„Der Brexit ist die Folge der deut­schen Krisen­politik“

Dieser Kommentar erschien bei Cicero.de:

Deutschland hat mit seiner Krisenpolitik erhebliche wirtschaftliche Ungleichgewichte ausgelöst, die auch die Briten verunsichert haben. Ändert die Bundesregierung nicht schnell den Kurs, werden auch andere Staaten aus der EU austreten.

Was hat man den Engländern nicht gedroht! Erhebliche negative wirtschaftliche Konsequenzen würde ein Brexit haben. Europa könne leicht ohne die Engländer, England jedoch nicht ohne Europa. Niemand, der vernünftig sei, könne ernsthaft einen Brexit befürworten. Gerade die Kommentatoren aus Deutschland bemühten sich redlich, nur kein Verständnis für die abwegige Idee aufzubringen. Die Engländer offensichtlich schon. Eine Mehrheit bevorzugt es, außerhalb der EU weiter zu machen.

In der Tat haben die Kapitalmärkte am Freitagmorgen weltweit heftig reagiert. Nicht vergessen darf man dabei allerdings, dass die Märkte davor bereits deutlich gestiegen waren. So mag das Pfund zwar in der ersten Reaktion 10 Prozent gegenüber dem US-Dollar verloren haben, nachdem es allerdings zuvor den höchsten Stand des Jahres erreicht hat. Vieles, was an den Kapitalmärkten geschieht, hat mehr mit den Interessen der Banken an guten Umsätzen denn mit einer wirklichen Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun. Denn es ist nicht ausgemacht, dass der Brexit wirklich so schädlich ist für Großbritannien.

Brexit nicht schlecht für England

Michael Cembalest, der Chefstratege von JP Morgan, hat schon vor der Abstimmung viele der Argumente der Brexit-Gegner als Angstmache definiert:

  • Die Schätzungen für die Wirkung auf das britische Bruttoinlandsprodukt schwanken zwischen minus 0,8 und plus 0,6 Prozent im Jahre 2030, also Werte, die im Rahmen der normalen Streuung liegen und keineswegs ein wirtschaftliches Desaster verkünden.
  • Die Exporte von England müssen auch nicht sinken, wie man am Beispiel von Norwegen, Island und der Schweiz sieht. Diese Länder exportieren so viel in die EU wie EU-Länder, ohne Mitglied zu sein. Hinzu kommt, dass England ein wichtiger Absatzmarkt ist, den man sicherlich gerade in Deutschland nicht verlieren will.
  • Das englische Pfund könnte sich abschwächen – was es ja auch getan hat. Doch eine solche Abwertung ist gerade in einem weltweiten Umfeld schwachen Wachstums ein Konjunkturprogramm. Der Brexit und ein schwaches Pfund würden die englische Wirtschaft gar beleben.
  • Die EU bindet Großbritannien an Länder, die längst nicht die gleiche Wettbewerbsfähigkeit haben. Deutschland, Holland, Schweden und Irland fallen in dieselbe Kategorie wie England. Frankreich, Italien, Spanien und Portugal eindeutig nicht. Deshalb ist es für England gut, nicht mehr in diesem Klub dabei zu sein.

Das Fazit von Cembalist: Aus der Sicht Großbritanniens würde eine politische Union mit Kanada, Norwegen, Schweden und den USA weitaus mehr Sinn machen.

Natürlich hat Brüssel jetzt Angst vor den Folgen des Brexit. Die Franzosen wollen ein Exempel statuieren, damit andere Länder vor einer ähnlichen Entscheidung abgehalten werden. Ich bezweifle, dass dies funktionieren wird. Zu groß ist das wirtschaftliche Interesse an einer guten Kooperation mit Großbritannien.

Andere Länder werden folgen. In Schweden ist die Stimmung schon angespannt, ebenfalls in Holland. Umfragen zeigen, dass in Frankreich und Italien die Unzufriedenheit hoch ist. Könnten sie abstimmen, würden mehr als 40 Prozent der Franzosen und fast 50 Prozent der Italiener für einen Austritt votieren.

Massives Versagen der deutschen Politik

Schuld an dieser Entwicklung hat maßgeblich die Politik der deutschen Bundesregierung: das Versagen im Zuge der als „Flüchtlingskrise“ falsch beschriebenen Migrationskrise aus Afrika und dem Nahen Osten, die Verweigerung einer Lösung für die Eurokrise und die einseitige Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Export.

Die Stärke der deutschen Wirtschaft hat in der Brexit-Diskussion eine hierzulande völlig unterschätze Rolle gespielt. In vielfältigen Kommentaren wurde die deutsche Exportmaschinerie als ein Instrument verurteilt, anderen Ländern Kaufkraft zu entziehen und damit zu der Dauerkrise in diesen Ländern beizutragen. Deutschland würde von einer schwachen Währung profitieren – dem Euro – der nur noch existieren würde, weil Deutschland in der Währung dabei ist.

Wer sich vor dieser deutschen Wirtschaftsmacht schützen wolle, müsse für den Brexit stimmen. Fällt nun das Pfund weiter, hätte sich diese Erwartung an die Folge des Brexit übrigens schon erfüllt.

Das Problem an dieser Argumentation ist – wie so oft bei populistischen Aussagen – dass sie durchaus einen Kern Wahrheit haben. In der Tat haben wir in den vergangenen Jahren vom schwachen Euro profitiert und uns darauf verlassen, billiger statt besser zu sein. So ist die Produktivität pro Kopf in den Jahren seit der Euroeinführung nur noch schwach gewachsen.

Deutsches Exportmodell verschärft Spannungen

Schon in der Vergangenheit hat eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung zu politischen Spannungen und gar Kriegen geführt. So hat die deutsche Wirtschaft sowohl vor dem deutsch-französischen Krieg 1870, und vor den beiden Weltkriegen eine deutlich bessere Entwicklung verzeichnet als jene von Frankreich und England. Auch heute stehen wir viel besser da als unsere Partner in der Eurozone. Und mit Großbritannien haben wir einen ansehnlichen Handelsüberschuss.

Angesichts dieser Entwicklung ist es kein Wunder, dass die Bevölkerungen mit der relativen Entwicklung in Europa unzufrieden sind. Erst vor ein paar Monaten konnte die Eurozone wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Italien und Spanien sind davon noch weit entfernt, Frankreich bleibt in der Dauerrezession gefangen. Das zeigt sich auch an der Haltung zu Europa.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Genesung der Eurozone und damit Europas ist ein Abbau der internen Ungleichgewichte. Dabei geht es vor allem darum, die Handelsdefizite und -überschüsse zu reduzieren. Zwar kam es in den vergangenen Jahren zu Fortschritten auf diesem Gebiet, jedoch vor allem durch einen Rückgang der Importe, weniger durch mehr Exporte aus den Krisenländern. Deutschland hat unterdessen den Handelsüberschuss mit den Euroländern reduziert, insgesamt jedoch deutlich ausgeweitet.

Unsere einseitige Fokussierung auf den Export führt zunehmend zu Spannungen in Europa und der Welt. Sich dabei nur auf die Stärke der deutschen Industrie zu berufen, ist bequem und falsch. Natürlich profitiert gerade die deutsche Industrie von der Globalisierung und Industrialisierung. Doch ohne den schwachen Euro und die zunehmende Verschuldung unserer Kunden wäre dieser Exporterfolg gar nicht möglich.

Mit den Exportüberschüssen entziehen wir anderen Ländern Kaufkraft und Nachfrage. Die einheimische Industrie in diesen Ländern verliert immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit, während wir zugleich nicht ausreichend importieren, um der Welt andere Waren abzunehmen. Damit fehlt der Welt Nachfrage und es ist angesichts der schwachen weltwirtschaftlichen Entwicklung nicht verwunderlich, dass die Spannungen zunehmen. Es wäre auch in unserem Interesse, den Handelsüberschuss zurückzuführen.

Hinzu kommt, dass wir die Erlöse aus dem Export im Ausland anlegen. Handelsüberschüsse gehen nämlich zwangsläufig mit einem entsprechenden Exportüberschuss von Kapital einher. Alleine im Jahr 2015 haben wir Kapital im Volumen von 8,6 Prozent des BIP ins Ausland exportiert. Überwiegend in Form von Krediten. Nun ist es aber nicht sonderlich schlau, sein Geld Schuldnern zu leihen, die schon heute zu viele Schulden haben. Bereits in der Vergangenheit haben wir unser im Export verdientes Geld äußerst schlecht angelegt, wie zum Beispiel in US-Subprime-Krediten, womit wir nach Berechnungen des DIW immerhin 400 Milliarden Euro verloren haben. Da wäre es allemal besser, das Geld im Inland auszugeben.

Versagen in der Eurokrise

Wie an dieser Stelle immer wieder erläutert, braucht Europa einen geordneten Prozess, um aus der Überschuldungssituation von Staaten und Privaten herauszufinden. Dazu müssen Gläubiger, also vor allem Deutschland, und Schuldner sich zu einer Kombination aus Schuldenerlass, Schuldensozialisierung und Schuldenstreckung unter Teilnahme der EZB durchringen. Ohne eine solche Bereinigung der faulen Schulden bleibt die Eurozone im japanischen Szenario gefangen. Die Weigerung der deutschen Politik, dies anzuerkennen und entsprechend zu handeln, vergrößert den finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Schaden mit jedem Tag. Das Beharren auf einer Sparpolitik und Reformen ist vordergründig richtig, im Zustand der Überschuldung jedoch kontraproduktiv. Die deutsche Europolitik ist krachend gescheitert. Das Brexit-Votum und die zunehmende Anti-Euro-Stimmung in den anderen Ländern sind der deutliche Beweis dafür.

Der Brexit ist erst der Anfang

Das Votum der Briten ist aus deutscher Sicht ein Desaster. Wir verlieren einen Partner der wirtschaftlichen Vernunft in Europa. Die Probleme der EU und vor allem der Eurozone wachsen derweil weiter an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in einem Euroland eine Partei mit dem Wahlversprechen an die Macht kommt, alle Probleme des Landes mit einem Austritt aus Euro und EU zu lösen. Mein Hauptkandidat ist und bleibt Italien. Die dortige Rezession dauert schon länger an als jene der 1930er-Jahre. Die Wirtschaftsleistung liegt noch immer deutlich unter dem schon nicht begeisternden Niveau von 2008. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Staatsverschuldung außer Kontrolle. Eine Schließung des auf 30 Prozent geschätzten Lohnstückkostennachteils gegenüber Deutschland auf dem Wege der „internen Abwertung“, also der Kürzung von Löhnen, völlig illusorisch. Noch könnte Italien durch einen Austritt aus der Eurozone Teile seiner industriellen Basis retten. Mit einer abgewerteten Lira wäre das Land über Nacht wettbewerbsfähig.

Aber auch in anderen Ländern gärt es. Die Schweden denken ähnlich wie die Engländer. In Finnland gab es eine Volksinitiative, die einen Euroaustritt fordert – angesichts der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung gerade auch zum boomenden Schweden nicht verwunderlich. In Holland gibt es zunehmend Zulauf für eurokritische Parteien. Ein Referendum ließe sich dort relativ leicht organisieren. In Frankreich ist es bisher nur der rechte Front National, der in die gleiche Richtung denkt, während die Elite an der EU und an dem – vor allem von Frankreich vorangetriebenen – Euro festhält.

Andere Politik nötig

Will die deutsche Regierung nach dem Brexit weitere Euroaustritte verhindern, sollte sie dringend das Steuer herumreißen, und mehr Geld im Inland ausgeben, Innovation, Bildung und Infrastruktur verbessern und mit Reformen den langfristigen Wohlstand sichern. Statt das Geld ins Ausland zu exportieren, würden wir es im eigenen Land verwenden. Das wäre allemal besser als die heutige Politik, die unseren Wohlstand verschleudert.

Danach sieht es jedoch nicht aus. Lieber verweisen deutsche Politiker und Volkswirte auf die Mängel und den Reformbedarf in anderen Ländern. Ebenso geschlossen steht die Front gegen eine Bereinigung der faulen Schulden, eine Monetarisierung der Schulden über die EZB-Bilanz und eine Neuordnung der Eurozone. Damit bleibt Europa in der Rezession gefangen und der Druck im Kessel nimmt immer weiter zu.

Kann gut sein, dass wir 2030 neidisch auf die Briten schauen, die rechtzeitig die Notbremse gezogen haben.

Cicero.de:  „Der Brexit ist die Folge der deutschen Krisenpolitik“, 25. Juni 2016