“Die Welt vor dem deflationären Schock”

Eine gekürzte Fassung dieses Kommentars von mir erschien bei BÖRSE ONLINE/EURO AM SONNTAG. Für bto bevorzuge ich die Langversion, interessante Lektüre für das Wochenende:

Im März vor zehn Jahren erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt. Der breite amerikanische Aktienindex, S&P 500, der schon in den Monaten davor dramatisch an Wert verloren hatte, fiel am Freitag, dem 6. März 2009 auf den Stand von 666 Punkten. Ein Verlust von über 50 Prozent in weniger als 18 Monaten. Ökonomen und Börsianer sahen die Welt auf dem Weg in eine neue Weltwirtschaftskrise. Nicht unbegründet, brachen doch alle wichtigen Indikatoren der Wirtschaftstätigkeit stärker ein als 1930.

Bekanntlich kam es anders. Banken wurden gerettet, Konjunkturprogramme aufgelegt und die Notenbanken der Welt öffneten die Geldschleusen. Die Zinsen wurden drastisch gesenkt und in großem Umfang Wertpapiere aufgekauft. Die Bilanzsumme der Notenbanken der USA, der Eurozone und Japans wuchs in Folge von rund drei Billionen US-Dollar auf einen Wert von über 14 Billionen US-Dollar an. Für unfassbare 11.000 Milliarden US-Dollar wurden also vorhandene Wertpapiere – überwiegend Staats- und Unternehmensschulden – aufgekauft, um eine Wiederholung einer großen Depression zu verhindern.

Vordergründig mit Erfolg: Die Weltwirtschaft erholte sich, die Eurozone überlebte und die Börsen erreichten einen Rekord nach dem anderen. Der S&P 500, im März 2009 noch kurz vor der Kernschmelze, erreichte 2018 ein neues Allzeithoch von 2930 Punkten. Wer den Mut hatte, im März vor zehn Jahren zuzugreifen, kann sich über Gewinne von 340 Prozent freuen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Erholung sowohl in Europa wie in den USA die schwächste Erholung seit dem Zweiten Weltkrieg war. Denn unter der glänzenden Oberfläche der Börsen sieht es deutlich schlechter aus.

Die Finanzkrise war kein Unfall

Politiker, Ökonomen und Börsianer verdrängen gerne die eigentliche Ursache der Krise. Da wird über die „Finanzkrise“ gesprochen, ausgelöst von zweifelhaften Krediten im US-Immobilienmarkt, die über allerlei Umwege in den Portfolios der Investoren in aller Welt – vor allem in Deutschland – landeten. Da wird von der „Eurokrise“ gesprochen, deren Ursache man gerne in der überbordenden Staatsverschuldung einzelner Sünderländer verortet, die nun mal über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Die Wahrheit ist eine andere: Beides sind Überschuldungskrisen gewesen und sind das immer noch. Seit Mitte der 1980er-Jahre hatten wir es weltweit, vor allem in den USA, Europa und Japan mit einer explodierenden Verschuldung von Staaten, privaten Haushalten und Unternehmen zu tun. In den zwanzig Jahren bis zum Krisenausbruch 2007 haben sich die Schulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt. Real hatten Unternehmen mehr als dreimal so viele Schulden wie zuvor, Staaten mehr als viermal und private Haushalte mehr als sechsmal so viel. Die weltweite Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten erreichte 2007 den Rekordwert von über 250 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung.

2008 war es dann soweit. Die Welt schien am Ende der Verschuldungskapazität angelangt. Die Verschuldungskapazität hängt vom beleihungsfähigen Eigenkapital oder Einkommen und von den Zinsen ab. Je höher das Eigenkapital und das Einkommen und je tiefer die Zinsen, desto mehr Schulden lassen sich schultern. 2008 stiegen die Kosten für Kredite drastisch, nicht zuletzt, weil das Vertrauen der Kreditgeber in die Zahlungsfähigkeit der Schuldner deutlich zurückging. Zugleich verfiel der Wert des Eigenkapitals und die Einkommensaussichten verschlechterten sich wegen der sich abzeichnenden Rezession. Was bei moderater Verschuldung im Einzelfall ärgerlich ist, erweist sich bei zu hoher Verschuldung als Brandbeschleuniger für eine große Depression.

Albtraum Schulden-Deflation

Keiner hat das besser beschrieben als der wohl beste amerikanische Ökonom des 20. Jahrhunderts, Irving Fisher. In seiner „Schulden-Deflations-Theorie großer Depressionen“ erklärt er den Ablauf der Krise exemplarisch:

  • Die Liquidation von Schulden führt zu Notverkäufen, man muss seine Schulden tilgen und verkauft dafür Vermögensgegenstände.
  • Dies führt zu einem Rückgang der Geldmenge, weil Bankdarlehen getilgt werden. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verlangsamt sich. Es wird weniger gekauft und verkauft.
  • Der von den Notverkäufen verursachte Rückgang bei Geldmenge und der Umlaufgeschwindigkeit drückt das Preisniveau bzw. führt zu einer Aufwertung des Geldes. Wenn niemand mehr etwas kaufen will, sinken die Preise. Das nennt man Deflation.
  • Das Angebot passt sich der Nachfrage an.
  • Geht man davon aus, dass der Rückgang des Preisniveaus nicht von Reflation (also einer künstlich herbeigeführten Inflation) oder anderen Entwicklungen aufgefangen wird, sinkt zwangsläufig das Reinvermögen der Unternehmen noch stärker und die Insolvenzen häufen sich.
  • Die Gewinne sinken, was in einer „kapitalistischen“, also auf private Gewinne angelegten Gesellschaft, Sorge vor potenziellen Verlusten auslöst, worauf mit einer Drosselung der Produktion, Reduktion des Warenangebots und Entlassungen reagiert wird.
  • Verluste, Insolvenzen und Arbeitslosigkeit führen zu Pessimismus und Vertrauensverlust, die ihrerseits in Hamsterkäufen und dem Horten von Waren münden und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes noch stärker bremsen.
  • Die genannten Veränderungen stürzen den Kapitalmarkt in schwerwiegende Turbulenzen. Insbesondere fallen die nominalen oder Geldkurse, während die realen oder effektiven Zinssätze steigen. Es entsteht ein Teufelskreis.

Fisher nannte die Kombination von Überschuldung und Deflation eine Katastrophe. „Die beiden Krankheiten reagieren aufeinander“, sagte er. Überschuldung führe zu Deflation, und „umgekehrt reagiert eine von Schulden ausgelöste Deflation auf die Verschuldung. Jeder Dollar, der als Kredit aufgenommen und noch nicht zurückgezahlt wurde, wiegt schwerer, und wenn die Ausgangsverschuldung groß genug ist, kann die Rückzahlung oder Liquidation der Schulden nicht mit dem Preisverfall Schritt halten, den sie auslöst. In der Folge verpufft die Wirkung der Schuldenrückzahlung. Sie verringert die Summe der geschuldeten Dollars, aber der dadurch ausgelöste Wertverfall ist schneller”. So war es in der Großen Depression. So war es im Jahre 2009, als die Weltwirtschaft noch schneller abstürzte als achtzig Jahre zuvor.

Fisher sah zwei Wege, die aus der Krise herausführen. Der eine ist die natürliche, langwierige Talfahrt durch Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und Verelendung. Der andere Weg – künstlich und schnell – besteht in einer bewussten Inflationierung: die Preise also auf das Durchschnittsniveau „reflationieren”, zu dem die bestehenden Kreditverträge abgeschlossen wurden. Der Wert des beliehenen Eigentums würde wieder steigen, die Überschuldung wäre erledigt und neue Verschuldungskapazität geschaffen.

Genau dies versuchen Regierungen und Zentralbanken seit zehn Jahren. Mit Konjunkturprogrammen und Null- und Negativzins haben sie die Verschuldungskapazität wiederhergestellt. Vermutlich hätte es dennoch nicht gereicht, wäre China nicht mit einem gigantischen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm eingesprungen. Damit wurde nicht nur die Schuldentragfähigkeit im Westen erhöht, sondern zugleich noch neue Verschuldungskapazität in der Welt mobilisiert.

Problem vergrößert statt gelöst

Die Wiederholung der Großen Depression wurde abgewendet. Bis jetzt. Kein Wunder, dass sich die Verantwortlichen selbst loben. Janet Yellen, bis 2017 Chefin der US-Notenbank, meint nicht nur, dass die Krise „überwunden sei“, sie geht sogar so weit zu behaupten, dass es keine neue Krise mehr zu „unseren Lebzeiten“ geben kann. Mark Carney, Chef der britischen Notenbank betont, dass wir heute ein „sicheres, einfacheres und faireres Weltfinanzsystem“ hätten.

Die Wahrheit ist leider eine andere. Und die Notenbanken tragen daran eine erhebliche Mitschuld. Immer, wenn es an den Finanzmärkten oder in der Wirtschaft zu Turbulenzen kam, haben die Notenbanken der westlichen Welt schnell gehandelt. Zinsen wurden gesenkt und mehr Liquidität in die Märkte gepumpt. Börsencrash von 1987, Russlandkrise, Asienkrise, Dotcom-Blase, Finanzkrise – immer das gleiche Muster. Anschließend wurden die Zinsen allerdings nie wieder auf das vorherige Niveau erhöht. So sanken die Zinsen über die Jahrzehnte immer tiefer. In Europa wurde dies durch die Einführung des Euro noch verstärkt, weil die EZB die Zinsen – aus Rücksicht auf das damals kränkelnde Deutschland – jahrelang zu tief hielt und so erst den Schulden- und Immobilienboom in den heutigen Krisenländern ermöglichte.

Damit wurde es immer attraktiver, auf Kredit zu spekulieren. Je höher verschuldet das System ist, desto größer ist jedoch die Krisenanfälligkeit. Und desto bedrohlicher auch jede Krise. Deshalb mussten die Notenbanken immer heftiger intervenieren, was wiederum einen Anreiz gab, noch mehr Schulden zu machen, weil es nochmals deutlich billiger wurde. Das Medikament, das die Notenbanken geben, verstärkt die Krankheit.

So auch in den letzten zehn Jahren. Statt ein Sinken der Schuldenlast zu bewirken, haben die Notenbanken den Schuldenberg weiter aufgebläht. Die Welt ist mit über 325 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet, 75 Prozentpunkte mehr als 2007. Diese Schuldenlast ist nur zu immer tieferen Zinsen tragbar.

Notenbanker füttern das Schuldenmonster

Doch nicht nur die Schulden wachsen weiter. Auch in anderer Hinsicht hat die Politik der Notenbanken erhebliche negative Nebenwirkungen:

  • Eng mit dem Schuldenboom verbunden ist die Entwicklung der Vermögen. Jeder vierte der 400 reichsten Amerikaner ist durch „Investments“ so reich geworden. Die meisten davon mit billigem Kredit. Banken, Hedgefonds und Private Equity erzielen ihre zum Teil fantastischen Renditen nur durch den massiven Einsatz von „Leverage“, also Kredit. Nur dank des Treibstoffs billigen Geldes ist es überhaupt möglich, dass die Vermögen – wie die Schulden – seit Jahren schneller wachsen als die Realwirtschaft. Die Reichen werden immer reicher, weil das immer billigere Geld die Preise von Immobilien, Finanzanlagen, Kunst- und Sammlerobjekten immer höher treibt.
  • Je höher die Bewertungen an den Vermögenswerten, desto größer die Gefahr von Einbrüchen, wenn die Blasen hin und wieder platzen. Dies hat aber verheerende Folgen für die Realwirtschaft, weil die Nachfrage sinkt und vor allem, weil das Finanzsystem sofort wieder ins Wanken gerät. Fallen die Vermögenspreise, verlieren die Kreditgeber Geld und die Banken stehen wieder vor einer neuen Finanzkrise. Dies zwingt die Notenbanken bei ihrer Geldpolitik, immer mehr auf die Finanzmärkte zu blicken. Letztlich sind sie gezwungen die Vermögensmärkte mit immer billigerem Geld zu stabilisieren. Die Zinsen müssen also morgen noch tiefer sein, weil sie heute schon tief sind.
  • Die stetig steigende Verschuldung führt zu einer zunehmenden „Zombifizierung“ der Wirtschaft. Immer mehr Unternehmen sind unter normalen Umständen nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu bedienen. Weil das Bankensystem wiederum die Verluste aus Abschreibungen auf diese Kredite nicht verkraften könnte, kommt es zu einer stillschweigenden Übereinkunft: Solange das Unternehmen den Zinsverpflichtungen nachkommt, tun beide Seiten so, als wäre der Kredit noch werthaltig, das Unternehmen also nicht insolvent. So bleibt das Unternehmen zwar am Markt, hat aber keine Mittel für Investitionen und Innovation. In der Folge gibt es weniger Wirtschaftswachstum, was wiederum die Schuldentragfähigkeit weiter mindert und noch tiefere Zinsen erforderlich macht.

Den Notenbanken ergeht es wie Goethes Zauberlehrling. In ihrem Bemühen, Turbulenzen an den Finanzmärkten und Rezessionen zu bekämpfen, haben sie alles getan, um das Kreditwachstum und damit die Nachfrage zu befeuern. Sie haben das Monster erst geschaffen, das sie nun seit Jahren mit noch mehr Geld vorgeben zu bekämpfen, in Wahrheit jedoch immer mehr füttern. Sie bekommen das Schuldenmonster nicht mehr in den Griff.

Die nächste Krise nur eine Frage der Zeit

Auguren wie der Internationale Währungsfonds sehen zurzeit im Markt für Unternehmensschulden das größte Risiko. Gerade in den USA zeigen sich hier die verheerenden Folgen der Politik des billigen Geldes. Die Unternehmen haben damit Aktienrückkäufen und Übernahmen auf Kredit finanziert, um die Aktienkurse nach oben zu treiben. Statt das Geld produktiv zu verwenden für Investitionen und Innovationen, wurde damit spekuliert.

Wenig verwunderlich verschlechterte sich die Qualität der Schuldner damit deutlich. Nur die Hälfte aller Anleihen erhalten von den Ratingagenturen noch die Note „BBB“, was einer Stufe vor „Müllanleihen“ mit hohem Ausfallrisiko entspricht. Seit 2009 ist das Volumen an „BBB“ Bonds in den USA um fast 230 Prozent auf nunmehr 2500 Milliarden US-Dollar angewachsen. Gut 1000 der 2500 Milliarden Dollar schulden Unternehmen, die so hoch verschuldet sind, dass sie eigentlich auf „Müllanleihen“-Niveau herabgestuft werden müssten. Wie schon in der Finanzkrise vor zehn Jahren dürften die Ratingagenturen erst dann mit Herabstufungen beginnen, wenn es zu spät ist.

Kommt es zu Herabstufungen, drohen massive Kursverluste im Anleihebereich. Zwangsverkäufe von Investoren, die aus regulatorischen Gründen keine „Müllanleihen“ halten dürfen – z. B. große Pensionsfonds –, treffen auf keine oder unzureichende Nachfrage. Die Folge sind hohe Kursverluste und spiegelbildlich drastisch steigende Zinsen für die Unternehmen. Die Folge werden heftige Kursverluste an den Börsen, Insolvenzen und ein Einbruch der Konjunktur sein. Der erneute Auftakt zu einer Deflationsspirale, wie sie Irving Fisher beschrieben hat, diesmal nur mit noch höheren Schulden, noch aufgeblaseneren Vermögenswerten und Notenbanken, die bereits für Billionen Wertpapiere gekauft und das Zinsniveau auf ein historisches Tief gesenkt haben.

Die Behauptung, die Krise sei dank des tatkräftigen Eingreifens der Notenbanken und Regierungen bewältigt, wird trotz gebetsmühlenhafter Wiederholung nicht zutreffender. Richtig ist, dass die Notenbanken in der akuten Phase der Krise mit ihren Maßnahmen eine deflationäre Depression verhindert haben. Ebenso richtig ist jedoch, dass wir ohne die Politik der Notenbanken gar nicht in diese Lage gekommen wären.

Die Notenbanken haben alles getan, um die Grundlage für den nächsten Crash zu legen. Wann er eintritt, kann niemand mit Gewissheit vorhersagen. Was man aber sagen kann, ist, dass es immer weniger gibt, was die Notenbanken dem noch entgegenstellen können. Sie haben sich in eine Sackgasse manövriert und uns alle mit. Keine schönen Aussichten.

Und hier der Link zur Kurzversion: