Die gefährliche Grat­wan­derung der EZB

Aufgrund der Rekord-Inflation im Euroraum sieht sich die Europäische Zentralbank (EZB) jetzt gezwungen, die Zinsen anzuheben. Im Juli sollen die Leitzinsen um jeweils 25 Basispunkte steigen. Mutmaßlich ist es nicht der letzte Zinsschritt der Notenbank. Aber hat die Zinswende überhaupt den erwünschten Effekt? Eine Einschätzung des Cicero-Finanzexperten Daniel Stelter.

Nach nunmehr zehn Jahren der ultralockeren Geldpolitik hat die EZB erklärt, ab kommenden Monat die milliardenschweren Anleihekäufe einzustellen und die Leitzinsen in einem ersten Schritt um einen Viertelprozentpunkt zu erhöhen. Damit bleiben die Einlagenzinsen für Banken trotz einer Rekordinflation im negativen Bereich.

Inflation hat viele Erklärungen

Überhaupt die Inflation: Die EZB und ihr nahestehende Ökonomen werden nicht müde zu betonen, dass die Notenbank nichts dafür kann, wenn Lieferketten gestört, Öl knapp ist, schon gar nicht etwas für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Insofern könne die Notenbank auch wenig tun, außer eine ohnehin schon fragile Wirtschaft in die Rezession zu zwingen, um über den Umweg von Arbeitslosigkeit und Nachfragerückgang den Preisanstieg zu dämpfen. In der Tat eine Argumentation, die nicht von der Hand zu weisen ist.

Ohnehin gibt es keine einfachen Erklärungen für Inflation. Einige Ökonomen sehen Inflation immer als Folge von Kostendruck. Steigen irgendwo in der Lieferkette die Kosten, geben dies die verschiedenen Produktionsstufen weiter, bis es sich schließlich in der allgemeinen Preissteigerung niederschlägt. Andere wiederum, vor allem die Anhänger der Theorien von John Maynard Keynes, betonen die Schwankungen in der Nachfrage und setzen deshalb darauf, diese zu steuern. Weitere Ökonomen betonen, dass die Inflationsrate nicht richtig gemessen wird und vor allem die Preissteigerungen bei Vermögenswerten, vor allem Immobilien, in die Messung der Inflation einbezogen werden müssten. Nicht vergessen werden dürfen die Theorien zu den Folgen von Globalisierung und Deglobalisierung und natürlich der Demografie.

Jede dieser Inflationstheorien hat in der Vergangenheit funktioniert, aber eben nicht immer. Das gilt auch für eine Theorie, die in den letzten Jahrzehnten deutlich an Einfluss verloren hat: der Monetarismus. Kritiker der Geldmengenlehre der Inflation betonen zurecht, dass die Korrelation zwischen dem Wachstum der Geldmenge und der Inflationsrate in den letzten Jahrzehnten signifikant abgenommen hat. Bewirkte 1980 ein Anstieg der Geldmenge um 1%-Punkt noch eine Preissteigerung von 0,5%-Punkten sank der Wert auf 0,08. Dahinter stehen neben einem deutlichen Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes die Faktoren Globalisierung und Demografie und der Aspekt der deutlich gestiegenen Kreditvergabe zum Erwerb von Vermögenswerten. Die anderen Theorien waren einfach besser.

Die Notenbanken haben Mitschuld

2020 dürfte das Jahr sein, in dem der Monetarismus zu einer Renaissance ansetzte. Wer auf die Entwicklung der breiten Geldmengen achtete, konnte sehen, dass die Inflation kräftiger und nachhaltiger zurückkehrt. In der Spitze wuchs die Geldmenge M2 in den USA mit einer Jahresrate von 27,5 Prozent. In der Eurozone war es mit 11,5 Prozent deutlich weniger, aber immer noch mehr als doppelt so viel wie in den Jahren davor. Dieses Geld fachte die Nachfrage an, die in Kombination mit den unstrittigen Problemen auf der Angebotsseite zwangsläufig zu höherer Inflation führen musste. Regionen mit geringerem Wachstum der Geldmenge wie Japan und die Schweiz haben nicht zufällig auch geringere Inflationsraten.

Absehbar ist das auch am deutlichen Anstieg der Immobilienpreise. Wenn in den USA die Hauspreise innerhalb von zwölf Monaten um 18 Prozent steigen, hat das nichts mit Lieferkettenproblemen oder gestiegenen Energiepreisen zu tun. Es ist einfach die Folge von zu viel Geld, das Nachfrage schafft.

Insofern können die Notenbanken noch so sehr auf die Sonderfaktoren verweisen. Ohne die übermäßig großzügige Versorgung der Wirtschaft mit Geld hätte es diesen Inflationsschub nicht gegeben. Faktisch haben die Notenbanken den Staaten das Geld geliefert, welches diese im Zuge der Coronakrise in die Wirtschaft gepumpt haben. Dieses Geld findet seinen Weg in die Märkte und wenn die Märkte nicht liefern können, steigen die Preise.

Zu spät

Das Problem an der Rückbesinnung der EZB auf ihre eigentliche Kernaufgabe, die Sicherung der Kaufkraft des Geldes, statt der zuletzt verfolgten Ziele von Staatsfinanzierung bis zur Unterstützung im Kampf gegen den Klimawandel, liegt im Zeitpunkt. Nicht nur ist die Gefahr groß, dass die Inflation sich verfestigt. Genauso groß ist das Risiko, dass die Wirtschaft in die Rezession stürzt. Vergessen wir nicht, dass ein Zinsanstieg um einen Prozentpunkt, die Zinslast in der Eurozone und den USA um rund 3-Prozentpunkte vom BIP ansteigen lässt.

Insofern ist die EZB natürlich viel zu spät dran mit ihrem noch dazu überaus vorsichtigen Bremsmanöver. Der Punkt, an dem man die Wirtschaft nur leicht dämpfen musste, um den Preisanstieg und vor allem eine sich verselbstständigende Inflationsdynamik zu vermeiden, dürfte hinter uns liegen. Das Risiko einer deutlichen Bremsung der Realwirtschaft ist erheblich. Kein Wunder, dass die Börsen und Immobilienmärkte angesichts der weltweiten Verknappung an Liquidität – die US-Fed und die Bank of England haben schon vor Monaten angefangen zu straffen – den Rückwärtsgang einlegen.

Der Grat, auf dem die EZB wandert, wird immer schmaler. Strafft sie zu rasch, stürzen die Vermögensmärkte, kommen die Schuldner – nicht nur, aber vor allem auch die hoch verschuldeten Staaten der Eurozone – ins Straucheln und fällt die Wirtschaft in die Rezession. Strafft sie unzureichend, verfestigt sich die Inflation und das Vertrauen in das Geld schwindet. Mitleid haben die Notenbanker nicht verdient, haben sie uns doch in diese Situation geführt und durch ihr zögerliches Handeln die Absturzgefahr in beide Richtungen deutlich erhöht.

Daumen halten sollten wir trotzdem, dass es klappt. Im eigenen Interesse.

 cicero.com: “Der Weg aus dem Schlamassel wird zur gefährlichen Gratwanderung”, 10. Juni 2022