Gerichte halten die Transfer­union nicht auf

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang Dezember den sogenannten Wiederaufbaufonds der EU durchgewinkt. Nach Auffassung der Richter liegt kein „offensichtlicher Verstoß“ gegen deutsches und EU-Recht vor.

Einen Verstoß gegen das Bail-out-Verbot, also eines Herauspaukens überschuldeter Staaten durch die Gemeinschaft, sahen die Richter nicht – obwohl die vom Gericht befragten Ökonomen durchaus konstatierten, dass der Fonds Neuverschuldung der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang ersetzt. Ohnehin handele es sich um eine „Ausnahmeregelung“. Und ein Einstieg in eine Transferunion wäre damit nicht verbunden.

Mit einem ausführlichen Minderheitsvotum stellt sich Verfassungsrichter Peter Müller allerdings gegen diese Einschätzung. Überzeugend legt er dar, dass der Wiederaufbaufonds der Einstieg in eine dauerhafte und grundlegende Veränderung der europäischen Finanzarchitektur sei, der die erforderliche rechtliche Grundlage fehle – eine Transferunion durch die Hintertür also.

Von „Einmaligkeit“ könne keine Rede sein, wäre es doch naiv anzunehmen, dass die EU dieses Instrumentarium nicht erneut anwenden werde, so Müller. Wie zur Bestätigung hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Blick auf das Klima-Subventionsprogramm der USA sogleich weitere europäische Schulden ins Spiel gebracht.

So setzt sich fort, was wir seit Jahren erleben. In jeder Krise werden die vereinbarten Regeln aufgeweicht oder missachtet, und das Verfassungsgericht lässt dies geschehen.

Die Umverteilung innerhalb Europas, unter dem Titel „Transferunion“ von der Politik in Deutschland offiziell abgelehnt, erfolgt schon lange über die Bilanz der Europäischen Zentralbank (EZB), für deren Verbindlichkeiten wir mindestens mit unserem Anteil von 25 Prozent haften. Insofern war diese Klage vor dem Bundesverfassungsgericht genauso berechtigt wie die vorangegangenen gegen die Politik der EZB.

Die Euro-Zone ist eine Schuldenunion, in der belohnt wird, wer Schulden macht

Dennoch sind Gerichte die falschen Adressaten für die Kritiker von EZB und EU. Schon bei der Einführung des Euros war die deutsche Politik so naiv anzunehmen, man könnte mit einem Ausbau des Rechtssystems die offensichtlichen Mängel der Währungsunion heilen.

Die französische Seite dachte zu Recht, dass man den Deutschen derartige Vorschriften zugestehen kann, weil sie in der Realität wenig bedeuten. Noch heute klammern sich deutsche Politiker an das Recht und die Verträge, obwohl sie mehrmals deren Wirkungslosigkeit erleben mussten und auch das höchste deutsche Gericht keine wirksamen Grenzen einzieht.

Eine stabile Währungsunion setzt einen europäischen Staat voraus, der einen großen Teil des auf dem Gebiet der Währungsunion erzielten Aufkommens an Steuern und Sozialabgaben erhält und bedeutende Ausgabenprogramme fährt. Er geht zwangsläufig mit einem Verlust an Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten einher.

An den USA kann man sehen, wie es funktionieren kann: starker Bundesstaat, konsequente Umsetzung der No-Bail-out-Regeln für Bundesstaaten und eine Notenbank, die keine Anleihen der US-Gliedstaaten und Gemeinden kaufen darf.

Die Euro-Zone ist weit von einem solchen Arrangement entfernt. Es werden immer mehr Umverteilungsmechanismen geschaffen, ohne ausreichende Mitsprache der Zentrale bei der Mittelverwendung und ohne Einschränkung der Haushaltsautonomie der Staaten. Es ist eine Schuldenunion, in der belohnt wird, wer Schulden macht, nicht, wer umsichtig wirtschaftet.

Erst hat die Politik die Warnung der Ökonomen vor einer unvollständigen Währungsunion ignoriert. Nun hält sie sich nicht an das selbst gesetzte Recht. Offensichtlich kann es nur eine politische Antwort auf die Herausforderungen der Währungsunion geben.

Dies würde voraussetzen, dass die deutsche Politik eine eigene Strategie entwickelt. Sich einfach in jeder Krise weiter in das Schlamassel einer strukturell nicht funktionsfähigen Währungsunion ziehen zu lassen und weiteren Transfers zuzustimmen wird den Euro nicht retten.

Statt durch die Hintertür sollten wir die Transferunion mit einer Änderung der EU-Verträge realisieren, die sich am Vorbild der USA orientiert – oder gar nicht.

→ handelsblatt.com: “Gerichte halten die Transferunion nicht auf – daher muss die Politik handeln”, 8. Januar 2023