In der Sackgasse: Inflation ist das kleinere Übel

Die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist umstritten. Kritiker fordern angesichts der Inflationsraten ein Ende der Wertpapierkaufprogramme und Zinserhöhungen. Nur so ließe sich eine sich selbst verstärkende Spirale steigender Preise verhindern. Andere verweisen auf geopolitischen Spannungen und Sondereffekte nach dem Corona-Schock. Die EZB könne nichts für Gaspreise und Lieferengpässe.

Angesichts der schwachen wirtschaftlichen Erholung, abzulesen am Wirtschaftswachstum der Eurozone von nur 0,3 Prozent im letzten Quartal 2021, hätte die EZB in normalen Zeiten tatsächlich keinen Grund, auf die Bremse zu steigen.

Das Problem: Wir befinden uns schon seit über zehn Jahren nicht mehr in normalen Zeiten. Noch aggressiver als die US-Notenbank Fed hat die EZB ihre Bilanzsumme durch milliardenschwere Wertpapierkäufe seit 2010 relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 60 Prozent verdreifacht. Vordergründig zur Bekämpfung von Deflation gedacht, dienten diese Käufe der Stabilisierung der Eurozone durch Verhinderung eines Zinsanstiegs für hochverschuldete Staaten.

Die Verschuldung erreicht immer neue Höchststände, zuletzt 355 Prozent des BIP auf globaler Ebene. Über 40 Prozent des weltweiten Vermögenszuwachses seit dem Jahr 2000 gehen laut Unternehmensberatung McKinsey auf die gesunkenen Zinsen zurück. Die Bank of America schätzt, dass mehr als 50 Prozent des Kursanstiegs der US-Börsen seit dem Jahr 2010 der Fed zu verdanken ist.

Alles hängt daran, dass Geld billig bleibt. Die Zeitschrift “Economist” schätzt, dass ein Zinsanstieg von zwei Prozent die Zinsbelastung um 50 Prozent erhöhen würde, auf 18 Prozent des Welt-BIP. Unvorstellbar, dass dies ohne eine massive Schuldenkrise, einen Kollaps an den Vermögensmärkten und eine tiefe Rezession vonstattengehen würde.

Notenbanken stecken in einer Sackgasse

Kein Wunder, dass die Notenbanken alles darangesetzt haben, den Inflationsanstieg als „vorrübergehend“ einzustufen. Sie stecken in der Sackgasse: Reagieren sie nicht auf die steigende Inflation, wird es ihnen ergehen wie in den 1970er-Jahren, als eine „vorrübergehende“ Inflation dauerhaft wurde. Reagieren sie, drohen sie die Welt in die Krise zu stürzen.

Wie geht es nun weiter? Die US-Notenbank versucht mit kleinen Schritten, die Inflation doch noch unter Kontrolle zu bringen, die EZB setzt darauf, dass allein Worte genügen. Hoffen wir, dass die Gratwanderung gelingt.

Perspektivisch ist klar, wohin die Reise geht. Einflussfaktoren wie Globalisierung und Demografie, die in der Vergangenheit deflationär gewirkt haben, kehren sich um. Hinzu kommen strukturell steigende Preise im Zuge der Dekarbonisierung.

Gepaart mit der geschaffenen Liquidität und fehlender Wehrhaftigkeit der Notenbanken, dürfte die Inflation zum chronischen Problem werden. In Anbetracht der Folgen deutlicher Zinserhöhungen muss man das sogar begrüßen.

handelsblatt.com: “Geldpolitik: Inflation ist das kleinere Übel”, 11. Februar 2022