EZB: Gefangene der eigenen Politik

Ich finde es immer wieder faszinierend, wie viele Appelle es von (mehrheitlich deutschen) Volkswirten an die EZB gibt, heute doch bitte nicht eine weitere Lockerung der Geldpolitik zu beschließen. Deflationsgefahr gäbe es doch nicht, der Reformwille würde geschwächt und überhaupt wäre die Geldpolitik doch nicht mehr wirkungsvoll, ist doch Geld schon so billig wie seit Jahrhunderten nicht. Stimmt zwar alles, geht aber am Thema vorbei.

Wer gegen die Politik der EZB ist, muss sagen, was er stattdessen will. Der Weg zurück zu normaler Geldpolitik und normalen Zinsen ist nämlich nur denkbar, wenn wir die Ursachen beseitigen: die untragbaren Schuldenlasten und die dysfunktionale Eurozone. Ersteres ist mit empfindlichen Einbußen für Gläubiger und Steuerzahler verbunden, zweites mit einem Offenbarungseid für die Regierungen Europas. Beides nicht populär und nicht schmerzlos.

Wir sind überschuldet

2008 war keine normale Krise. Es war auch keine „Finanzkrise“. Es war der Beinahe-Kollaps unseres Wirtschaftssystems, welches von immer mehr und immer billigeren Schulden abhängt. Wie ein Heroinsüchtiger braucht die Weltwirtschaft eine immer größere Dosis an billigem Geld. Wachsen die Schulden nicht mehr, bricht alles zusammen.

Schulden sind so lange kein Problem, wie der Schuldner die Absicht hat, Zinsen und Tilgung aus dem Einkommen zu bestreiten. Ich nenne sie „produktive Schulden“. Dies gilt für Investitionen und einen Teil der privaten Kredite. Je größer der Anteil der unproduktiven Kredite, bei denen die Schuldner hoffen, Tilgung und Zinsen aus der Wertsteigerung zu bedienen, desto krisenanfälliger wird das System. In den letzten drei Jahrzehnten blieben die produktiven Kredite relativ zum BIP konstant. Die unproduktiven Schulden haben sich währenddessen vervielfacht. Immer mehr Schulden sind also Spekulation.

Überall liegt die Gesamtverschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten relativ zum BIP höher als 2007. Neueste Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich unterstreichen die Dynamik: http://www.bis.org/publ/qtrpdf/r_qt1509.htm?m=5%7C25#quarterlyreviewboxes

  • Die Industrieländer haben relativ zum BIP 36 Prozent mehr Schulden als 2007. Spitzenreiter sind Japan (77), Frankreich (72), Italien (53), Schweden (52) und Spanien (50 Prozent). Soviel zum vermeintlichen „Sparen“.
  • Die Schwellenländer haben im Schnitt ihre Verschuldung seit 2007 um immerhin 50 Prozent des BIP gesteigert. Angeführt von China (82), Singapur (59), Korea (40), Thailand (37), Russland (33), Malaysia und Brasilien (32) und der Türkei (30 Prozent).

Hinter diesem weiteren Schuldenanstieg stehen zwei Treiber. Zum einen war es die chinesische Regierung, die aus Angst vor sozialen Konflikten mit einer wahren Schuldenorgie auf die Krise von 2008 reagiert hat. Um 21 Billionen US-Dollar wuchs der Schuldenberg, während die Wirtschaft um fünf Billionen wuchs. Mindestens sechs Billionen US-Dollar wurden nach Schätzungen in den Sand gesetzt.

Der andere Treiber ist eine Art monetäre Physik: Das billige Geld hat tatsächlich dazu animiert, weitere Schulden zu machen. Europäische Staaten finanzieren ungebremst Defizite zu historisch tiefen Zinsen. Schwellenländer konnten den Lockungen der tiefen Zinsen nicht widerstehen. Für rund sieben Billionen haben sich Staaten und Unternehmen in der Region in US-Dollar verschuldet. Gerade die Verschuldung der Schwellenländer war das bewusste Ziel der Fed, die mit QE und Nullzins als Erste der großen Notenbanken auf eine gezielte Schwächung der eigenen Währung gesetzt hat. Nun macht es die ganze Region höchst empfindlich für steigende Zinsen und den starken Dollar.

Es geht nicht um die Realwirtschaft

Auf die Realwirtschaft haben die Schulden indes immer weniger Wirkung. Ein immer größerer Teil der neuen Schulden dient dazu, die Illusion der Bedienung der vorhandenen Schulden aufrechtzuerhalten. Dort, wo die neuen Schulden in den letzten Jahren noch zum Wachstum beigetragen haben, sind massive Überkapazitäten die Folge. China und die Rohstoffexporteure haben gleichermaßen falsch investiert und der Versuch der Schuldner Liquidität zu beschaffen, führt zu einem weltweiten deflationären Druck. Gift für eine überschuldete Weltwirtschaft. Die Geldpolitik hat damit das befeuert, was sie eigentlich bekämpfen wollte.

Die Probleme sind seit 2008 deutlich größer geworden. Alles spricht dafür, dass die Notenbanken in einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale gefangen sind. Billiges Geld führt zu steigenden Schulden für Spekulation und Konsum. Damit wächst die Krisenanfälligkeit der Wirtschaft, was wiederum tiefere Zinsen erforderlich macht. Zu tiefe Zinsen in der Vergangenheit machen also noch tiefere Zinsen heute erforderlich, die wiederum nochmals tiefere Zinsen morgen bedingen. Geld muss immer billiger und immer großzügiger in das System gepumpt werden.

Das gilt besonders für Europa: Wie sonst soll die Eurozone und damit die Existenz der EZB gerettet werden? Großzügige Staatsfinanzierung, Sozialisierung von Schulden über die EZB-Bilanz, demnächst direkte Finanzierung von Konjunkturprogrammen (Helikopter-Geld) und perspektivisch deutliche Geldentwertung sind die einzigen Hebel, die verblieben sind, um den Kollaps und die damit verbundenen unbequemen Nachrichten zu verhindern.

Die offene Frage bleibt: Gelingt das Experiment oder dauert es zu lange und die politischen Spannungen werden – auch angefeuert von der ungelösten Flüchtlingskrise – so groß, dass einzelne Länder sich aus dem Euro verabschieden? Ebenso offen ist, ob es wirklich gelingt, die massiven deflationären Tendenzen, die sich aus Überschuldung, Überkapazitäten und Fehlinvestitionen ergeben, zu überwinden. Wenig spricht für eine moderate Lösung, viel für die Extreme: Pleiten oder Hochinflation.

Insofern ist jede Entscheidung, die die EZB heute trifft, ein Non-Event: unausweichlich, von den Märkten längst eingepreist und trotzdem ohne Belang für die grundsätzlich nötigen Weichenstellungen. Weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass diese Art der Politik endlos weitergeführt werden kann, bleibt den Anlegern weiterhin nur eines übrig: der Verzicht auf eine klare Richtungsentscheidung und stattdessen die absolute Diversifikation in ein globales Portfolio aus Qualitätsaktien, Anleihen, Liquidität, Gold und Immobilien. Und Vorsicht mit Schulden.

→  WirtschaftsWoche Online: „Die EZB ist Gefangene der eigenen Politik“, 3. Dezember 2015