Die EU darf kein Elitenprojekt bleiben

Man merkt, es ist Wahlkampf und die Unruhe nimmt zu. Wird es den „Europäern“ gelingen, einen weiteren Zuwachs der „Anti-Europäer“ zu verhindern, trotz Orban, Salvini und Le Pen und der Teilnahme der eigentlich schon fast ausgetreten Briten an der Europawahl, die den Brexit-Organisator und harten EU-Gegner Nigel Farage mit einer großen Mehrheit nach Brüssel schicken werden? Wird es am Ende dazu führen, dass Angela Merkel, wie jüngst von ihr selbst angedeutet und dann wieder dementiert, als Retterin nach Brüssel wechselt, um von dort aus die Ideale Europas zu verteidigen?

Sorgen sind nicht unberechtigt: Das Wohlstandsversprechen, das die EU gegeben hat, wird spätestens seit 2008 nicht mehr erfüllt. Davor trugen der Binnenmarkt und vor allem der vom Euro ausgelöste Verschuldungsboom in den heutigen Krisenländern zu einer Wohlstandsillusion bei. Sinkende verfügbare Einkommen, Unfähigkeit der Regierungen, die Ursachen zu bekämpfen, und die als „Flüchtlingskrise“ unzureichend beschriebene Migrationskrise machen das Haus EU mitsamt seinem Zahlungsmittel Euro immer unwohnlicher.

Wie unwohnlich zeigen die Wahlergebnisse in Italien und die Revolten in Frankreich. Bei den Protesten der Gelbwesten fällt auf, dass es sich nicht um die üblichen Verdächtigen handelt, die da auf die Straßen gehen. Es ist vielmehr die bürgerliche Mittelschicht, die angesichts explodierender Abgabenlasten und verschlechterter Lebensbedingungen protestiert. Was liegt näher, als diesem Unmut auch an der Wahlurne Ausdruck zu verleihen?

Deutschland – der Euro-Gewinner?

Bei uns in Deutschland gibt es diese Probleme nicht. Um dennoch auf Nummer sicherzugehen, werden Medien und Politiker nicht müde, uns an den Nutzen der EU zu erinnern. So erschienen pünktlich zur Wahl gleich mehrere Studien, die vom wirtschaftlichen Nutzen von EU und Euro berichten:

  • Letzte Woche wurde auf allen Kanälen von einer Studie der Bertelsmann Stiftung berichtet, die zeigen würde, dass „Deutschland der große Gewinner der EU sei“. Wenn man genauer hinsieht, ging es weniger um die EU als um den Binnenmarkt, und der Hauptgewinner war nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die bekanntlich nicht Mitglied der EU ist. Ohnehin war es eine Studie auf dem Niveau: „Wird es wärmer, wenn die Sonne scheint?“, profitieren doch naturgemäß jene Länder und Regionen von einem Binnenmarkt besonders, die stark im Export sind. Das Ergebnis stand also schon vor dem Beginn der Berechnungen fest.
  • In die ähnliche Kategorie fällt eine ebenfalls viel zitierte Studie des Centrums für Europäische Politik unter dem Titel: „20 Jahre Euro: Verlierer und Gewinner“. Die Autoren vergleichen dabei die Entwicklung der deutschen Wirtschaft mit jener Japans in den letzten 20 Jahren (!), ohne dabei zu berücksichtigen, dass in Japan der demografische Niedergang schon zehn Jahre vor uns eingesetzt hat. Kein Wunder, dass sie Deutschland zum großen Gewinner erklären. Rechnet man zudem sauber mit der Entwicklung des BIP pro Erwerbstätigen sieht man allerdings, dass Japan mit einem Plus von 20 Prozent deutlich vor Deutschland mit 14 Prozent liegt. Selbst Großbritannien liegt mit 17 Prozent vor uns.

Diese offensichtlichen Schwächen ändern nichts daran, dass die Studien von den Medien ungeprüft verbreitet werden und so die Einstellungen zu EU und Euro beeinflussen.

Dabei kann man durchaus differenziert auf den Nutzen des Euro für Deutschland blicken:Im Kern ist der Euro ein Subventionsprogramm für die exportorientierten Unternehmen, das wir selbst bezahlen. Wir haben weniger Kaufkraft im In- und Ausland, stagnierende Löhne und bauen Forderungen auf – Stichwort TARGET2 – deren Werthaltigkeit zumindest fraglich ist. Zugleich stagnieren die Produktivitätsfortschritte hierzulande, was die künftige Wettbewerbsfähigkeit und damit unseren Wohlstand gefährdet.

Die ungelöste Eurokrise

Hinzu kommt, dass die Eurokrise bis heute nur von wenigen als das verstanden wird, was sie eigentlich ist: die Folge eines schuldenfinanzierten Booms, der zu einer untragbaren Last an faulen Schulden geführt hat und Länder, deren Wirtschaften eigentlich konvergieren sollten, weiter auseinandertrieb. So zeigen Studien des IWF eindeutig, dass es statt der erhofften Konvergenz immer mehr Divergenz gibt. JP Morgan rechnet vor, dass eine hypothetische Währungsunion aller Länder der Welt, die mit einem „M“ beginnen, mehr Gemeinsamkeiten hätte als die Mitgliedsländer der Eurozone.

Die Eurozone,

  • bleibt gefangen in einer Dauerstagnation bedingt durch zu viele faule Schulden, rückläufige Erwerbsbevölkerung, schwaches Produktivitätswachstum, Reformstau und eine Mentalität, die die Umverteilung von Wohlstand über die Schaffung von Wohlstand stellt.
  • ist unfähig, die erforderliche politische Antwort auf diese Krise zu geben. Weder die deutsche Sparpolitik noch die Schuldenwirtschaft in Südeuropa sind die richtige Lösung. Was wir brauchen, sind Schuldenrestrukturierungen, Reformen und eine Neuordnung der Eurozone. In keinem der drei Punkte ist auch nur ansatzweise ein Fortschritt zu sehen.
  • besteht nur noch dank der Geldschwemme der EZB, die die Zinsen zusätzlich gedrückt hat und so die unweigerliche Pleite nur aufschiebt. Die gekaufte Zeit wird von den Politikern nicht genutzt, weshalb die EZB in einer Abwärtsspirale gefangen bleibt und immer mehr sowie immer billigeres Geld in das System pumpen wird.

Kommt es nun zu einer erneuten Rezession in der Eurozone – vielleicht gar ausgelöst durch den Brexit –, ist der politische Zusammenhalt noch mehr gefährdet.

Keine einfache Lösung

Jede ernsthafte Sanierung der Eurozone setzt voraus, dass

  • die faulen Schulden von Privaten und Staaten restrukturiert werden. Die Größenordnung dürfte bei mindestens 3.000 Milliarden Euro liegen.
  • das Bankensystem der Eurozone rekapitalisiert wird, um wieder funktionsfähig zu werden. Der Bedarf dürfte bei rund 1000 Milliarden liegen.
  • die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer (wieder) hergestellt wird oder aber, wenn dies nicht erzielbar ist, Länder, die auf Dauer nicht im Euro bestehen können, aus der Eurozone austreten.

Wenn Schulden abgeschrieben werden, verlieren die Gläubiger. Im Falle der Eurozone sind das vor allem wir Deutschen. Kein Wunder, dass auch die Berliner Politik lieber auf Zeit gespielt – mit billigem Geld der EZB –und auf ein Wunder hofft. Das Wunder wird aber nicht eintreten.

Stattdessen werden die Forderungen nach einer Transferunion immer lauter – je nach Variante mit europäischem Finanzminister und -budget, europäischer Arbeitslosenversicherung und Bankenunion. Faktisch geht es dabei immer um den Versuch, die noch gegebene Verschuldungskapazität Deutschlands für die schon hoch verschuldeten Südländer und Frankreich zu mobilisieren. Dabei,

  • rechnet der IWF vor, dass die staatlichen Transfers gar nicht groß genug sein könnten, um die fehlenden privaten Kapitalströme zu kompensieren. Selbst in Ländern wie Deutschland und den USA werden 80 Prozent eines wirtschaftlichen Schocks durch Private aufgefangen, ein Mechanismus, der in der Eurozone nicht funktioniert, was auch an der schon sehr hohen Verschuldung liegt.
  • zeigt die Erfahrung Italiens, dass eine Transferunion die wirtschaftlichen Unterschiede eher zementiert als löst. Auch nach mehr als 100 Jahren Transfers ist der Süden des Landes das Armenhaus.
  • entspräche eine europäische Transferunion einer Umverteilung von arm zu reich, sind doch die deutschen Privathaushalte deutlich ärmer als jene in Italien, Frankreich und Spanien.
  • wären wir angesichts unserer demografischen Entwicklung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Wirtschaftswachstum und Staatshaushalt gar nicht auf Dauer in der Lage, die anderen mitzuziehen.

Insofern mag es nach der Europawahl, gerade dann wenn die EU-kritischen Kräfte deutlich hinzugewinnen, zu einer Transferunion kommen, diese würde aber wie auch die Politik des billigen Geldes der EZB nur Zeit kaufen und an den grundlegenden Problemen der zu hohen Schulden und der divergierenden Wettbewerbsfähigkeit nichts ändern.

Damit wird sich die Eurozone aber weiterhin nur schwach wirtschaftlich entwickeln, abgesehen von kurzen Erholungsphasen. Die politische Unzufriedenheit wird deshalb weiter zunehmen, weil die EU das zentrale Wohlstandsversprechen immer weniger erfüllt.

EU als Elitenprojekt

Der französische Autor Christophe Guilluy diagnostiziert angesichts der Proteste der Gelbwesten eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in drei Kreise:

  • Der innere Kreis besteht demnach aus den städtischen Eliten. Menschen mit guter Bildung, die von der Globalisierung profitieren und überwiegend im Finanzsektor, den Medien, wissensbasierten Berufen und bei der Regierung arbeiten. Diese verdrängen zunehmend die anderen Bevölkerungsgruppen an den Rand und haben mit diesen wenig bis keinen Kontakt.
  • Im mittleren Kreis sieht Guilluy die Bewohner der Vororte und der ärmeren Stadtteile, überwiegend Migranten. Diese würden den Eliten des inneren Kreises als Kindermädchen, Köche und Taxifahrer dienen und ansonsten überwiegend von staatlicher Sozialhilfe leben.
  • Im äußeren, dritten Kreis verortet er die übrige Bevölkerung, die in Nebenzentren oder auf dem Land lebt, von der Globalisierung nicht profitiert und auch von den sozialen Leistungen des Staates wenig hat, diese aber überwiegend finanziert. Im Unterschied zu den Eliten des inneren Kreises kann diese Bevölkerungsgruppe höherer Steuer- und Abgabenlast nicht dadurch ausweichen, dass sie in ein anderes Land zieht. Deshalb greift der Staat vor allem hier zu.

Ein Bild, was sich in gleicher Form auf andere Länder übertragen lässt. Das Votum für den Brexit dürfte in dieser Unzufriedenheit eine wesentliche Ursache haben, wie auch der Erfolg Donald Trumps und der Zuspruch für die aktuelle italienische Regierung. Bei uns in Deutschland wird die Unzufriedenheit noch durch die momentan gute Konjunktur unterdrückt. Spätestens wenn dieses Märchen vom reichen Land mit der Wirklichkeit konfrontiert wird, dürfte es mit der Ruhe vorbei sein.

In der Vergangenheit konnten die Staaten die Differenzen zwischen den Gruppen noch durch Umverteilung auffangen. Doch dies geht immer weniger, namentlich in Frankreich, das schon heute auf dem Weg ist, ein viel größeres Problem als Italien zu werden. Die Schulden sind mit rund 100 Prozent vom BIP nur noch eine Rezession vom italienischen Niveau entfernt. „Sparen“ ist ein Fremdwort für die französischen Regenten, egal welcher Couleur und es ist offensichtlich, worum es bei der ganzen Diskussion um Eurozonen-Budget und Finanzminister geht: um den Griff in das Portemonnaie der anderen Euro-Staaten – namentlich Deutschland – um weitermachen zu können wie bisher.

Die EU ist derweil immer mehr zu einem Projekt der Eliten geworden. Umfragen zeigen schon länger eine zunehmende Spaltung zwischen den sogenannten Eliten und dem allgemeinen Volk. Letzteres ist nicht nur deutlich negativer zur Migration eingestellt, sondern auch zu einer größeren Rolle der EU. Während die Eliten, vor allem hier bei uns in Deutschland, im Aufgehen des Nationalstaates im europäischen Projekt das politische Ziel sehen, betonen die Bewohner des „dritten Kreises“ den Nationalstaat.

Während also die Privilegierten des inneren Kreises mehr Umverteilung in der Eurozone begrüßen, lehnen die Bewohner des äußeren Kreises dieses deutlich ab.

Das eklatante und offensichtliche Versagen der EU und der Führungsschicht, die Migration zu kontrollieren, trifft wiederum die Menschen im dritten Kreis überproportional. Während die Einwanderung Geringqualifizierter das Lohnniveau drückt und damit den Lebensstandard der Eliten hebt, sehen sich immer größere Teile der Bevölkerung einem intensiveren Wettbewerb ausgesetzt: um Arbeitsplätze, um Wohnraum und um Sozialleistungen.

Die Vorstellungen der Politik, durch eine „sozialere“ Gestaltung der EU den gefühlten Wohlstand und damit die Attraktivität der EU zu erhöhen, werden das Gegenteil bewirken: Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Verteilung vor Schaffung von Wohlstand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aussichten, weil unsere Handelsüberschüsse fälschlicherweise mit Reichtum gleichgesetzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU-Ländern das Privatvermögen pro Kopf deutlich über hiesigem Niveau liegt.

Wandel oder Untergang

Egal wie es mit dem Brexit weitergeht, die Zentrifugalkräfte innerhalb der EU und der Eurozone nehmen zu. Das spüren auch die Bürger, wie Umfragen zeigen. Immerhin halten es mehr als 50 Prozent der Befragten in Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Polen, Ungarn, Griechenland und Rumänien für ziemlich wahrscheinlich, dass die “derzeitige Europäische Union in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren auseinanderfallen wird”.

Solange die Spitze der Gesellschaft sich weigert, das Risiko ernst zu nehmen, ist der Untergang sicher. In Italien haben wir schon eine Regierungskonstellation, die sich durch EU- und Euro-Gegnerschaft auszeichnet. Kommt es zu einer Rezession in Europa, dürfte auch in anderen Ländern die Kritik an Brüssel deutlich zunehmen. Bevölkerungen, die Dauerstagnation und Sparen satthaben, wählen „radikale“ oder „populistische“ Parteien. Noch ist eine Mehrheit der Bürger für einen Verbleib in EU und Euro, selbst in Italien. Doch schon in der letzten Krise sank die Zustimmung deutlich. Bei dieser Ausgangslage kann die Stimmung rasch kippen.

Italien und Frankreich bleiben die Hauptkandidaten für einen Austritt. „Frexit“ und „Uscitalia“ werden in den kommenden Jahren auf die Agenda kommen. Beide Länder haben seit Einführung des Euro massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren, leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, schwachem Wachstum und aus dem Ruder gelaufener Staatsverschuldung. Beide haben mit Blick auf die Schuldenlast den Point of no Return schon lange hinter sich gelassen. Es ist schlichtweg nicht mehr möglich, so viel zu sparen oder das Wirtschaftswachstum so zu steigern, dass die Schuldenquote relativ zum BIP stabil bleibt, rechnet McKinsey vor.

Was zu tun ist, ist offensichtlich. Die EU muss Politik für den „dritten Kreis“ machen, wie Christophe Guilluy es nennt:

  • Steigerung des Wirtschaftswachstums durch Strukturreformen, die den Namen verdienen
  • Korrektur des Eurofehlers durch Bereinigung der faulen Schulden von Staaten und Privaten (Banken) mit Hilfe der EZB
  • Reduktion der Abgabenlast vor allem für die unteren Einkommensgruppen
  • Wirksame Begrenzung der Zuwanderung durch Schutz der Außengrenzen und Orientierung der Zuwanderung an den eigenen ökonomischen Interessen
  • Dezentralisierung statt Zentralisierung von Entscheidungen in Europa; so viel Subsidiarität wie möglich
  • Bund von Nationalstaaten statt Superstaat durch Aufgabe der Idee der zunehmenden Zentralisierung. Die Bürger müssen wieder näher an die Entscheidungen kommen.

Zielbild wäre eine EU, die sich auf wenige Kernaufgaben beschränkt, vor allem den Binnenmarkt, gemeinsamen Schutz der Außengrenzen und Verteidigung. Dieser Wandel wäre möglich, allerdings setzt er eine Abkehr der EU-Eliten vom bisherigen Kurs voraus. Wahrscheinlicher ist, dass sie am bestehenden Kurs festhalten und damit scheitern. Mit weitaus verheerenderen Konsequenzen als ein freiwilliger Wandel je haben könnte.