Die Europäische Zentral­bank hat kein Mit­leid verdient

Egal, wie sich Europäische Zentralbank (EZB) und US-Notenbank Fed winden: Die massive Ausweitung der Geldmenge ist verantwortlich für den Inflationsanstieg. Länder mit geringerem Geldmengenwachstum wie Japan und Schweiz haben geringere Inflationsraten.
Sichtbar ist das auch am Anstieg der Immobilienpreise. Wenn diese in den USA in zwölf Monaten um 18 Prozent steigen, hat das nichts mit Lieferkettenproblemen oder Energiepreisen zu tun, sondern mit zu viel Geld.

Es ist überfällig, dass die Fed die Zügel anzieht und die EZB dies ebenfalls erwägt. Es droht bereits eine Lohn-Preisspirale, selbst in Deutschland, wo die Industriegewerkschaft IG Metall mit der Forderung nach einer Lohnsteigerung um 8,2 Prozent in die Tarifrunde zieht.

Ökonomen wie Marcel Fratzscher bestreiten diese Gefahr und betonen stattdessen die positive Wirkung auf Kaufkraft und Nachfrage in einem schwierigen Umfeld. EZB-Direktorin Isabel Schnabel zeigt sich da zum Glück weniger entspannt.

Die Rückbesinnung der Notenbanken auf ihre Kernaufgabe, die Sicherung der Kaufkraft des Geldes, fällt leider in eine besonders problematische Zeit. Neben der großen Gefahr, dass sich die Inflation verfestigt, steht auf der anderen Seite das hohe Rezessionsrisiko. Ein Zinsanstieg um einen Prozentpunkt lässt die Zinslast in der Euro-Zone und den USA um rund drei Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts steigen.

Grat, auf dem die Notenbanken wandern, wird schmaler

Gerade in den USA könnte die monetäre Straffung schon weiter fortgeschritten sein, als der Notenbankzins erkennen lässt. Die Zentralbanken verfolgen seit der Finanzkrise bekanntlich die Politik des Quantitative Easing. Diese ist ein Instrument der Geldpolitik von Zentralbanken, bei dem diese große Mengen an Wertpapieren ankaufen. Es kommt zum Einsatz, wenn die Zinsen bereits sehr stark oder sogar auf null gesenkt wurden.Über die Maßnahme urteilte der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke, dass diese zwar in der Theorie wirkungslos sei, in der Praxis aber wirke. In der Tat zeigen Studien, dass der effektive Zins durch diese Maßnahme deutlich in den negativen Bereich gedrückt wurde.

Umgekehrt bedeutet das, dass die Verlangsamung von Wertpapierkäufen oder gar ein Schrumpfen der Bilanz der Notenbank zu einem faktischen Zinsanstieg führt, selbst dann, wenn der offizielle Zins noch unverändert ist.

Analysten der französischen Bank Société Générale haben vorgerechnet, dass bereits vor dem Zinsentscheid in dieser Woche der effektive Zins in den USA um 2,5 Prozentpunkte gestiegen ist. In Summe wären wir also bei drei Prozent, was mit entsprechender Verzögerung auf die Realwirtschaft durchschlägt. Kein Wunder, dass die Börsen und Immobilienmärkte den Rückwärtsgang einlegen.

Der Grat, auf dem die Notenbanken wandern, wird immer schmaler. Straffen sie zu rasch, stürzen die Vermögensmärkte, straucheln die Schuldner und fällt die Wirtschaft in die Rezession. Straffen sie unzureichend, verfestigt sich die Inflation, und das Vertrauen in das Geld schwindet. Mitleid haben sie nicht verdient, haben sie uns doch in diese Situation geführt. Daumen halten sollten wir trotzdem. Im eigenen Interesse.

handelsblatt.com: “Die Europäische Zentralbank hat kein Mitleid verdient”, 06. Mai 2022