Hubertus Heil ist nicht der ein­zige Jünger von Charles Ponzi

Dieser Kommentar von mir erschien im Februar 2019 bei manager magazin. Angesichts des Aufschreis über das Gutachten zur Rente im Auftrag des Wirtschaftsministeriums dachte ich mir, es lohnt, ihn zu wiederholen. Davor nur kurz die Einordnung des Gutachtens, auch Thema im Podcast vom 13. Juni 2021:

Das Beratergremium beim Wirtschaftsministerium hat vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter an die allgemeine Lebenserwartung zu koppeln. Bis etwa 2042 würde es auf 68 Jahre steigen. Damit würde die steigende Lebenserwartung im Verhältnis von etwa zwei zu eins zwischen längerem Arbeiten und längerer Rente aufgeteilt. Steuert die Politik nicht gegen, dürfte der Bundeszuschuss in die Rentenkasse von jetzt rund 25 Prozent des Bundeshaushalts (100 Milliarden Euro) auf 55 Prozent steigen. Drastische Steuererhöhungen und Einsparungen in anderen Bereichen – vor allem erneut für  wichtige Zukunftsinvestitionen – wären die zwangsläufigen Folgen.

Die Reaktion der Politik entsprach dem schon angesprochenen Prinzip des Gelesen-gelacht-gelocht, passt es doch so gar nicht in Wahlkampfzeiten. Kein Gewinner-Thema: längere Lebensarbeitszeit, tiefere Renten, höhere Beiträge und Steuern. Es gibt keine Geschenke zu verteilen. Kein Wunder, dass unser „Klima- und Wirtschafts-Garantie-Minister“ Peter Altmaier sofort betonte, es seien unabhängige Berater, „deren Meinung er sich nicht zu Eigen mache“.

Und der Vertreter der Partei, die in den letzten Jahren maßgeblich die Kassen der Rentenversicherung geplündert hat? Natürlich lehnt SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ein höheres gesetzliches Renteneintrittsalter über 67 Jahre ab. “Ich stehe dafür, dass wir keine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, des gesetzlichen, diskutieren”, sagte der Bundesfinanzminister auf dem SPD-Wirtschaftsforum. Er sprach von einem Horrorszenario, das dazu dienen solle, “Rentenkürzungen durchzusetzen, für die es in dieser Zeit keinen Anlass gibt”.

Dabei rechnen die Wissenschaftler vor, dass die Regierung mit zahlreichen Maßnahmen der Rentenkasse zusätzliche Lasten aufgebürdet habe – etwa mit den Haltelinien beim Rentenniveau und beim Beitragssatz sowie mit zusätzlichen Leistungen wie Mütter- und Grundrente wie auch der Rente mit 63. Der Rentenkasse drohe daher ein Finanzierungsschock. Scholz wies dies zurück. “Das ist nicht nur falsch gerechnet. Das ist auch unsozial, was dort vorgeschlagen wird”, sagte der Minister. “Ich freue mich auf eine Debatte mit echten Experten.”

Debatte mit „echten Experten“, da haben wir das Grundproblem. „Echte Experten“ sind also nur jene, die das schreiben, was die Regierung wünscht. Denn es stimmt, was kritisiert wird an der Politik der letzten Jahre. Ständig wurde an der Rentenformel herumgebastelt:

  • 2016 wurde diedoppelte Haltelinie eingeführt. Demnach darf das Rentenniveau – also die Rente in Bezug zum Lohn nach 45 Beitragsjahren – nicht unter 48 Prozent sinken. Und der Beitrag von derzeit 18,6 Prozent darf maximal auf 20 Prozent steigen. Klingt gut, hat aber zur Folge, dass damit der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor außer Kraft gesetzt wurde. Dieser dämpft die Rentenanpassung, wenn sich das Verhältnis zwischen Leistungsbeziehern und Beitragszahlern verschlechtert und war 2005 eingeführt worden, um die demografischen Lasten zu gleichen Teilen auf Rentner und Beitragszahler zu verteilen. Durch die Aussetzung des Faktors tragen nun nur noch die Jüngeren die Last der Alterung. Klartext: Die Beiträge oder Steuerzuschüsse müssen mehr steigen.
  • Als 2020 Corona die Löhne sinken ließ, griff zudem eine „Rentengarantie“. Diese in der Finanzkrise eingeführte Sonderregel sorgt dafür, dass auch bei einem Lohnrückgang die Rente nicht gekürzt wird, sondern nur eine Nullrunde erfolgt.
  • Ein „Nachholfaktor“ sollte ursprünglich sicherstellen, dass die entgangenen Einsparungen dafür in den Folgejahren nachgeholt werden. Doch die Große Koalition hat diese Ausgleichsmaßnahme kurzerhand abgeschafft. Sollten die Löhne in diesem oder im kommenden Jahr wieder deutlich steigen, profitieren die Senioren deshalb im Folgejahr ohne Abstriche.
  • Das bedeutet, die Große Koalition hat durchgesetzt, dass die Renten nur noch in guten Jahren an die Lohnentwicklung gekoppelt sind, in schlechten Zeiten aber nicht mehr. In der Krise steigt deshalb das Rentenniveau – und zwar umso stärker, je tiefer die Gehälter in der Pandemie sinken.

Hinzu kommen die vielen anderen teuren Programme: die neue Grundrente, die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau, die Einführung und Erhöhung der Mütterrente sowie die abschlagsfreie Rente mit 63. Teure Sozialprojekte, mit denen SPD und Union die Kosten der Alterssicherung dauerhaft in die Höhe getrieben haben.

Deshalb sind die Forderungen der Kommission so nachvollziehbar und offensichtlich unpopulär:

  • So solle der Nachholfaktor wieder eingesetzt werden, um die einseitige Belastung der Beitragszahler zumindest abzufedern. Das Renteneintrittsalter soll dynamisch an die steigende Lebenserwartung geknüpft werden, wobei zwei Drittel der längeren Lebenserwartung auf Arbeit entfallen sollen und ein Drittel auf einen längeren Rentenbezug. Steigt die Lebenserwartung um ein Jahr, würde man also acht Monate länger arbeiten und dann vier Monate länger Rente beziehen.
  • Darüber hinaus fordern die Experten eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters in einer Spanne, die zwischen 63 und 68 Jahren liegen könnte. Jeder soll dann entscheiden können, wann er mit entsprechenden Zu- oder Abschlägen in den Ruhestand geht.
  • Als weiteren Teil der Reform fordert der Beirat eine veränderte Rentenanpassung, die langfristig die Kosten senkt. Eine Rückkehr zu einem langsam sinkenden Rentenniveau ist nach Einschätzung der Experten unumgänglich und sollte so rasch wie möglich erfolgen – vor allem weil die ausgezahlte Rente auch bei einem sinkenden Rentenniveau in Zukunft stetig steigt.

Sozialminister Hubertus Heil wäre wohl eher ein Experte nach dem Geschmack von Olaf Scholz. Betont er doch, dass es einen anderen Weg gibt: steigende Einkommen.

Natürlich hat er recht. Am besten haben wir viele gut verdienende Menschen. Voraussetzung: Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Wer also Renten sichern will, der muss jetzt bei den Ausgaben für Rente sparen und mehr investieren. Die Regierungen der Jahre seit 2005 haben das Gegenteil gemacht.

Der Tenor meines Kommentars zu Hubertus Heil vor zwei Jahren

Im Jahr 1920 entwickelte Charles Ponzi, ein italienischer Auswanderer in die USA, das Schneeballsystem, das auf Englisch bis heute seinen Namen trägt (“Ponzi Scheme”): Er kaufte so genannte “Postantwortscheine” in Italien auf und tauschte sie in den USA in Briefmarken. Die beträchtlichen Preisunterschiede aufgrund der hohen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg versprachen immense Gewinne.

Ponzi überzeugte Anleger mit dem Versprechen traumhafter Renditen, sein Geschäft zu finanzieren. Statt jedoch das Geld in den Kauf von Antwortscheinen zu investieren und diese gegen Briefmarken einzutauschen, finanzierte er mit den Mitteln, die ihm von Seiten der neuen Anleger zuflossen, Ausschüttungen an die Altanleger. Die Erträge der Altanleger wurden also nicht aus Gewinnen des Arbitragegeschäfts bezahlt, sondern aus dem Geld, das neue Anleger einbrachten.

Angesichts der außerordentlich hohen Renditen, die er versprach – 50 Prozent innerhalb von 45 Tagen – wurden Ponzi beträchtliche Beträge anvertraut, die er zur Zahlung der ersten “Gewinnausschüttungen” und zur Finanzierung seines aufwändigen Lebensstils nutze. Als der Betrug aufflog, verloren die Anleger 20 Millionen Dollar (was heute rund 250 Millionen US-Dollar entspricht). Seither werden solche Systeme als “Ponzi Schemes” bezeichnet: Neuanleger werden angelockt, damit Altanlegern die versprochenen Renditen ausgezahlt bzw. Einlagen zurückerstattet werden können und damit der Betrüger, der das gesamte Schneeballsystem ins Leben gerufen hat, einen Gewinn erzielt.

Rentenversicherung als Ponzi-Schema

Ursprünglich von Bismarck 1889 als kapitalgedeckte Versicherung eingeführt, ist die Deutsche Rentenversicherung seit der Zeit Konrad Adenauers, der das Demografierisiko mit dem Kommentar “Kinder bekommen die Leute immer” beiseiteschob, nichts anderes als ein groß angelegtes Ponzi-Schema. Solange mehr Leute mehr Geld einzahlen als auf der anderen Seite Geld beziehen, funktioniert das System.

Damit ist nicht nur die Rentenversicherung ein riesiges Ponzi-Schema, sondern die gesamten Staatsfinanzen. Haben doch die Bundesregierungen in den letzten Jahrzehnten nichts Besseres zu tun gehabt, als die Ausschüttungen und Leistungsversprechen zu erhöhen. Hinzu kommen die absehbar steigenden Defizite im Gesundheitswesen und die Beamtenpensionen, für die ebenfalls keine Rücklagen gebildet wurden.

Sozialminister als Charles Ponzi der Politik

Am schönsten ist es für alle Beteiligten, solange die Ponzi-Illusion funktioniert:

  • Die Empfänger der Ausschüttungen freuen sich über das Geld.
  • Die Einzahler freuen sich über die Ansprüche, die sie erwerben und sehen an den Empfängern, wie gut es ihnen eines Tages ergehen wird.
  • Die Organisatoren des Ponzi-Schemas können sich allseitiger Beliebtheit erfreuen.

Der Nobelpreisträger Milton Friedman brachte es auf den Punkt: Politiker sind Menschen, die fremder Leute Geld für fremde Leute ausgeben. Desto mehr sie das machen, desto größerer Beliebtheit dürfen sie sich erfreuen und damit in ihren Ämtern verbleiben. Kein Wunder also, dass das Sozialministerium, von seltenen Zeiten, in denen man “sparen” soll, abgesehen, äußerst beliebt ist. Man kann mit immer neuen Leistungen die Wähler beglücken.

Friedman ist der Charles Ponzi der Politik. Als solcher muss man sicherstellen, dass das System möglichst lange am Laufen bleibt. Deshalb die Vertuschung der wahren Kosten durch Verlagerung in den Bundeshaushalt und das Leugnen der Verpflichtungen (z. B. Pensionen).

Jedes Ponzi-Schema muss enden

Das Problem ist offensichtlich: Jedes Ponzi-Schema muss enden, sobald es mehr Aus- als Einzahlungen gibt. Auf unser Sozialsystem bezogen bedeutet dies, dass spätestens in zehn bis fünfzehn Jahren der Offenbarungseid bevorsteht. Denn dann wechselt der geburtenstärkste Jahrgang der 1964 Geborenen aus der Rolle des Finanziers in die des Empfängers. Der unweigerliche Zusammenbruch des Systems lässt sich dann nur durch immer drastischere Eingriffe und massive Umverteilung aufschieben, jedoch nicht verhindern. Richtig wäre es:

  • für künftig höhere Einnahmen zu sorgen, indem man die Produktivität und damit das Einkommen pro Kopf der erwerbstätigen Bevölkerung erhöht. Dazu muss man in Bildung, Innovation und den Kapitalstock investieren. Die Politiker in Berlin tun das Gegenteil.
  • die Belastung der Beitragszahler ansonsten so gering wie möglich zu halten. Auch hier erfolgt das Gegenteil. Man denke an die Energiewende, die bereits zu den höchsten Strompreisen in Europa geführt hat und nun mit dem Kohleausstieg noch teurer wird.
  • für mehr Beitragszahler zu sorgen, indem man qualifizierte Zuwanderer anlockt, die im Schnitt mindestens so viel oder mehr verdienen wie die bereits heute hier lebende Bevölkerung. Dies gelingt heute nicht.
  • für weniger Empfänger sorgen, indem man die Zuwanderung in das Sozialsystem konsequent verhindert. Hier verfolgt unsere Politik das genaue Gegenteil.
  • die Bezugsdauer der Leistungen zu reduzieren und die Beitragszahlungen zu erhöhen, indem man das Renteneintrittsalter erhöht. Genau das Gegenteil wurde in den letzten Jahren gemacht.

Das Problem mit dem letzten Punkt ist für die Betreiber des Ponzi-Schemas offensichtlich. Nicht nur entfällt der Hauptnutzen – nämlich die Beliebtheit des Betreibers zu erhöhen –, sondern es droht der Vertrauensverlust in das Gesamtsystem. Der ohnehin einsetzenden Flucht der Beitragszahler muss dann mit immer mehr Eingriffen (Beitragsbemessungsgrenze, Einbezug Selbstständiger, noch höherer Steuerfinanzierung) begegnet werden.

Hubertus Heil bringt es auf die Spitze

Den Kollaps des Ponzi-Schemas beschleunigt man, in dem man die Ausgaben erhöht und die Beiträge mindert. Genau das, was Charles Ponzi, aka Hubertus Heil und die Bundesregierung in Berlin zurzeit machen. Noch funktioniert die Illusion perfekt, weil es immer wieder gelingt, die Finanzierung der (noch) höheren Auszahlung unseres Ponzi-Schemas im Ungewissen zu lassen. Da ist abstrakt von “Steuerfinanzierung” die Rede, von einer Einbeziehung weiterer Beitragszahler in das System und generell höheren Steuern für Reiche und Erben.

  • Schon jetzt verlassen rund 200.000 Menschen pro Jahr Deutschland. Die These, dass es sich dabei im Schnitt um Jüngere, besser Ausgebildete und Vermögendere handelt, ist nicht von der Hand zu weisen.
  • Qualifizierte Zuwanderer machen schon heute einen großen Bogen um ein Land, welches die angesehene NZZ kürzlich als “Steuerhölle” bezeichnete. Die Aussicht auf noch höhere Abgaben für Renten und Sozialleistungen wirkt da schwerlich als Argument, zu uns zu kommen.
  • Schon ohne höhere Besteuerung werden die Einkommen und Vermögen in den kommenden Jahrzehnten zurückgehen. Die Immobilienpreise werden schon wegen der demografischen Entwicklung sinken, höhere Steuern (Grundsteuer, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer) dürfen den Niedergang beschleunigen.

Doch was kümmert es die Politik? Als die Bürger von Boston Zweifel an Ponzis Reichtumsmaschine bekamen, hat er als Erstes die Auszahlungen erhöht. Nichts anderes tut die Bundesregierung seit Jahren und der aktuelle Vorstoß von Hubertus Heil ist nur der vorläufige Höhepunkt. Wie beim Vorbild Charles Ponzi dürfte der Gewinn an Sympathie nur von kurzer Dauer sein. Wer kann, bringe sich und sein Vermögen in Sicherheit.

→ manager-magazin.de: “Hubertus Heil – der Charles Ponzi der deutschen Politik”, 4. Februar 2019