Die Europäische Zentral­bank trägt die Verant­wortung für die Inflation

„Wenn es regnet und man wird nass, ist ohne Zweifel der Regen daran schuld. Aber auch man selbst, wenn man seinen Regenschirm nicht benutzt“. So bringt der an der London School of Economics lehrende Ricardo Reis seine Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB) auf den Punkt. Anders als viele Ökonomen hierzulande, die die EZB mit Blick auf die stark gestiegene Inflation für unschuldig halten oder gar die erneute und anhaltende Intervention am Anleihemarkt zugunsten hoch verschuldeter Länder wie Italien begrüßen, sieht Reis ein anhaltendes Versagen der Notenbank.

Nachdem Reis seine Analyse in verschiedenen Diskussionsforen von Notenbanken vorgestellt hat, ist sie nun unter dem Titel: „The Burst of High Inflation in 2021–22: How and Why Did We Get Here?“ nachzulesen, auf deutsch: „Der Ausbruch der hohen Inflation in den Jahren 2021–22: Wie und warum kam es dazu?“.

Reis identifiziert darin vier grundlegende Fehler der Notenbanken, allen voran der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) und der EZB, die ursächlich für die hohe Inflation sind. Erstens hätten sie die ökonomischen Verwerfungen der Jahre 2020 bis 2022 wie die Energiekrise immer auf eine Art und Weise analysiert, die weiterhin eine extrem lockere Geldpolitik rechtfertigte und ihre Einschätzung auch dann nicht korrigiert, als die tatsächliche Entwicklung der Wirtschaft deutlich besser war als erwartet.

Die Notenbanken haben zweitens zu sehr darauf vertraut, dass die Inflationserwartungen fest verankert waren und nicht erkannt, wie deutlich sich die Erwartungen verändert haben. Drittens haben sie ihre eigene Glaubwürdigkeit überschätzt. Doch diese ging rasch verloren, was auch mit dem vierten Fehler zusammenhängen dürfte.

EZB muss Inflation stärker bekämpfen

Kurz vor Beginn der Coronakrise hatten die Fed und die EZB ihre Strategien überprüft, mit dem Ergebnis, dass sie das Niveau des sogenannten „neutralen Zinses“, also des Zinsniveaus, bei dem inflationsfreies Wachstum stattfindet, zu gering ansetzten. Das führte zu dem Bekenntnis, alles zu tun, um die Wirtschaft zu stimulieren und eine höhere Inflation anzustreben. Aus all dem folgte, dass die Notenbanken ihre eigentliche Aufgabe, die Inflationsbekämpfung, nicht richtig wahrgenommen haben.

Und nun? Reis’ deutliche Forderung: Die EZB muss klar machen, dass sie alles Erforderliche tun wird, um die Inflation zu bekämpfen, und sie muss die Zinsen deutlich erhöhen. Noch sind wir weit vom neutralen Zinsniveau entfernt, das eher bei vier bis sechs Prozent anstatt bei nahe Null liegt, weshalb weitere Zinserhöhungen keineswegs in eine Rezession führen müssen.

Handelt die EZB nicht entsprechend, droht eine weitere deutliche Abwertung des Euro, mehr importierte Inflation und damit jahrelang deutlich höhere Inflationsraten. Ich bin angesichts der Handlungen der EZB in den letzten Monaten zunehmend skeptisch, dass sie das tun wird, was erforderlich ist.

handelsblatt.com: “Die Europäische Zentralbank trägt die Verantwortung für die Inflation”, vom 27.08.2022