Draghis letzter Wille

Neben dem Thema “Klima” wollen wir nicht die anderen Themen von bto vergessen. So das Thema Geldpolitik, besonders die Rolle der EZB bei der Euro”rettung”. Dieser Kommentar von mir erschien bei Cicero:

EZB-Chef Mario Draghi fällt die undankbare Aufgabe zu, die fehlgeleitete Politik der letzten Jahre mit höherer Aggressivität fortzusetzen. Denn die Alternative wäre schlimmer: der Zerfall der Eurozone, der Fall in eine Rezession. Die Politiker lassen ihn im Regen stehen. Und die Verlierer sind die Sparer.

Zu seinem Abschied hat EZB-Chef Mario Draghi noch mal verlässlich geliefert: Die Zinsen – ohnehin schon im negativen Bereich – wurden auf nun minus 0,5 Prozent gesenkt und ab November kauft die EZB wieder Anleihen von Staaten und Unternehmen auf. Für 20 Milliarden Euro pro Monat und – dies ist die aus Sicht der Märkte entscheidende Nachricht – ohne zeitliche Begrenzung. Solange die Inflation in der Eurozone nicht das Ziel von zwei Prozent erreicht, wird gekauft und nach Lage der Dinge spricht viel dafür, dass es noch sehr lange dauern wird, bis es soweit ist.

In der Eiszeit

Mehrere Faktoren kommen zusammen, wenn es um die Zinsentwicklung der letzten Jahre und damit auch um den Ausblick geht:

  • Demografische Entwicklung: Vielfältige Studien zeigen, dass alternde Gesellschaften mehr sparen und weniger konsumieren, was tendenziell zu einem Überangebot von Kapital bei gleichzeitig schrumpfender Nachfrage führt. Diese – wie ich es gerne nenne – „Badewannentheorie“ lässt sich weltweit beobachten. Demnach würden die Zinsen erst dann wieder steigen, wenn mehr Menschen von ihren Ersparnissen leben müssen und entsprechend weniger sparen und mehr nachfragen. Das dürfte in den kommenden zehn Jahren langsam beginnen.
  • Ungleichgewichte: Hinzu kommt, dass das Thema der Ersparnis auch zwischen Ländern gilt. Sparen Länder wie Deutschland und China zu viel, führt das zu mehr Kapitalexporten und damit in anderen Ländern zu tieferen Zinsen, namentlich in den USA.
  • Geringeres Wachstum: Ein weiterer Aspekt für die Zinsentwicklung ist das Wachstum der Wirtschaft. Schon seit Jahren gehen die Wachstumsraten in der westlichen Welt zurück, was unter anderem an den abnehmenden Produktivitätszuwächsen liegt und entsprechend sinken die Zinsen.

Das sind die fundamentalen Gründe für die Zinsentwicklung, auf die vor allem die Notenbanken gern verweisen. Es gibt aber auch Politikfehler der letzten Jahre, die den Trend zu immer tieferen Zinsen verstärkt haben:

  • Asymmetrische Reaktion: Da ist zum einen die Politik der Notenbanken, die seit Mitte der 1980er Jahren auf jede (mögliche) Krise an den Finanzmärkten oder in der Wirtschaft mit Zinssenkungen reagiert hat, ohne danach die Zinsen wieder entsprechend zu erhöhen. Damit haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass all jene, die Schulden machen, belohnt wurden. Die Folge war eine explodierende weltweite Verschuldung von Staaten und Privaten vor allem für unproduktive Zwecke wie Konsum, den Kauf vorhandener Vermögenswerte, vor allem Immobilien, und Spekulation. Das Problem der immer weiter steigenden Verschuldung ist jedoch, dass diese nur zu immer tieferen Zinsen tragbar ist. Die Zinsen müssen also morgen noch tiefer sein, weil sie heute schon tief sind.
  • Schulden statt Anstrengung: Diese Tendenz zum Leben auf Pump wurde von der Politik zusätzlich verstärkt. Vor allem in Reaktion auf die neuen Wettbewerber aus Osteuropa und China hätte man in verbesserte Ausbildung und mehr Investitionen setzen müssen. Doch statt diesen anstrengenden Weg zu gehen, forcierte die Politik die Kompensation fehlender Einkommenszuwächse mit mehr Schulden (USA) oder baute den Sozialstaat auf Pump aus (Europa).
  • Vermögensblasen: Billiges Geld und die als risikolos empfundene Spekulation führt zur Entstehung von Blasen an den Finanzmärkten. In den letzten 20 Jahren haben wir bereits zwei erlebt (Dotcom-Blase und Immobilienblase) und wir dürften uns in der nächsten befinden (Staatsanleihen und US-Börse?). Das Problem dabei: Platzen diese Blasen, gefährden sie angesichts der hohen Schulden immer sofort das Weltfinanzsystem und die Konjunktur. Und erzwingen so – Sie ahnen es – noch mehr billiges Geld.

Natürlich kann man nicht ewig auf die positive Wirkung neuer Schulden setzen. Die Wirkung nimmt in Wahrheit immer mehr ab, die Dosis muss also steigen. Steigt sie nicht, bekommen wir Krisen wie die Finanzkrise 2009. Nur durch immer mehr und immer billigeres Geld kann man das System am Laufen halten. Dabei schwächen die hohen Schulden das Wachstum zusätzlich, weil immer mehr Unternehmen nur dank des billigen Geldes überhaupt noch existieren. Sie können so tun, als wären sie solvent, obwohl sie eigentlich pleite sind. Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von „Zombies“, die nicht investieren oder innovieren und es auch für die gesunden Unternehmen immer schwerer machen, erfolgreich zu wirtschaften. Das Bankensystem kommt derweil – durch die Zombies und die Verluste aus der letzten Krise ohnehin geschwächt – durch die tiefen Zinsen immer mehr unter Druck. Die Gewinne sinken und die Fähigkeit, gesunden Unternehmen Kredite zu geben, schwindet. Ein Szenario welches ich „Eiszeit“ nenne.

Sonderproblem Euro

In Europa haben wir mit dem Euro ein zusätzliches Problem. Bekanntlich ist die Eurozone die wohl schlechteste denkbare Währungsunion. Schon vor Jahren hat die US-Bank JPMorgan vorgerechnet, dass selbst eine hypothetische Währungsunion aller Staaten der Welt, die mit einem „M“ beginnen, besser wäre.

Mit der Einführung des Euro begann ein Verschuldungsboom in den heutigen Krisenländern. Die Zinsen waren zu tief und befeuerten Blasen an den Immobilienmärkten. Sie bewirkten aber auch, dass sich die Wirtschaften der Mitgliedsstaaten immer weiter auseinanderentwickelten, statt – wie erhofft – anzunähern. Die „Eurokrise“ war und ist deshalb auch keine Staatsschuldenkrise, sondern eine Überschuldungskrise und eine Krise fehlender Konvergenz der Mitglieder. Ohne Mario Draghis Versprechen alles Erdenkliche zu tun, um den Euro zu erhalten, gäbe es ihn schon längst nicht mehr. Das Problem ist nur, dass billiges Geld die Probleme der Eurozone nicht lösen kann, sondern nur Zeit kauft. Und nur funktioniert, wenn das Geld noch billiger wird.

Mit Lagarde geht es erst richtig los

Politikern und Notenbankern ergeht es wie Goethes Zauberlehrling: Sie werden die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Im Gegenteil, der Versuch, die Krise zu bekämpfen, führt zu einem immer größeren Problem.

Vorstellen kann man sich das so: Die Notenbanken drücken den Schulden-Ballon unter Wasser, damit er nicht zum Problem wird. Derweil wird dieser Ballon jedes Jahr größer und drückt mehr an die Oberfläche. Nur durch noch mehr Druck kann er unter Wasser gehalten werden, nur bläht er sich umso mehr auf, je mehr man ihn unter Wasser drückt. Irgendwann kann ihn die Notenbank nicht mehr halten und er schießt mit aller Macht nach oben.

Mit jeder weiteren Rettungsaktion pumpen die den Ball weiter auf und legen damit die Grundlage für die größte Schulden-Krise aller Zeiten. Es ist eine große Wette: Gelingt es ihnen (doch noch), eine hohe Inflation zu erzeugen, und damit einen etwas schmerzfreieren Weg zur Entschuldung zu finden oder platzt die Blase?

Klar ist auf jeden Fall, dass es einen freiwilligen Ausstieg aus dem Spiel nicht geben wird. Weshalb auch die Ernennung der französischen Politikerin Christine Lagarde in das Bild passt. Der IWF, ihr bisheriger Arbeitgeber, hat mehrere Studien erstellt, die aufzeigen wohin die Reise noch gehen kann. Die Ideen reichen von überraschenden Vermögensabgaben, der Besteuerung von Bargeldtransaktionen bis zum Verbot von Bargeld (und Gold?).

Unzweifelhaft ist, dass heftig darüber nachgedacht wird, wie man Zinsen noch tiefer in den negativen Bereich drücken kann, ohne, dass die Sparer aus dem System flüchten können. Da dies nicht genügen würde, wird parallel der nächste große Schritt vorbereitet: die direkte Finanzierung von Staaten durch die Notenbanken. Vermutlich begründet mit dem dringenden Kampf gegen den Klimawandel.

Nur konsequent. Wir haben uns über Jahrzehnte in eine Sackgasse manövriert. Jetzt beginnt das Endspiel. Ausgang offen, aber der Verlierer steht fest: der Sparer.

→ cicero.de: “Draghis letzter Wille”, 13. September 2019