anleger hochriskante Zeiten heraufziehen.

→ wiwo.de: “„Italien ist ein reiches Land. Warum sollten wir dafür zahlen?“”, 24. Oktober 2018