“Das letzte Hurra”

Dieser Kommentar von mir erschien bei WirtschaftsWoche Online:

Der Aufschwung an der US-Börse basiert auf immer weniger Aktien. Die Weltmärkte haben sich schon lange vom amerikanischen Markt abgekoppelt. Bald dürften auch die USA dem Welt-Trend nach unten folgen.

Nach Apple ist es nun auch Amazon gelungen, die magische Marke von 1.000 Milliarden US-Dollar Marktkapitalisierung zu durchbrechen. Beeindruckende Werte, die als solches nichts darüber aussagen, ob Apple und Amazon nun teuer oder billig sind. Unzweifelhaft sind beide Unternehmen hoch erfolgreich. Unzweifelhaft prägen sie dabei die Märkte, in denen sie tätig sind, nachhaltig. Apple ist sicherlich mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis in der Größenordnung von rund 17 und gigantischen Cashbeständen anders zu beurteilen als Amazon, die fast keinen Gewinn ausweisen und bei erheblichen Investitionen mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von weit über 100 notieren.

Beide gehören zur Gruppe der FAANGS, die, wie ich bereits mehrfach an dieser Stelle diskutiert habe, einen immer größeren Anteil am Aufschwung an den Märkten haben.

FAANGS allein zu Hause

Während der Dow-Jones-Index und der breitere NYSE-Composite-Index, der 2.000 Werte umfasst, noch deutlich unter ihren Höchstständen vom Jahresanfang notieren, liegen die spekulativere Technologiebörse NASDAQ und der S&P 500 auf neuen Höchstständen. Allerdings ist dies keine breite Aufwärtsbewegung, sondern eine Entwicklung, die von immer weniger Werten abhängt. So stehen hinter dem Rekord im S&P 500 vor allem sechs Aktien: Facebook, Apple, Amazon, Netflix, Microsoft und Google (Alphabet). Immerhin ein Drittel der Kursgewinne seit dem Tief vom Februar geht auf diese Werte zurück. Beim NASDAQ ist die Entwicklung extremer. Nach Daten von Bloomberg haben allein Amazon, Apple, Netflix und Google einen Anteil von 48 Prozent am Durchbruch über 8000 Punkte.

Damit hat die Marktbreite des Aufschwungs, ohnehin schon seit Monaten rückläufig, noch weiter abgenommen. Ein eindeutiges und überzeugendes Warnsignal.

Am 26. Januar, als der S&P 500 den letzten Höchststand vermeldete, notierten immerhin 25 Prozent der im Index enthaltenen Aktien auf neuen Höchstständen. Am 24. August, als der Index den Höchststand vom Januar erstmals übertraf, verzeichneten nur acht Prozent der Indexaktien neue Rekorde. Der breite Markt hat sich schon lange vom Bullen verabschiedet, während immer weniger Aktien den Markt noch auf neue Indexhöchststände treiben.

Schon in der Vergangenheit waren es die spekulativeren Märkte und Aktien, die am Ende des Aufschwungs an der Börse noch einmal richtig Gas gaben:

  • In den 1960er-Jahren erreichte der Dow Jones im Jahre 1966 den Höchststand, der Vorläufer der NASDAQ, der OTC-Index („Over the Counter“, steht für kleinere und spekulativere Aktien) erst im Jahre 1969. Kurz danach ging es deutlich nach unten.
  • Im Jahre 2000 dauerte es nicht mehr so lange. Die NASDAQ stieg noch bis Mitte März, während der Dow Jones schon im Januar den Höchststand erreichte.
  • 2007 war es ähnlich: Während Dow und S&P am 11. Oktober die Höchststände verzeichneten, war das bei der NASDAQ 20 Tage später der Fall.

Natürlich kann man auf dieser Basis keine zeitlichen Prognosen abgeben, doch zumindest die deutliche Warnung, dass wir uns rasch einem dramatischen Wendepunkt nähern könnten. Dramatisch, weil wir es angetrieben vom billigen Geld der Notenbanken mit einer Blase zu tun haben, die faktisch alle Vermögensmärkte erfasst hat, wenngleich einige bereits in die Baisse abgetaucht sind, wie beispielsweise die Schwellenländer, die mit einem Minus von über 20 Prozent gegenüber den Höchstständen nun auch ganz offiziell im Bärenmarkt sind.

Alter Bulle?

Viel wurde geschrieben über die Dauer des Aufschwungs an den Börsen. Einige Kommentatoren sprechen gar vom längsten Bullenmarkt aller Zeiten, der natürlich nicht nur deshalb enden muss, weil er schon lange dauert. Das ist sicherlich richtig. Man muss aber im Hinterkopf haben, auf welchen Faktoren die Börsenentwicklung basiert. Schon vor Monaten habe ich gezeigt, dass die Entwicklung vor allem auf eine höhere Bewertung und nicht so sehr auf steigende Gewinne zurückgeführt werden muss:

So haben die US-Börsen zwischen 2010 und 2017, gemessen am S&P 500 einen beeindruckenden Zuwachs von 12,9 Prozent pro Jahr erzielt, der sich so erklären lässt:

  • Ausschüttungen (Dividenden, Aktienrückkäufe): 2,8 Prozent p. a.
  • Wachstum der Unternehmen: 3,1 Prozent p. a.
  • Steigerung der Profitabilität (Umsatzmarge): 3,2 Prozent p. a.
  • Höhere Bewertung an der Börse (Multiple): 3,8 Prozent p. a.

Während der Beitrag von Ausschüttungen und das Wachstum auf dem Niveau liegen, das auch langfristig erzielt wird, liegt die Wirkung von Profitabilitätssteigerungen und der Erhöhung der Bewertung deutlich höher. Die Unternehmen haben also vor allem über Kostensenkungen und Financial Engineering also den Ersatz von teurem Eigenkapital durch billige Kredite – die Marge gesteigert und die Anleger waren angesichts der tiefen Zinsen bereit, immer mehr für Aktien zu bezahlen. Beides lässt sich nicht in Ewigkeit fortschreiben.

Die Steuerreform von Donald Trump hat zweifellos nochmals Öl ins Feuer geschüttet, was allerdings nur ein weiteres Strohfeuer ohne nachhaltigen Effekt ist. Perspektivisch kommen die Gewinne unter Druck, gerade auch wenn es zu einer weiteren Verschärfung der Handelskonflikte kommt.

Die Unternehmen verwenden den Mittelzufluss aus der Steuerreform vor allem für den Rückkauf eigener Aktien. Goldman Sachs schätzt, dass US-Unternehmen – trotz ihrer schon bereits jetzt ungesunden Verschuldung – in diesem Jahr für 1.000 Milliarden Dollar eigene Aktien zurückkaufen werden. Dies wäre ein neuer Rekord, der letzte Höhepunkt war mit rund 700 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007. Auch im Jahr 2000 gab es eine Welle an Rückkäufen, die allerdings mit rund 200 Milliarden verglichen mit dem, was in den Folgejahren passierte, im Rückblick lächerlich erscheint.

Unternehmen sind damit schon seit Jahrzehnten die prozyklischsten Investoren am Aktienmarkt. Sie kaufen dann, wenn es ihnen am besten geht und die Aussichten für die Wirtschaft allgemein positiv gesehen werden. Also genau dann, wenn auch die Börse auf einem Höhepunkt notiert. 2009, nur zwei Jahre nach dem bisherigen Rekordvolumen von Rückkäufen mussten nicht wenige Unternehmen bei deutlich tieferen Kursen Kapitalerhöhungen vornehmen. Teuer kaufen, billig verkaufen ist kein Weg zum Reichtum.

Es gehört nur wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass es diesmal noch schlimmer wird. Die Qualität der Bilanzen der Unternehmen hat sich gerade in den USA in den letzten Jahren derart drastisch verschlechtert, dass sogar der Internationale Währungsfonds hier und vor allem im Markt der Hochrisikoanleihen, der in den letzten Jahren förmlich explodiert ist, das Zentrum der nächsten Finanzkrise sieht.

So oder so ist der Aufkauf eigener Aktien in Rekordhöhe kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen für die Restlebensdauer dieses Bullenmarktes.

War das der Melt-up?

Stellt sich die Frage: War das schon der Melt-up-Boom, von dem im Januar so viel die Rede war? Gemeint ist ein dramatischer und unerwarteter Preisanstieg, der durch einen Run der Anleger ausgelöst wird, die Angst haben etwas zu verpassen anstatt durch eine wirkliche Verbesserung in der Realwirtschaft. Letzteres kann einem egal sein, Hauptsache man ist mit dabei.

Damals hatte ich eine Studie von Jeremy Grantham vom Bostoner Vermögensverwalter GMO zitiert, in der die Charaktermerkmale früherer Blasen analysiert und auf die heutige Situation übertragen werden. Kernergebnis: Obwohl die Börse schon heute so teuer ist wie vor dem Börsenkrach 1929 – nur in der Dotcom-Blase war die Bewertung an der Wall Street noch höher – könnte es durchaus sein, dass die Märkte in den nächsten 21 Monaten nochmals 60 Prozent zulegen. Kursziel wären damit bis zu 3.700 Punkte im S&P 500. Bis dahin fehlen uns immerhin noch fast 1.000 Punkte.

Andererseits machte die Analyse deutlich, dass es ein untrügliches Zeichen für einen Melt-up ist, dass der Markt sich immer mehr auf wenige Werte konzentriert, die gekauft werden, weil man auf weitere kurzfristige Kursgewinne setzt, nicht weil die fundamentale Bewertung so attraktiv ist. Man kauft jene Aktien, die in der jüngsten Vergangenheit am meisten zugelegt haben. Das trifft auf die FANGs sicherlich zu und damit auf den gesamten Markt. Gut möglich also, dass wir gerade den Melt-up erleben, ohne ihn richtig wahrzunehmen, weil der Gesamtmarkt bereits so angeschlagen ist.

Das Ende ist nah

The End is near“ titelt das US-Magazin FORTUNE in seiner Augustausgabe: Die Konjunktur in den USA wird sich abschwächen, der Bullenmarkt enden. Nun könnte man meinen, die naheliegende Schlussfolgerung ist, Aktien zu verkaufen und das Geld in kurzlaufenden US-Staatsanleihen zu parken. Letztere bringen mit rund zwei Prozent mehr als vergleichbare Anleihen hiesiger Krisenländer. Doch weit gefehlt. FORTUNE empfiehlt an Aktien festzuhalten, lediglich die Gewichtung zugunsten der zuletzt stark gefallenen Schwellenländer zu erhöhen. So sehr ich die Logik für einen höheren Anteil der Schwellenländer teile, so sehr ist es doch auch ein Zeichen für einen zu großen Optimismus. Kommt es nämlich zu Rezession und Korrektur an der Börse, kann dies sehr schnell deutliche Ausmaße annehmen. Ein Szenario, in dem Amerika fällt, die Schwellenmärkte und Europa jedoch steigen, ist schwer vorstellbar.

Womit wir beim Fazit sind, das regelmäßige Leser dieser Kolumne nicht groß überraschen wird. Immer mehr Zeichen deuten darauf hin, dass wir uns in den letzten Wochen der Aufwärtsbewegung befinden. Die Wall Street ist der letzte Markt weltweit, der neue Höchststände erreicht. Der Rest der Welt liegt im Minus. Besonders ausgeprägt ist das Minus in den Schwellenländern, was wie der Kanarienvogel in der Kohlemine auf zunehmenden Stress im Weltfinanzsystem hindeutet. Letzteres ist so hoch verschuldet wie noch nie und dies immer mehr in Fremdwährung, vor allem dem US-Dollar, was die Anfälligkeit erhöht. In den USA täuschen derweil die Indizes eine Entwicklung vor, die so gar nicht gegeben ist. Der breite Markt ist auch hier rückläufig, dies wird noch von der herausragenden Performance einiger weniger Aktien überkompensiert. Diese wiederum sind zunehmend so hoch bewertet, dass es schwerfällt, sie aus fundamentaler Überzeugung heraus zu kaufen. Gekauft werden sie, weil sie schon gestiegen sind. Derweil werden die mahnenden Stimmen deutlicher.

Was ist wohl wahrscheinlicher: dass die Weltbörsen demnächst den FAANGs nach oben folgen oder das Gegenteil? Ich persönlich bereite mich auf das zweite Szenario vor.

→ wiwo.de: “Das letzte Hurra”, 13. September 2018