Deutschlands nied­rige Schulden-Zinsen sind kein unver­dientes Privileg

Es ist sicher nicht schön, in einer Gruppe, zu der man gern gehört, Buhmann zu sein. So erging es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), als ihm beim EU-Gipfel in Prag mit Blick auf den 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm der Bundesregierung „unsolidarisches Verhalten“ vorgeworfen wurde.

Der Vorwurf ist unbegründet. Denn die Zahlungen verteilen sich über zwei Jahre und sind angesichts der Größe der deutschen Volkswirtschaft nicht unangemessen. Andere Staaten, allen voran Frankreich, haben bereits früher im Volumen vergleichbare Maßnahmen ergriffen.

Letztlich ist die Kritik nur ein vorgeschobenes Argument, um das eigentliche Ziel einer Transfer- und Schuldenunion zu erreichen. Scholz, dessen SPD dieses Ziel teilt, scheint wie schon als Finanzminister bereit zu sein, gemeinsamen EU-Schulden zuzustimmen, auch wenn dies offiziell noch dementiert wird. Allein auf das Gerücht hin stiegen die Zinsen deutscher Staatsanleihen, während die von Italien sanken.

Einige Ökonomen sehen in der Schuldenunion das Aufgeben eines „unverdienten Privilegs“ Deutschlands. Das angebliche „Privileg“ liegt in den niedrigeren Zinsen, die Deutschland auf seine Staatsschulden bezahlen muss. Der Zinsvorteil des Staates schlägt auf die ganze Volkswirtschaft durch und ist durchaus erheblich.

Verlieren wir diesen Vorteil, indem wir in eine Schuldenunion eintreten, müssen alle Schuldner in Deutschland mehr für den Schuldendienst bezahlen. Ein Anstieg um einen Prozentpunkt wäre denkbar, was immerhin einer Mehrbelastung von rund 65 Milliarden Euro pro Jahr entspricht. Im Gegenzug würden die Zinsen vor allem in Italien sinken.

Das verdeutlicht, dass es sich um eine weitere Form des Transfers zwischen den Euro-Ländern handelt, neben schon eingeführten offenen und verdeckten Transfers wie durch den Wiederaufbaufonds oder das Wirken der Europäischen Zentralbank.

Aber ist dieser Vorteil tatsächlich unverdient? Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft Europas mit der geringsten Staatsverschuldung und zahlt deshalb weniger Zinsen als andere. Das ist nicht unverdient. Man könnte argumentieren, dass Sorgen um die Stabilität des Euros und die Tragfähigkeit von Schulden in anderen Mitgliedsländern eine Kapitalflucht nach Deutschland begünstigen, die die deutschen Zinsen zusätzlich drückt. Doch auch dies ist nicht unverdient, sondern Ergebnis einer besseren Politik.

Angesichts der demografischen Entwicklung, der energiepreisbedingten Deindustrialisierung und der Neigung der Politik, Krisensymptome mit Schuldenmilliarden zu kaschieren, statt die Ursachen zu bekämpfen, droht Deutschland ohnehin der Verlust des Privilegs. Es schon vorher freiwillig zu opfern beschleunigt lediglich den Niedergang, ohne die Probleme des Euros auch nur ansatzweise zu lösen.

 handelsblatt.com: “Deutschlands niedrige Schulden-Zinsen sind kein unverdientes Privileg”, vom 14.10.2022