Fratzschers Irreführung: von wegen 20 “Mythen” der Geldpolitik

Marketing ist die Stärke von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Dabei versteht er es bekanntlich besonders gut, seine Aussagen genau dann zu platzieren, wenn es seine Klientel braucht oder um sich und sein Institut für Jobs beziehungsweise Aufträge ins Spiel zu bringen. Bei der F.A.Z. brachte ihm das den wenig schmeichelhaften Titel eines “Claqueurs der SPD” ein.

Jetzt, wo davon auszugehen ist, dass er mit SPD-Unterstützung bald nicht mal mehr einen Blumentopf gewinnen kann, besinnt sich der ehemalige Mitarbeiter der EZB auf eben jene. Schließlich bleibt die Hoffnung, unter einer Regierung unter Führung der Grünen doch noch Nachfolger von Jens Weidmann als Bundesbankpräsident zu werden. Immerhin wird er schon in Interviews darauf angesprochen.

Grund genug, sich ins Zeug zu legen für die EZB und in 20 Tweets aufzuzeigen, was alles in Deutschland von der EZB nicht verstanden wird. Die neue Vertreterin Deutschlands in Frankfurt, Isabel Schnabel, zeigte sich auf Twitter begeistert.

20 „Mythen“ will Fratzscher erkannt und widerlegt haben. Schauen wir uns das mal an. Ein bisschen wie bei dem nicht mehr politisch akzeptablen Kinderreim, von den „Zehn kleinen …“ kann man also eine Diskussion der „20 großen Mythen“ machen und schauen, wie viele davon übrig bleiben.

Kategorie 1: „Mythen“, von denen Fratzscher in seiner Aufzählung selbst schreibt, dass sie zutreffen.

Da könnte man denken, die gibt es gar nicht. Weit gefehlt. Fratzscher hat in der Tat Punkte als „Mythen“ aufgeführt, die er dann für keine hält. Und zwar diese hier:

Mythos #2: Die EZB-Geldpolitik ist eine Enteignung der deutschen Sparer.

Fratzscher: „Der Mensch ist nicht nur Sparer. Der Wirtschaftsboom in Deutschland hat Millionen neuer Jobs geschaffen und Lohnsteigerungen ermöglicht, die ohne die Geldpolitik nicht möglich gewesen wären.“ – Stelter: Also stimmt es, dass die Sparer Verluste erleiden. Dass auf der anderen Seite andere Wirtschaftssubjekte davon profitieren, mag stimmen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Sparer die relativen Verlierer sind. Dies sieht Fratzscher übrigens an anderer Stelle auch so, wo er sich von der Umverteilung aus der Mittelschicht nach unten über die Zinsverluste der Sparer/den Zinsgewinn des Staates freut:

Mythos #12: Die EZB-Geldpolitik ist moralisch verwerflich, da sie Regierungen zur falschen Politik verführt, beispielsweise Reformen zu verzögern und keine Schulden abzubauen.

Fratzscher: „Eine Zentralbank darf nicht entscheiden, was die richtige Wirtschaftspolitik ist, dies dürfen nur Regierungen und Bürger in einer Demokratie. Alles andere wäre undemokratisch, illegitim und ein Mandatsbruch.“ – Stelter: Also verführt die EZB-Zinspolitik doch zu „falscher Politik“, aber Moral schließt Fratzscher als Kategorie aus. Er spricht lieber von „undemokratisch“, wobei man da schon die Frage aufwerfen muss, ob Stimmrecht nach Kopf, statt nach Kapital-/Risikoanteil „demokratisch“ im ökonomischen Sinne ist. Ich würde sagen, Risiko und Entscheidungsgewalt sollten zusammenfallen. Deutschland trägt übrigens rund 28 Prozent des Risikos der EZB und hat genauso viel Stimmrecht wie Malta.

Mythos #20: Nur eine politische Union kann den Euro retten. 

Fratzscher: „Der Euro ist ein Erfolg. Die erforderlichen Reformen – Banken- und Kapitalmarktunion, gemeinsames Budget und bessere Regeln – sind realistisch. Es mangelt dazu aber vor allem am politischen Willen in Deutschland.“ – Stelter: Also besteht der Fakt, dass wir diese Union brauchen und diese bisher nicht zustande gekommen ist. Ob die deutsche Politik daran schuld ist und ob es wirklich genügen würde, den Euro zu stabilisieren, sei mal dahingestellt. Punkt 20 trifft also zu und ist kein Mythos.

Fazit: Da waren es nur noch 17 Mythen.

Kategorie 2: „Mythen“, bei denen Fratzscher sich in seiner Aufzählung widerspricht

Plus mal Minus gibt bekanntlich Minus. So wollen wir es auch bei der Bewertung der angeblichen Mythen machen, bei deren Bewertung Fratzscher sich widerspricht:

Mythos #8: Die EZB soll sich stärker auf andere Ziele als die Preisstabilität konzentrieren.

Fratzscher: „Preisstabilität ist das primäre Mandat, das die Politik der EZB gegeben hat. Ein anderes Ziel zu verfolgen wäre ein Mandatsbruch.“ – Stelter: Wie soll man das lesen? Fratzscher sagt, ein anderes Ziel, als die Preisstabilität zu verfolgen, wäre ein Vertragsbruch. Klartext: Es gibt genau ein Ziel, ein einziges. Kohl soll damals verhindert haben, dass auch Ziele wie Beschäftigung aufgenommen werden.

Ein Ziel neben dem Ziel der Preisstabilität gibt es Fratzscher zur Folge nicht. Trotzdem wird die Politik der EZB mit anderer Zielsetzung von Fratzscher gelobt, so in den „Mythen“ 5 und 7.

Mythos #5: Deutschland und Europa ständen heute ohne die expansive EZB-Geldpolitik wirtschaftlich, sozial und politisch besser da.

Fratzscher: „Die EZB unter Mario Draghi hat mit dem Versprechen to do whatever it takes 2012 das Auseinanderbrechen des Euroraums und eine wirtschaftliche Depression verhindert.“ – Stelter: Es ist richtig, dass, ohne die Bereitschaft der EZB, nicht auf den Geldwert zu achten, sondern den Euro um jeden Preis zu erhalten, der Euro schon längst Geschichte wäre. Allerdings war es – um mit „Mythos“ Nummer 8 zu sprechen – eindeutig eine Verletzung des Mandats. Nicht missverstehen: Es war eine richtige Überschreitung des Mandats, um damit kurzfristig dem Euro Zeit zu kaufen und die eigene Existenz als Notenbank des Euro zu retten.

Mag man „Mythos“ 5 noch durchgehen lassen, weil es eine akute Notlage war, so geht es mit Mythos 7 nicht mehr:

Mythos #7: Die expansive EZB-Geldpolitik wird langfristig zu hoher Inflation führen.

Fratzscher: „Die EZB verfügt über alle Instrumente, dies zu verhindern. Das ungleich größere Risiko heute ist das Gegenteil – eine Fortsetzung von wirtschaftlicher (säkularer) Stagnation und zu niedriger Inflation.“ – Stelter: Hier nimmt Fratzscher eine Erweiterung des Mandats der EZB vor. Quasi im Nebensatz führt er als Ziel den Kampf gegen „wirtschaftliche Stagnation“ ein, der aber nicht zum Ziel der EZB gehört. Er ist mit dieser Mandatserweiterung nicht allein. So redet die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde bei jeder Gelegenheit davon, dass die Staaten endlich mehr Geld ausgeben müssten, und hat bereits den Kampf gegen den Klimawandel zu einem weiteren Ziel der EZB erklärt. Damit hat sie den besten Vorwand, die nächste Stufe der Geldpolitik zu zünden: die direkte Finanzierung der Staaten. Wenigstens zu einem guten Zweck wird man dann sagen. Spätestens dann dürften übrigens nicht nur die Vermögenspreise vom billigen Geld angetrieben steigen, sondern auch die Inflationsraten anziehen. Ob die EZB dann wie versprochen gegensteuert, darf und muss bezweifelt werden. Brauchen wir doch noch Jahre mit negativen Realzinsen, um von den Schuldenbergen in der Eurozone runterzukommen.  

Fazit: “Mythos 5” kann man so stehen lassen, weil die EZB in der Tat nur so den Euro stabilisieren konnte. (Von Rettung zu sprechen, ist nicht angebracht, ist die Währungsunion doch noch schlechter aufgestellt als vor zehn Jahren). Bei den anderen widerspricht sich Fratzscher selbst.

Da waren es nur noch 14 „Mythen“.

Kategorie 3: „Mythen“, bei denen Fratzscher zusätzliche Gründe einführt, um die EZB zu entlasten

Kommen wir zur Kategorie 3 der „Mythen“, die Fratzscher angeblich widerlegt. Jene „Mythen“, bei denen er eine Mitschuld der EZB nicht leugnen kann, aber diese herunterspielt:

Mythos #10: Die Geldpolitik ist verantwortlich für die Blasen in den Immobilienmärkten.

Fratzscher: „Die niedrigen Zinsen tragen dazu bei, aber die Hauptverantwortung liegt bei einer unzureichenden Wohnungspolitik, bei der Migration vom Land in die Städte und bei der makro-prudenziellen Finanzaufsicht.“ – Stelter: Halten wir zunächst fest, es ist kein „Mythos“, weil selbst Fratzscher einräumen muss, dass die niedrigen Zinsen „dazu beitragen“. Wie stark sie das tun, kann man daran erkennen, dass nach Daten der Schweizer Großbank UBS München (Platz 1) und Frankfurt (Platz 5) zu den Top-5-Städten weltweit gehören, wo das Blasenrisiko an den Immobilienmärkten am größten ist. Natürlich verstärken Migration aus dem In- und Ausland und unzureichende Bautätigkeit steigende Preise. Aber mit Blick auf die Grundstückspreise ist offensichtlich, dass es das billige Geld ist, welches die Preise treibt. Natürlich könnte man „makro-prudenziell“ gegensteuern, gemeint ist zum Beispiel die Eigenkapitalanforderungen bei Grundstückskäufen erhöhen. Doch das ist ein Instrument zur Korrektur eines Problems, das erst durch das billige Geld der EZB geschaffen wurde.

Mythos #11: Die EZB betreibt keine Geldpolitik, sondern Finanzpolitik, da die niedrigen Zinsen den Regierungen die Finanzierungskosten erleichtern.

Fratzscher: „Jede geldpolitischen Entscheidung – ob Zinssenkungen oder -erhöhungen – verändert die Finanzierungsbedingungen für Bürger, Unternehmen und Regierungen. Deshalb ist sie noch lange keine Finanzpolitik.“ – Stelter: Also auch hier wird eine Mitschuld der EZB eingeräumt. „Es wirkt halt so“, was bereits den „Mythos“ als keinen entlarvt. Um dennoch etwas gründlicher darauf einzugehen: Die Politik der EZB hat nicht nur das Zinsniveau gedrückt, sondern vor allem die Zinsdifferenz zwischen den einzelnen Mitgliedsländern. Dass ein Land wie Griechenland mittlerweile Kredite zu Negativzins aufnehmen kann, dürfte als Datenpunkt genügen. Damit ermöglicht die EZB natürlich höhere Staatsausgaben (die Zinsersparnis kann woanders ausgegeben werden, allein im Bund in den letzten zehn Jahren rund 140 Milliarden Euro) und günstigere Neuverschuldung. Kein Wunder, dass die Staaten überall aufgehört haben, zu sparen.

Mythos #15: Die EZB-Geldpolitik schafft Zombie-Banken und Zombie-Unternehmen, die schädlich für die Wirtschaft sind.

Fratzscher: „Es ist weder die Aufgabe noch das Recht der EZB zu entscheiden, welche Unternehmen überleben sollen und welche nicht. Das ist Aufgabe von Bankenaufsicht und Wirtschaftspolitik. Ziel der EZB ist es, die Finanzierungsbedingungen für alle zu verbessern.“ – Stelter: Und als Nebenprodukt dieser Politik gibt es eine zunehmende Zombifizierung, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich ausführt. Das Problem dieser Entwicklung ist, dass das Wachstumspotenzial der Wirtschaft dadurch sinkt und umso aggressivere Geldpolitik erforderlich macht, um Deflation und Stagnation zu bekämpfen. Es mag sein, dass es nicht die Aufgabe der EZB ist, zwischen Gewinnern und Verlierern zu unterscheiden. Es ist aber sehr wohl Aufgabe, die Gesundheit der Wirtschaft im Blick zu halten. Wer jegliche Art des „Verlierens“ verhindert, der unterminiert das Grundprinzip unserer Wirtschaftsordnung, die schöpferische Zerstörung.

Mythos #19: Die EZB gefährdet ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit.

Fratzscher: „Das Sündenbock-Syndrom mancher deutscher Politiker, Medien und Unternehmer, die die EZB für die eignen, nationalen Fehler verantwortlich machen will, schadet der Unabhängigkeit und der Glaubwürdigkeit der EZB mehr als ihre Geldpolitik.“ – Stelter: Das kann man kurz machen. Würde die EZB eine andere Politik betreiben, stünde sie nicht so in der Kritik. Etwas anderes ist, dass die Lösung der Probleme des Euros in der Tat in den Händen der Politik liegt. Insofern ist es scheinheilig von der Politik in Berlin, die EZB für das, was sie tut, zu kritisieren. Dabei ist es vor allem das Unterlassen von Handeln in Berlin, was hinter der anhaltenden Krise steht.

Fazit: Vier weitere „Mythen“ sind als Tatsachen entlarvt. Bleiben noch zehn.

Kategorie 4: „Mythen“, von denen vor Fratzscher noch nie jemand gehört hat

Man kann natürlich Probleme auch so umdefinieren, dass man sie leicht als „Mythos“ ablegen kann. So macht das Fratzscher mit den TARGET2-Forderungen der Bundesbank:

Mythos #17: Die TARGET2-Forderungen der Bundesbank führen zu einer geringeren Kreditvergabe und hohen Kosten für Deutschland.

Fratzscher: „Das Zahlungssystem Target ist essenziell für das Funktionieren der Währungsunion und hat Deutschland keinen einzigen Euro gekostet. Es schafft Stabilität, was vor allem deutsche Interessen wahrt.“ – Stelter: Die Kritiker der TARGET2-Forderungen der Bundesbank sehen darin zins- und tilgungsfreie Kredite ohne Sicherheit für die Krisenländer Europas. Sie machen sich Sorgen um die Werthaltigkeit dieser Position im Falle eines Zerfalls der Eurozone. Auch ohne ein solches Event wird die Tatsache, dass eine so große Position des Volksvermögens unverzinslich angelegt ist, kritisch gesehen. Von „hohen Kosten“ und einer „geringeren Kreditvergabe“ ist bei den Kritikern nichts zu hören. Hätte Fratzscher den „Mythos“ sauber definiert, hätte er ihn nicht auf die Liste nehmen können, denn dass die TARGET2-Forderungen ein Problem darstellen, dürfte unstrittig sein. Umstritten ist die Größe des Problems.

Da waren es nur noch neun.

Kategorie 5: „Mythen“, bei denen Fratzscher an das Gute glaubt

Kommen wir zu weiteren drei „Mythen“. Zunächst beweist Fratzscher viel politischen Glauben, um nicht zu sagen Naivität:

Mythos #14: Die Absicht der EZB ist es, den überschuldeten Südeuropäern ihre Schulden zu erleichtern.

Fratzscher: „Dies gehört in die Kategorie besonders absurd – 25 unabhängige Mitglieder des EZB-Rats aus allen Euro-Ländern entscheiden die Geldpolitik, mit dem Auftrag die beste Entscheidung für die gesamte Eurozone zu treffen.“ – Stelter: Wer wirklich glaubt, dass die Vertreter der einzelnen Länder an der Haustür der EZB ihre nationalen Interessen abgeben, dem kann man nicht helfen. Zur Widerlegung eines „Mythos“ genügt mir das nicht.

Mythos #16: Die EZB-Geldpolitik schafft eine Transferunion zulasten Deutschlands.

Fratzscher: „Das Gegenteil ist richtig: Die EZB hat Rekordgewinne gemacht, die der Bundesregierung zugutekommen. Die Stabilität sichert vor allem deutsche Investitionen in und Exporte nach Europa.“ – Stelter: Dieser Punkt entspricht einer Sichtweise von jemandem, der fest in den Rückspiegel blickt, während er mit 180 km/h über die Autobahn fährt. Aus der Tatsache, dass bisher keine Verluste eingetreten sind, zu schließen, dass dies nicht im Zuge der unweigerlichen nächsten Phase der Eurokrise der Fall sein wird, ist durchaus heroisch. Nicht nur die TARGET2-Forderungen sind ein potenzielles Risiko, das Gleiche gilt für den Aufkauf der Wertpapiere und die Bankenaufsicht. Vom „Gegenteil“ zu sprechen, hat da schon fast den Charakter einer Irreführung.

Mythos #18: Unsere deutschen Interessen werden von der EZB nicht gewahrt, denn Deutschland wird bei EZB-Entscheidungen überstimmt.

Fratzscher: „Es gibt keinen grundlegenden Widerspruch zwischen den Interessen der Eurozone und Deutschlands. Eine starke, stabile europäische Wirtschaft ist im besten Interesse Deutschlands. Die Bundesbank spielt ein wichtige und einflussreiche Rolle im Eurosystem.“ – Stelter: Die Bundesbank spielt eine wichtige Rolle als Kreditgeber im Eurosystem, siehe TARGET2-Forderungen. Ein Gewicht hat ihre Stimme sicherlich auch. Das faktische Stimmrecht liegt aber auf dem Niveau Maltas und nicht selten hat die Bundesbank im EZB-Rat keine Stimme. Insofern ist es auch hier mehr Glaube Fratzschers als Fakt. Hinzu kommt, dass wir einen Riss haben, der durch die Eurozone verläuft: auf der einen Seite die Schuldner (Italien, Griechenland, Portugal, Spanien und eigentlich auch Frankreich) und auf der anderen die Gläubiger (vor allem Deutschland und die Niederlande). Diese haben per Definition unterschiedliche Interessen, wenn es um den Geldwert geht.

Da waren es nur noch sechs.

Kategorie 6: „Mythen“, bei denen Fratzscher Aussagen trifft, die nicht zutreffen

Kommen wir zur letzten Kategorie der „Mythen“ aus Fratzschers Aufzählung.

Mythos #1: Die EZB ist allein verantwortlich für die niedrigen Zinsen.

Fratzscher: „Die Zinsen sind vor allem das Resultat geringer Investitionen und zu hoher Ersparnisse. Die Regierungen bestimmen den Zins mit – mehr Investitionen und Wachstum sind essenziell für einen Anstieg der Zinsen.“ – Stelter: Fratzscher stellt diese von einigen Ökonomen vertretene These als allein gültige Wahrheit dar. Dabei handelt es sich um eine Theorie, die sich empirisch nicht belegen lässt. Im Gegenteil, Studien zeigen eindeutig, dass es eben doch die Politik der Notenbanken ist, die zu dem Rückgang des weltweiten Zinsniveaus geführt hat.

Mythos #3: Die niedrigen Zinsen führen zu einer Abnahme der Sparquote.

Fratzscher: „Das wäre notwendig, dem ist aber nicht so. Deutschland hat eine (viel zu hohe) Nettoersparnis von mehr als 200 Milliarden Euro pro Jahr (2500 Euro pro Kopf), mehr als sechs Prozent des BIP. Wenn niemand das Geld haben will, dann fällt der Preis des Geldes, also der Zins.“ – Stelter: Die Aussage zur Ersparnis in Deutschland trifft zu. Aber auch hier ist es ein Blick in den Rückspiegel. In Japan, einem Land, das bekanntlich schon länger mit Niedrigzinsen zu tun hat, ist die private Sparquote seit Jahren rückläufig. Haben die Japaner im Jahr 2000 noch rund acht Prozent gespart, war es zuletzt nur noch halb so viel. So wird es auch in der Eurozone kommen.

Mythos #4: Die EZB-Geldpolitik erhöht die Ungleichheit und schadet den Armen.

Fratzscher: „Das ist falsch. 40 Prozent der Deutschen haben praktisch kein Erspartes und viele Jobs und Einkommen wurden durch die niedrigen Zinsen geschützt. Ein verfrühter Zinsanstieg würde vor allem diese Jobs und Einkommen gefährden.“ – Stelter: An anderer Stelle kann Fratzscher nicht genug über die zunehmende Ungleichverteilung der Vermögen klagen. Wenn die Vermögenspreise steigen – und einen Zusammenhang mit der Geldpolitik hat Fratzscher ja eingeräumt, dann profitieren nur die davon, die Vermögen haben. Damit wird die Ungleichheit – mathematische eindeutig – größer. Das Vermögen der unteren 40 Prozent profitiert davon nicht.  

Mythos #6: Es gab noch nie so niedrige Zinsen wie heute.

Fratzscher: „Die realen Zinsen (nominale Zinsen abzüglich Inflation) waren zu D-Mark-Zeiten ein Drittel der Zeit seit den 1970er-Jahren negativ – so wie heute auch.“ – Stelter: Es stimmt, dass die Realzinsen auch früher negativ waren. Es ist aber doch ein Unterschied, ob man bei positivem Nominalzins real verliert oder bei negativem Realzins. Das hat vor allem auch mit der Signalwirkung des Zinses als wohl wichtigstem Preis der Marktwirtschaft zu tun. Und da muss man festhalten: Negative Nominalzinsen gab es in den letzten 5000 Jahren noch nie.

Mythos #9: Deflation ist nicht schädlich.

Fratzscher: „Deflation ist genauso schädlich wie zu hohe Inflation, aber für eine Zentralbank ungleich schwerer zu bekämpfen. Deflation führt zu fallenden Erträgen und erschwertem Schuldendienst für Unternehmen, somit zu weniger Investitionen, Wachstum und Jobs.“ – Stelter: Wir haben im 19. Jahrhundert lange Phasen von Deflation mit hohen Wachstumsraten erlebt. Deflation ist der Normalzustand, weil technischer Fortschritt, Erfindungen und Produktivitätsgewinne zu sinkenden Preisen führen. Die Angst der Ökonomen vor der Deflation stammt aus der Weltwirtschaftskrise, die aber historisch die Ausnahme war. Was schädlich ist, ist nicht die Deflation, sondern die zu hohe Verschuldung, die durch Deflation schwerer zu ertragen ist. Die richtige Antwort wäre also: Deflation ist kein Problem. Unser Problem sind die hohen Schulden und um die tragbar zu halten, müssen die Zinsen tief sein.

Mythos #13: Der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB ist illegal und ineffektiv.

Fratzscher: „Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat geurteilt, dass diese legal sind und hat alle deutschen Klagen abgewiesen. Die Ankäufe waren effektiv, um die Kreditvergabe an Unternehmen und Bürger zu verbessern, auch wenn diese immer weniger effektiv werden.“ – Stelter: Auch wenn sie „immer weniger effektiv werden“, greift er zu kurz. Der Aufschwung seit 2009 war außergewöhnlich schwach und die Kreditnachfrage des Privatsektors gedämpft. Die Staaten haben sich über das billige Geld gefreut und die Zombies, die eben nicht zum Konkursrichter mussten. Zugleich ermöglicht das billige Geld den Kauf von Vermögenswerten. Das war es dann auch.

Damit sind alle „Mythen“ weg.

Was mich zum Fazit führt: von den 20 angeblichen „Mythen“ von Herrn Fratzscher bleibt ein Mythos übrig, bei dem es sich lohnt, ihn zu wiederholen:

Mythos #5: Deutschland und Europa ständen heute ohne die expansive EZB-Geldpolitik wirtschaftlich, sozial und politisch besser da.

Diese Aussage ist tatsächlich falsch. Es hätte ohne die EZB einen chaotischen Zerfall des Euro gegeben. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass der Euro „gerettet“ ist, noch, dass es eine gute Idee war, ihn einzuführen. Aber das ist ein anderes Thema.

→ manager-magazin.de: “Die naiven Thesen des Promi-Ökonomen Marcel Fratzscher”, 2. Dezember 2019