Demnächst Negativzinsen für alle

Dieser Kommentar von mir erschien bei FOCUS:

Mit Christine Lagarde als Nachfolgerin Mario Draghis an der Spitze der EZB ist klar: Die Zinsen im Euroraum werden weiter sinken und die eigentlich unabhängige Notenbank wird noch politischer.

Klarer Gewinner des Postengeschacheres in Europa ist der französische Präsident Macron. Nicht nur konnte er den, nicht nur von ihm als Leichtgewicht angesehenen, Manfred Weber verhindern, es gelang ihm, einen viel wichtigeren Posten für Frankreich zu sichern. Christine Lagarde, frühere Finanzministerin und heutige Chefin des Internationalen Währungsfonds steht schon immer für die Durchsetzung französischer Interessen und die Politik des billigen Geldes. Daran dürfte sich in ihrer neuen Rolle nichts ändern, im Gegenteil, wir müssen davon ausgehen, dass die Geldpolitik noch aggressiver wird.

Schon jetzt werden weltweit Staatsanleihen im Wert von über 13.000 Milliarden US-Dollar mit negativen Zinsen gehandelt. Die Kreditgeber zahlen den Finanzministern also Geld für das Privileg, ihnen Geld leihen zu dürfen. Ganz vorne mit dabei die Staaten der Eurozone, wo die zehnjährige Staatsanleihe Deutschlands rund -0,3 Prozent erbringt und sogar die zehnjährigen französischen Anleihen, trotz deutlich höherer Schulden und anhaltender Defizite unter die Nullgrenze gerutscht sind. Anleihen mit kürzerer Laufzeit erfordern – von Griechenland abgesehen – eurozonenweit eine Zuzahlung der Gläubiger.

Kein Mangel an Erklärungen für tiefe Zinsen

Hinter dieser Entwicklung steht zweifellos die Politik der Notenbanken der letzten Jahre. Auf jede Turbulenz an den Finanzmärkten, auf jede mögliche Rezession haben die Notenbanken der Welt, angeführt von der US-Notenbank Fed, mit immer dem gleichen Mittel reagiert: noch tieferen Zinsen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, immerhin die Notenbank der Notenbanken, kritisiert dieses „asymmetrische Vorgehen“ schon lange, denn die Zinsen wurden nie wieder auf das ursprüngliche Niveau erhöht. Seit nunmehr 30 Jahren belohnen die Notenbanker die Schuldner und jene, die auf Kredit spekulieren.

Angesichts der zunehmenden Kritik an ihrer Arbeit beeilen sich die Notenbanker, die Verantwortung von sich zu schieben, so die Bank of England, die in einer Studie sieben Faktoren für die tiefen Zinsen verantwortlich macht:

  • Die demografische Entwicklung führt zu einem erhöhten Angebot an Sparkapital, weil immer mehr Menschen für das Alter vorsorgen.
  • Eine zunehmend ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung führt zu mehr Sparkapital, weil Menschen mit höheren Einkommen und Vermögen mehr sparen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
  • Die Schwellenländer versuchen, ihre Wirtschaft über eine Stärkung des Exportsektors zu entwickeln. Da Exportüberschüsse immer mit einem Kapitalexport einhergehen, investieren diese Länder in den Kapitalmärkten der Industrieländer und vergrößern so zusätzlich das Angebot an Ersparnissen.
  • Die Sparer sind risikoaverser geworden und deshalb bereit, ihr Geld auch zu tiefen Zinsen anzulegen, statt in andere, risikoreichere aber potenziell rentierlichere Anlagen auszuweichen. Oder sie werden – wie im Falle der Versicherungen – von der Regulierung in diese Anlagen gezwungen.

Diesem Angebot an Kapital steht nach Einschätzung der Experten eine sinkende Nachfrage gegenüber:

  • So sind in den letzten Jahren die Preise von Investitionsgütern deutlich gefallen, was unter anderem auf die digitale Revolution zurückzuführen ist. Deshalb benötigen Unternehmen weniger Kapital, um ihre Investitionen zu finanzieren.
  • Derweil sind die Investitionen der Staaten deutlich zurückgegangen, was an der schon bestehenden hohen Schuldenlast der Staaten liegt.
  • Das geringere Wirtschaftswachstum, verursacht durch den Rückgang der Erwerbsbevölkerung und deutlich geringere Produktivitätszuwächse, wirkt zusätzlich dämpfend auf Investitionen.

Fazit: Mehr Ersparnisse und weniger Investitionen führen dazu, dass – so die Prognose der Bank of England – die Zinsen noch für weitere 15 Jahre tief bleiben.

Notenbanken führen in die Überschuldung

Getrost darf davon ausgegangen werden, dass sich die Notenbanken bewusst sind, dass sie erheblichen Anteil an der Entwicklung der Zinsen haben, egal was für Studien das Gegenteil belegen. Ihr „asymmetrisches Vorgehen“ hat uns letztlich dahin geführt, wo wir heute stehen: in eine Welt, die noch nie so hoch verschuldet war wie heute und diese Schuldenlast nur tragen kann, wenn sie fast nichts kostet.

Die steigende Schuldenlast ist dabei kein Zufall, sondern zwingende Voraussetzung, um die Illusion, dass die bestehenden Schulden, bedient werden, aufrechtzuerhalten. Die Nebenwirkung gehört also dazu, wenn man unser Schuldgeldsystem eine Runde weiter bekommen möchte. Genauso wie die Nebenwirkung immer höherer Assetpreise, da Geld, das zunehmend weniger kostet, zwangsläufig die Besitzer von Vermögenswerten begünstigt. Nichts anderes steht hinter der von Piketty und Co. kritisierten Abkopplung der Vermögen von den Einkommen. Ohne zunehmende Verschuldung gibt es keine weiter steigenden Vermögenspreise. Blasen sind so gesehen keine zufälligen Ereignisse, sondern gehören zwangsläufig dazu.

Eurozone besonders problematisch

Besonders groß sind die Probleme in der Eurozone. Nur dank der Zinssubvention der EZB mit dem Versprechen, alles zu tun, konnten Staaten wie Portugal, Spanien und Italien halbwegs stabilisiert werden. Ohne die implizite Garantie der EZB für alle (Staats-)Schulden einzustehen, wäre der Euro schon längst Geschichte.

Rufen wir uns die entscheidenden Gründe für die Eurokrise und die anhaltenden Probleme in Erinnerung. Die da waren:

  1. Wir hatten einen privaten Verschuldungsboom, der zu der Krise in Portugal, Spanien und Irland führte.
  2. Wir haben ein Staatsschuldenproblem in Griechenland, Italien und auch Portugal und zunehmend auch in Frankreich.
  3. Im Zuge des Kreditbooms haben die europäischen Banken zu viele Kredite gegeben, die nun nicht mehr einbringlich sind.
  4. Aufgrund der geringen Kapitalbasis verzögern die Banken eine Bereinigung der faulen Kredite und lassen deshalb zunehmend Zombie-Unternehmen am Leben, die wiederum das Wirtschaftswachstum dämpfen.
  5. Bekanntlich hat sich die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraumes deutlich auseinander bewegt und Länder wie Italien und Portugal sind nicht mehr, sondern weniger wettbewerbsfähig als im Jahr 2008.

Eine Lösung für diese Probleme ist nicht in Sicht, weil sie von der Politik kommen müsste. Ohne Schuldenschnitte – mit entsprechenden Verlusten für die Gläubiger – und einer Neuordnung der Eurozone, also Austritten von Ländern die im Euro ihre Wettbewerbsfähigkeit nie und nimmer wieder erreichen werden, wird es nicht gehen. Da die Politiker sich weigern, diesen Weg zu gehen, bleibt die EZB noch mehr als die anderen Notenbanken gezwungen, den Außenwert des Euro zu drücken und Geld immer billiger zu machen.

Das Problem dabei: Europa rutscht immer mehr in das „japanische Szenario“ einer jahrzehntelangen Stagnation mit explodierender Verschuldung, ohne zugleich eine homogene und leidensbereite Gesellschaft wie die japanische zu sein. Deshalb werden die politischen Spannungen immer mehr zunehmen und am Ende droht der chaotische Zerfall der Eurozone, allen Gelddruckbemühungen der EZB zum Trotz.

Die Notenbanken in der Ecke

Die Notenbanken haben sich in eine ausweglose Situation manövriert. Die Angelsachsen würden sagen:„They painted themselves into a corner.”

  • Sie haben es mit einer Rekordbewertung der Assetmärkte zu tun. Ursache sind tiefe Zinsen und ein Rekord-Leverage. Die Börsen dürften relativ zum BIP nicht nur in den USA den höchsten Stand der Geschichte erreicht haben, sondern weltweit.
  • Sie haben es mit einer Rekordverschuldung der Realwirtschaft zu tun.
  • Sie befinden sich in einem Währungskrieg miteinander. Immer darauf achtend, dass der Wert der eigenen Währung nicht zu stark steigt.
  • Sie stecken im Dilemma, Inflation nicht zulassen zu dürfen, sie eigentlich aber anzustreben, um die Schulden real zu entwerten.
  • Sie müssten eigentlich die Zinsen deutlich erhöhen, um sie in der nächsten Krise ausreichend senken zu können, wissen aber, dass es eine überschuldete Weltwirtschaft und ein auf Leverage gebautes Kartenhaus schlecht verkraften, wenn die Zinsen steigen.
  • Sie haben es mit einer weitgehend dysfunktionalen Politik zu tun. In den USA beschließt man am Höhepunkt des Aufschwungs Steuersenkungen und Infrastrukturprogramme auf Kredit und bricht zugleich einen globalen Handelskrieg vom Zaun. In Europa veranstaltet die EU eine Strafaktion gegen Großbritannien, um andere Länder von ähnlichen Ausstiegsüberlegungen abzuhalten. Gleichzeitig wird eine wirkliche Lösung der Eurokrise verschleppt, was daran liegt, dass man sich mit Scheinlösungen beschäftigt.

Die Notenbanken sind nicht unschuldig an dieser Situation. Mitleid ist deshalb nicht angezeigt.

Endspiel oder nächste Runde?

Das führt zu der spannenden Frage, ob die nächste Krise schon das Endspiel einleitet. Oder fällt den Notenbanken gar noch etwas ein, um das System eine Runde weiter zu bekommen und allen ein paar weitere angenehme Jahre steigender Vermögenspreise, stabiler Konjunktur und Wohlstandsillusion auf Pump zu ermöglichen?

Dass Notenbanker und Politiker über dieses Thema intensiv nachdenken, zeigt die Flut an Testballons, die in den letzten Jahren aus der akademischen Welt lanciert wurden. Glaubt jemand ernsthaft, dass Institutionen wie der IWF nur theoretische Fingerübungen machen, wenn sie Studien und Arbeitspapiere veröffentlichen? Ich nicht. Vor allem dann nicht, wenn die bisherige Chefin dieser Institution an die Schalthebel der EZB kommt.

Die Liste der in die Diskussion gebrachten Ideen ist durchaus in sich konsistent. Es geht darum, den Notenbanken den Weg zu noch negativeren Zinsen und weiteren umfangreichen Liquiditätsspritzen zu ermöglichen und zugleich die Fluchtmöglichkeiten aus dem System zu begrenzen:

  • Kampf gegen das Bargeld: Schon seit Jahren läuft eine Kampagne gegen die Nutzung von Bargeld. Zunächst haben Ökonomen wie der ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Kenneth Rogoff, dafür plädiert, Bargeld möglichst weitgehend abzuschaffen, vordergründig, um Schattenwirtschaft und Kriminalität zu bekämpfen. Dann wurde der 500-Euro-Schein abgeschafft, was die Lagerkosten für Bargeld deutlich erhöht. Nun kam der IWF mit der Idee, Bargeld zu versteuern für den Fall, dass es auf dem Bankkonto Negativzinsen gibt. All dies passt zu dem Szenario einer geplanten Entwertung von Geld und damit von Forderungen und Schulden.
  • Kampf gegen das Gold: Passend dazu erklärt der IWF in einem weiteren Arbeitspapier, dass Gold ein destabilisierender Faktor für die Wirtschaft ist. Dies ist natürlich richtig, wenn man ein System unterstützt, in dem beliebig viel Liquidität geschaffen werden kann und soll, um die Wirtschaft zu beleben. Da nirgendwo eine Rückkehr zum Goldstandard erkennbar ist, fragt man sich schon, wieso der IWF gerade heute mit diesem Thema kommt. Ein Grund könnte sein, damit eine solide Finanz- und Geldpolitik (wie sie in der guten alten Zeit von Deutschland betrieben und gefordert wurde) zu diskreditieren. Ein anderer, die moralische Argumentation für eine Einschränkung privaten Goldbesitzes zu liefern. Denn Gold ist das ultimative Geld, in das man flüchten kann und sollte, angesichts dessen, was uns bevorsteht. Wer denkt, ein Verbot privaten Goldbesitzes sei undenkbar, der sei an die deutsche, aber auch US-amerikanische Geschichte erinnert!
  • Kapitalverkehrsbeschränkungen: Passend dazu werden Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs in Abhängigkeit vom Umfeld als geeignetes Instrument gesehen, um Krisen vorzubeugen und Finanzmärkte zu stabilisieren. Dabei sind sie unvermeidbar, wenn man die Flucht der Sparer verhindern will. Fallen Bargeld und Gold als Ausweichmöglichkeiten weg, muss nur noch die Flucht in ausländische Währungen abgewendet werden, um die Sparer unter Kontrolle zu bekommen.
  • Monetarisierung der Schulden: Sind Ausweichreaktionen unter Kontrolle gebracht, kann man sich auf die „Lösung“ des Schuldenproblems konzentrieren. Da ist zunächst die schon länger diskutierte „Monetarisierung“ der Schulden. Gemeint ist, dass die Notenbanken die aufgekauften Schulden von Staaten und Privaten einfach annullieren. Sie könnten sie auch einfach für hundert Jahre zins- und tilgungsfrei stellen, was ökonomisch auf das Gleiche hinausliefe. Beobachter gehen davon aus, dass eine solche Maßnahme, so sie denn einmalig bleibt, keine Gefährdung für den Geldwert darstellte. Was wirklich passiert, wird man sehen. In Japan, das uns auf dem Weg der Monetarisierung einige Jahre voraus ist, dürfte es schon in wenigen Jahren dazu kommen.
  • Helikopter-Geld: Das Entsorgen der Altschulden über die Bilanzen der Notenbanken dürfte zur Lösung der Probleme nicht genügen. Die Zombies wären weiter da, die ungedeckten Verbindlichkeiten der Staaten blieben ungedeckt, die Produktivitätsfortschritte wären immer noch schwach und die Erwerbsbevölkerungen schrumpfen weiter. Das Wachstum bliebe also zu gering, um soziale Spannungen zu mindern. Die Antwort darauf liegt in staatlichen Konjunkturprogrammen, direkt von den Notenbanken finanziert. In Anlehnung an Milton Friedman spricht man von „Helikopter-Geld“. Das wird in diesem Fall nicht aus Helikoptern abgeworfen, sondern dem Staat geschenkt, damit der es unter die Leute bringt, zum Beispiel, indem er investiert. Auch hier mehren sich die Stimmen in der Wissenschaft, die in diesem Vorgehen das Normalste aller Dinge sehen.
  • Modern Monetary Theory (MMT): Doch warum eigentlich nur im Krisenfall den Staat direkt von der Notenbank finanzieren lassen? Wäre es nicht ohnehin besser, wenn man den Staat dauerhaft und großzügig direkt von der Notenbank finanzierte, anstatt wie heute den Umweg über die Geschäftsbanken zu gehen? Vorreiter dieser Überlegungen, bezeichnen es als „Modern Monetary Theory“. Als Skeptiker müsste man anführen, dass es so „modern“ nicht ist, wurde es doch schon in der Weimarer Republik ausprobiert. Die Befürworter sehen das natürlich ganz anders. Ihnen zufolge können Staaten, die die Kontrolle über die eigene Notenbank haben (also z. B. die USA, aber eben nicht Italien) so viel neu geschaffenes Geld ausgeben, wie sie wollen, solange die Wirtschaft unausgelastete Kapazitäten hat, sowie innovativ und produktiv genug ist, um alle Wünsche zu erfüllen! Und sollte dennoch Inflation drohen, müsste der Staat über Steuern nur einen größeren Teil des Geldes, das er in den Kreislauf gebracht hat, wieder entziehen. So gesehen, waren Zimbabwe, Venezuela und Weimar-Deutschland auf dem richtigen Weg und haben nur bei der Besteuerung nicht richtig aufgepasst.

Nachdem sie sich selbst in die Ecke manövriert haben, werden die Notenbanken in der nächsten Krise – die nicht eine Frage des „Ob“, sondern nur des „Wann“ ist – alles auf eine Karte setzen. Das Endspiel steht bevor und Christine Lagarde wird nicht davor zurückschrecken, das ganze Arsenal an Maßnahmen, das sich der IWF und andere ausgedacht haben, anzuwenden. Schwer vorstellbar, dass der Euro das übersteht. Schwer vorstellbar, dass man das als Sparer unbeschädigt übersteht. Raus aus Euro und Zinspapieren kann da nur die Antwort lauten.