Der Staat steht hinter der In­flation

Höhere Zinsen mögen die Inflation kurzfristig dämpfen, führen aber mittelfristig zu höherer Inflation. Diese auf den ersten Blick überraschende These vertritt der an der Universität Stanford lehrende US-Ökonom John Cochrane.

Cochrane stellte fest, dass in den vergangenen Jahren alle gängigen Modelle der Inflationserklärung versagt hätten – und entweder die lange Phase geringer Inflation bis zur Coronapandemie nicht erklären oder den Inflationsschub nach der Pandemie nicht voraussehen konnten.

Der Ökonom legte daher eine alternative Inflationstheorie vor: die Fiscal Theory of the Price Level (FTPL), die Fiskalische Theorie des Preisniveaus. Demnach ist es die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen, die über das Preisniveau entscheidet.

Ausgangspunkt ist die zutreffende Überlegung, dass das im Umlauf befindliche Geld, genauso wie Staatsanleihen, eine Verbindlichkeit des Staates darstellt. Diese Verbindlichkeiten müssen durch gegenwärtige und zukünftige Einnahmen aus Steuern und anderen Einnahmequellen gedeckt werden.

Solange die Bürger davon ausgehen, dass die Staatsfinanzen nachhaltig stabil sind, also die Defizite nicht zu groß sind und es potenziell weitere Steuereinnahmen geben könnte, verändern sie ihr Ausgabeverhalten nicht.

Regierungen konnten Inflation nach der Weltfinanzkrise verhindern

Sobald Zweifel an der Stabilität aufkommen, reduzieren sie ihren Geldbestand und fragen mehr Waren und Dienstleistungen nach. Die Preise beginnen zu steigen, und zwar so lange, bis das durch die Inflation aufgeblähte, nominale Bruttoinlandsprodukt wieder ausreicht, um nachhaltig stabile Staatsfinanzen zu sichern.

So kann FTPL erklären, warum es nach 2008 keine Inflation gab, obwohl die Menge der von den Staaten ausgegebenen Staatsanleihen in die Höhe schoss und der Geldumlauf zunahm. Dies lag gemäß dieser Theorie daran, dass die Regierungen glaubhaft machen konnten, die neuen Schulden durch höhere künftige Steuereinnahmen und geringere Ausgaben auszugleichen.

Ebenso wenig überraschend ist aus dieser Sicht umgekehrt, dass ein Defizit von mehr als zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts, welches die USA im Jahr 2020 aufwiesen, inflationär wirkt. Die Bürger gingen nicht mehr davon aus, dass die zusätzlichen Schulden durch Einsparungen oder Abgabenerhöhungen kompensiert werden würden. Abgeschwächt lässt sich das auch für den Euro-Raum sagen.

Wie immer bei solchen Theorien kann man berechtigt die Frage aufwerfen, ob die Bürger wirklich – ähnlich wie Aktienanalysten – die künftigen Zahlungsströme des Staates analysieren, um ihr Ausgabeverhalten zu bestimmen. Das machen sie natürlich nicht.

Zinserhöhungen bekämpfen die Inflation nicht nachhaltig

Cochrane würde den Effekt deshalb eher mit dem Run auf Banken vergleichen. Auch die Qualität der Bilanz einer Bank, bei der die eigenen Ersparnisse liegen, überprüfen die Einleger nicht ständig – bis zu dem Punkt, an dem ernste Zweifel aufkommen und erst einige, dann alle ihr Geld abziehen.

So sei es auch beim Staat: Es gibt einen Kipppunkt, dem man am besten nicht zu nahekommt.

Und was bedeutet das für die Geldpolitik? Erhöht die Notenbank den Zins, um die Inflation über eine Reduzierung der Nachfrage zu dämpfen, wirkt das zunächst wie gewünscht. Gleichzeitig steigt aber die Zinsbelastung für den Staat und damit das Defizit. Die Folge: Die Inflation zieht erneut an. Ein Phänomen, das bereits in der Inflationsphase der 1970er- bis 1980er-Jahre zu beobachten war.

Überwunden wurde die Inflation damals erst durch eine Kombination von strafferer Geldpolitik, Haushaltskonsolidierungen und strukturellen Reformen, die das Wachstumspotenzial der Wirtschaft erhöhten.

Genau diese Mischung werden wir auch diesmal benötigen. Da es noch einige Inflationsschübe dauern wird, bis Erkenntnis und Bereitschaft bei der Politik in der Euro-Zone reifen – so diese überhaupt zu erreichen sind – wissen wir, worauf wir uns einstellen müssen.

→ handelsblatt.com: “Der Staat ist schuld an der Inflation”, 21. Mai 2023