Geldmenge und Inflation

„Sobald eine Regierung versucht, bestimmte finanzielle Indikatoren zu steuern, werden diese als Indikatoren für ökonomische Trends unbrauchbar“, hat der britische Ökonom Charles Goodhart in den 1970er-Jahren erkannt. Das seither als Goodharts Gesetz bekannte Phänomen lässt sich in vielen Bereichen beobachten.

1975 ging es Goodhart um die Geldpolitik, und heute, rund 50 Jahre später, ist es erneut die Geldpolitik, die zu einer Erweiterung von Goodharts Gesetz anregt. Diese könnte lauten: „Sobald der früher zur Steuerung verwendete Indikator nicht mehr beachtet wird, wird er wieder relevant.“ Konkret denke ich an die Bedeutung der Geldmenge für die Inflation.

Seit Jahren gilt die Erkenntnis, dass die Geldmenge keine Rolle für die Inflation spielt, vielen Ökonomen als gesichert. Der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation, der Laien sofort einleuchtet, wird abgelehnt, weil es keinen verlässlichen statistischen Zusammenhang zwischen den beiden Größen gibt. Zahllose Studien haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass die Entwicklung der Geldmengen in unterschiedlichen Definitionen nicht als Indikator für die künftige Inflation taugt.

Selbst der Nobelpreisträger Milton Friedman, der Begründer des Monetarismus, also der Fokussierung auf die Geldmengen, räumte im hohen Alter von 91 Jahren im Gespräch mit der „Financial Times“ ein, sich zu stark auf die Geldmenge konzentriert zu haben.

Zu den Schwierigkeiten der Geldmengensteuerung gehört, dass es unterschiedlich weite Abgrenzungen gibt, was als Geld zählt. In der Definition M3 des Euro-Systems besteht die Geldmenge unter anderem aus Bargeld, Sichteinlagen der Nichtbanken, Spareinlagen und Anteilen an Geldmarktfonds.

Mit der Pandemie änderte sich alles

Kein Wunder also, dass die Notenbanken den Versuch aufgegeben haben, die Geldmenge zu steuern. Sie haben auch aufgehört, auf die Geldmenge zu achten. Die Aufkaufprogramme für Wertpapiere, sogenannte Quantitative Easings, verfolgten nicht das Ziel, die Geldmenge auszuweiten, sondern die mittel- und langfristigen Zinsen zu drücken.

Die Logik schien einleuchtend: Solange die Inflation gering ist, kann die Geldpolitik nicht zu locker sein. Die Folge dieser Sichtweise waren lange Jahre sinkender und sehr niedriger Zinsen. Diese begünstigten hohe Verschuldung und steigende Vermögenspreise, führten aber tatsächlich nicht zu Inflation.

Mit der Coronapandemie änderte sich das. Die Geldmengen stiegen erheblich und mit einiger Verzögerung auch die Preise. Einen Zusammenhang wollten Notenbanken und Ökonomen aber nicht sehen. Die als vorübergehend eingestufte Inflation sei auf gestörte Lieferketten zurückzuführen. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Geldpolitik einen nicht geringen Anteil an der Inflation hatte.

Der langjährige Chef der Bank of England, Mervin King, sieht die Ursache in einem „intellektuellen Fehler“. Die Notenbanken hätten einen von Akademikern entwickelten Ansatz verfolgt, der besagte, Inflation sei vollständig von Inflationserwartungen bestimmt. Solange diese niedrig seien, komme es nicht zur Inflation.

Die Bundesbank musste im Januar aber einräumen, dass die Geldpolitik doch einen Anteil am starken Inflationsanstieg des letzten Jahres hatte. Deutlicher wurde die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). In einer Studie rechnen die Ökonomen vor, dass es sehr wohl einen statistischen Zusammenhang zwischen der Geldmenge und der Inflation gebe. Allerdings sei dieser nur im Umfeld höherer Inflationsraten gegeben.

Geldmenge gehört rehabilitiert

Übersetzt kann man sagen: Solange die Inflation tief ist, spielt die Geldmenge in der Tat keine Rolle, sobald die Inflation anzieht, wird sie wieder relevant und kann zudem die Inflationsprozesse zusätzlich befeuern. Der Irrtum der Ökonomen bei den Inflationsprognosen war in jenen Ländern und Regionen besonders groß, in denen die Geldmenge besonders stark gestiegen ist.

Für eine Rückkehr der Geldmengensteuerung einzutreten wäre falsch. Aber als Indikator für Inflationsgefahren in der Realwirtschaft und Blasenbildung in den Vermögensmärkten gehört die Entwicklung der Geldmenge rehabilitiert.

→ handelsblatt.com: “Die Notenbanken haben Mitschuld an der Inflation“, 16. April 2023