In der Bi­lanz der Euro­päischen Zentral­bank steckt ein Spreng­satz

Alle Jahre kommt es im US-Kongress zu einem Theater um die Erhöhung der staatlichen Verschuldungsgrenze, ohne dass dieses den Anstieg der US-Staatsverschuldung bremsen würde. Könnte die Regierung da nicht einfach zur Vermeidung des Dramas eine Münze im Nennwert von einer Billion Dollar prägen und diese dann an die Notenbank verkaufen?

Rechtlich spricht nach Auffassung führender Juristen nichts dagegen, denn die Regierung hat das Recht, Münzen in Umlauf zu bringen. Für Nobelpreisträger Paul Krugman kann das Finanzministerium so die Schuldenobergrenze umgehen, „ohne irgendeinen wirtschaftlichen Schaden anzurichten“.

Der Gedanke ist nicht weit von der Forderung von europäischen Ökonomen wie Thomas Piketty entfernt, die Europäische Zentralbank (EZB) solle die Staatsschulden aus ihren Büchern streichen: „Diese Schulden schulden wir uns quasi selbst“, schreiben Piketty und seine Mitstreiter.

Die EZB beträfe dieser Schritt nur auf dem Papier, was aber keine realwirtschaftliche Bedeutung habe. Da Notenbanken das von ihnen ausgegebene Geld selbst schaffen, könnten sie nicht illiquide werden, so die Logik, und deshalb spiele es keine Rolle, wie werthaltig die Vermögenswerte auf der Aktivseite der Bilanz sind.

Ein fataler Irrtum. Wenn eine Zentralbank zu viele riskante und wertlose Aktiva in ihre Bilanz aufgenommen hat, verliert sie die Fähigkeit, die von ihr ausgegebene Geldmenge wieder vom Markt einzuziehen. Bezweifeln die Finanzmärkte die Werthaltigkeit der Vermögenswerte, kommt es zur Spekulation gegen die Währung.

Aktiva besichern Geldmengen der Zentralbanken

Die inländische Währung wird verkauft, als solide wahrgenommene Währungen gekauft. Der Auftakt zur Inflation.

Wie bedeutsam die Qualität der Vermögenswerte in der Notenbankbilanz für den Geldwert ist, zeigt der an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main lehrende Ökonom Ingo Sauer in einer ökonometrischen und historischen Untersuchung von Hochinflationszeiten unter dem Titel: „The Lessons from 1923 for the Euro Area“. Danach waren es die – im Vergleich zur zirkulierenden Geldmenge – unzureichenden Vermögenswerte der Reichsbank, welche zur Angreifbarkeit der Reichsbank auf den Währungsmärkten, zur permanenten Abwertung der Mark und letztlich zur Hyperinflation führten.

Wenn Sauer recht hat, sind die Aktiva der Zentralbanken für die Stabilität und Werthaltigkeit einer Währung genauso wichtig wie die Geldmenge, da Aktiva ebendiese Geldmenge besichern. Weiterhin zeigt er, dass es aus verschiedenen, sich selbst verstärkenden Prozessen heraus und durch politische Eigendynamiken äußerst schwer ist, aus einer Inflation, die letztlich auf Bilanzproblemen der Zentralbank gründet, wieder herauszukommen und die aufwendige Rekapitalisierung der Notenbank politisch durchzusetzen.

Wie weit sich die Aktiva im Wert verschlechtern können, bevor es zur Inflationsspirale kommt, lässt sich im Vorhinein schwer bestimmen. Sauer sorgt sich angesichts der stark aufgeblähten Bilanzsumme der EZB zunehmend um die Qualität ihrer Vermögenswerte. Zunächst wurden im Zuge der Euro-Krise zweitklassige Sicherheiten der Geschäftsbanken akzeptiert. Dann kam es zu langfristiger Kreditvergabe durch die EZB und dem massiven Ankauf von Staatsanleihen. Zuletzt wurden dabei Schuldner mit schlechterer Bonität wie Griechenland, Spanien und Italien offen bevorzugt.

Ist die Solvenz der Zentralbank für die Währungs- und Preisstabilität entscheidend, dann sind nicht nur Billionen-Dollar-Münzen und Staatsschuldenstreichungen gefährlich, sondern auch eine anhaltende Bilanzverschlechterung der EZB. Käme es zu einem Zerfall des Euros oder auch nur zum Austritt Italiens aus der Gemeinschaftswährung, würde die Bundesbank über Nacht Hunderte Milliarden an Forderungen verlieren und müsste vom Staat rekapitalisiert werden.

Die Regierungen der Euro-Zone müssen aufhören, die Probleme der Währungsunion an die EZB zu delegieren, und eine grundlegende Reform anpacken. Die Bilanz der EZB ist zu wichtig, um sie weiterhin zum Endlager für zweifelhafte Vermögenswerte zu machen.

→ handelsblatt.com: “In der Bilanz der Europäischen Zentralbank steckt ein Sprengsatz“, 05. Februar 2023