Die Praxis ent­scheidet

Ist es technisch möglich, Deutschland ausschließlich mit erneuerbaren Energien zu versorgen? Die Antwort der einschlägigen Studien lautet ja. Ist es möglich, dieses Ziel bis zum Jahr 2045 zu erreichen? Hier gilt, in der Theorie ja, in der Praxis nein. Da scheitert es an mangelnden Rohstoffen, fehlenden Fachkräften und noch nicht vorhandener Technologie.

Vor allem stellt sich die Frage: Können wir uns das leisten? Schon im Jahr 2018 bezifferte eine Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie die Kosten auf bis zu 2300 Milliarden Euro.

Die Erhöhung des Anspruchsniveaus seither (frühere und höhere Verfügbarkeit) und die allgemeinen Preissteigerungen dürften die Kosten weiter erhöht haben. Das hätten wir uns in guten Zeiten vielleicht leisten können, angesichts der akuten Krise und des von der Politik hingenommenen Wohlstandsverlusts jedoch immer weniger.

Lohnt der Aufwand? Er lohnt sich, wenn wir auf diesem Weg Zukunftsindustrien in Deutschland aufbauen und künftige Klimafolgeschäden vermeiden. Leider ist beides wenig wahrscheinlich.

Bisher haben wir mit unseren Subventionen den Aufbau neuer Industrien vor allem in China gefördert. Klimafolgeschäden würden nur dann verhindert, wenn alle Staaten der Welt gleichermaßen entschlossen handeln. Davon kann, trotz einiger Fortschritte, keine Rede sein.

Effizienter wäre es, den CO2-Ausstoß in der übrigen Welt zu senken

Bedeutet das, dass wir es gar nicht versuchen sollten? Nein, es bedeutet, dass wir es auf vernünftige Weise versuchen sollten, und zwar auf einem Weg, der unseren Wohlstand erhält und zugleich dafür sorgt, dass die Herausforderung global angegangen wird. Mit 2300 Milliarden Euro würde wohlgemerkt selbst im Erfolgsfall nur der zweiprozentige deutsche Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß auf null reduziert.

Viel effizienter wäre es, dieses Geld oder einen realistischen Teil davon einzusetzen, um in der übrigen Welt, wo das viel billiger zu bewerkstelligen ist, den CO2-Ausstoß zu senken. So könnte man ein Vielfaches der Wirkung erzielten.

Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine ist der wesentliche Pfeiler der bisherigen Energiewende-Politik weggefallen: der verlässliche Zugang zu relativ günstigem russischem Gas.

Ein gleichermaßen billiger Ersatz ist nicht in Sicht, und die erhoffte Umstellung auf Wasserstoff ist nur ein weiteres Projekt, bei dem eine große Lücke zwischen Theorie und Praxis klafft. Die Preise für Strom liegen derweil 50 Prozent über dem Niveau, das noch vor einem Jahr in den Modellen der Klimapolitiker für das Jahr 2030 angepeilt wurde.

All dies verdeutlicht, dass wir nicht einfach weitermachen können wie bisher. Diese Erkenntnis ist in der Politik noch nicht angekommen.

Die Grünen halten am Ausstieg aus der Kernkraft fest. Dabei würde der Weiterbetrieb der sechs noch funktionsfähigen Kraftwerke für einen Zeitraum von zehn Jahren die CO2-Bilanz Deutschlands unmittelbar und deutlich verbessern und uns die Möglichkeit geben, die weiteren Maßnahmen in einem geordneten und tragfähigeren Prozess umzusetzen.

Die FDP irrlichtert unterdessen zwischen „Freiheitsenergien“, „zu teurer Atomkraft“ und Laufzeitverlängerung umher und ist letztlich nur noch damit beschäftigt, die eigene Existenz zu retten. Die SPD verdrängt das Thema und glaubt, durch eine immer weiter gehende Umverteilung und Transfers vor allem an Rentner ihre politische Zukunft retten zu können.

Bei der Opposition sieht es nicht besser aus. Der Union fehlt die Kraft, den überstürzt vollzogenen Atomausstieg unter Merkel als Fehler zu benennen und zu korrigieren.

Die AfD leugnet den Klimawandel und lehnt jegliche Maßnahmen dagegen ab, während die Linke keinen Hehl daraus macht, in der Klimapolitik den Hebel zu sehen, das sozialistische Experiment in Deutschland ein zweites Mal zu probieren.

Und die Wirtschaft? Sie geht nicht auf die Barrikaden, sondern es bilden sich verschiedene Gruppen. Da sind Wirtschaftszweige, die hoffen, von staatlichen Ausgabenprogrammen und Subventionen zu profitieren.

Andere verlagern ihre Aktivitäten ins Ausland, wo bessere Wettbewerbsbedingungen herrschen. Wieder andere resignieren und hoffen, irgendwie über die Runden zu kommen. Alle scheuen sich, in der Öffentlichkeit deutlich Position zu beziehen. Zu groß ist die Angst, als „Klimaleugner“ oder „rückwärtsgewandt“ diffamiert zu werden.

Die Wirtschaft muss endlich klarmachen, dass ein wirtschaftlich schwaches Deutschland weder den Umbau zur Klimaneutralität stemmen kann noch die Finanzierung eines aufgrund der Alterung der Gesellschaft weiter anwachsenden Sozialstaats und auch keine zusätzlichen Transfers im Rahmen der europäischen Solidarität. Eine realitätsorientierte Klima- und Energiepolitik ist überfällig.

handelsblatt.com: “Die Energiewende muss am Machbaren ausgerichtet werden”, vom 30.10.2022