Das Blutbad steigender Zinsen

Dieser Kommentar von mir erschien bei WirtschaftsWoche Online: 

Die Zinsen können gar nicht steigen und die beste Investition bleiben Aktien. So die einhellige Meinung. Die Geschichte der letzten 700 Jahre spricht gegen diese These.

In meinen letzten Kommentaren habe ich mich mit der Bewertung an den Börsen beschäftigt und vor allem für die USA den Schluss gezogen, dass die Übertreibung mittlerweile ein so hohes Niveau erreicht hat, dass wir lieber die Cashquote erhöhen. Dies immer im Rahmen meiner prinzipiellen Empfehlung, mit einem Portfolio aus Liquidität, Aktien, Immobilien und Gold für alle Szenarien vorbereitet zu bleiben. Nachdem Aktien in diesem Jahr weltweit gut gelaufen sind, bietet sich ein Rebalancing ohnehin an.

Zinsen bleiben ewig tief?

Kritiker meiner Überlegungen entgegnen mit vier Argumenten:

  • Die US-Börse mag hoch bewertet sein, dies trifft aber nicht auf die europäischen Märkte zu, auch nicht auf den DAX. Auch andere Märkte sind noch günstig und deshalb wäre die Sorge vor einer Korrektur unbegründet.
  • Deutsche Sparer hätten ohnehin zu wenig Geld in Aktien investiert, weshalb es falsch wäre vor Aktien zu warnen. Wir sollten unsere Aktienquote unbedingt erhöhen.
  • Für Langfristanleger spielt die Bewertung ohnehin keine Rolle, weil Aktien auf Dauer mehr Rendite bringen.
  • Ein Zinsanstieg ist wegen der vielen auch in dieser Kolumne beschriebenen Faktoren ohnehin undenkbar. Alleine die hohe Verschuldung zwingt zu dauerhaft tiefen Zinsen, käme es doch sonst zum ultimativen Margin Call.

Beim ersten Punkt stimme ich zu, sehe allerdings das Risiko, dass Turbulenzen an der Wall Street auf die Kapitalmärkte weltweit ausstrahlen, egal, wie günstig diese bewertet sind. Noch leichter fällt mir die Zustimmung mit Blick auf die geringe Aktienquote in Deutschland, wobei ich davon ausgehe, dass die Leser meiner Kolumne aktiv an den Märkten sind.

Dass Langfristanleger immer gewinnen, stimmt so nicht. Manchmal muss diese Frist schon sehr lange sein und die Rendite ist nachweislich geringer, je teurer man einkauft.

Die Kernvoraussetzungen für ein weiterhin positives Börsenumfeld bleiben neben der (unstrittig!) guten Weltkonjunktur anhaltend tiefe Zinsen. Nur dann lässt sich die Bewertung an den Finanzmärkten rechtfertigen. Die überwältigende Mehrheit der Investoren geht davon aus, dass die Zinsen niedrig bleiben, weshalb es rational ist, Aktien auch auf heutigem Preisniveau zu kaufen.  

Die Geschichte spricht dagegen

Viel wurde geschrieben zu den Ursachen des tiefen Zinsniveaus. Die demografische Entwicklung, weltweite Ungleichgewichte und Ersparnisüberhänge werden von Wissenschaftlern angeführt, um den deutlichen Rückgang des globalen Zinsniveaus in den letzten Jahrzehnten zu erklären. Andere betonen die Rolle der Notenbanken, die bei jeder Krise mit Zinssenkungen reagiert haben, ohne die Zinsen danach wieder ausreichend zu erhöhen und nun den von ihnen mitverschuldeten Schuldenturm nur mit noch tieferen Zinsen vor dem Einsturz bewahren können.

Dabei ist der Rückgang der Zinsen in den letzten 30 Jahren historisch keineswegs einmalig, wie eine von der Bank of England veröffentlichte Studie zeigt: 

  • Über einen Zeitraum von 700 Jahren lag der risikofreie Realzins im Durchschnitt bei 4,78 Prozent, im Schnitt der letzten 200 Jahre bei 2,6 Prozent. Deutlich über dem heutigen Niveau von nahe null.
  • Seit rund 500 Jahren ist eine Tendenz zu immer tieferen Zinsen feststellbar. Insofern passt die Entwicklung der letzten 30 Jahre in dieses Muster.
  • Hinter dem Rückgang des Realzinses in den letzten 200 Jahren steht auch die Zunahme der Inflation. Betrug diese über 700 Jahre durchschnittlich 1,09 Prozent, stieg sie im letzten Jahrhundert auf rund zwei Prozent an.
  • Der Zeitraum seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die einzige Periode, in dem es zu keiner Deflation kam. Dies dürfte auf die völlige Loslösung vom Gold zurückzuführen sein.
  • Den historischen Höchststand erreichte das reale Zinsniveau im 15. Jahrhundert mit rund 25 Prozent angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen und dem Fall von Konstantinopel.
  • Der reale risikofreie Zins war mehrmals in den letzten 700 Jahren deutlich negativ. Zuletzt in den 1940er-Jahren.
  • Insgesamt lassen sich in den letzten 700 Jahren neun Phasen deutlichen Rückgangs der Realzinsen identifizieren. Diese dauerten mindestens zehn bis maximal 60 Jahre an und führten zu einem Rückgang des Realzinses um fünf bis 17 Prozentpunkte.
  • Die Phase seit Mitte der 1980er-Jahre ist zwar die zweitlängste, aber zugleich die mit dem geringsten Rückgang der Realzinsen. Sie könnte folglich noch weiter andauern.

Sprunghafter Anstieg

Auch in früheren Zinssenkungsphasen glaubten die Anleger, dass die Zinsen „nie wieder steigen“. Dennoch gingen die Zinsen immer wieder hinauf, und zwar, wie die Studie zeigt, durchaus dramatisch. Im Durchschnitt kletterte das reale Zinsniveau innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Trendwende um über drei Prozent. Als Auslöser für die Trendwenden identifiziert die Studie Katastrophen wie große Pestepidemien und Kriege. Nur Optimisten können mit Blick auf die heutige Situation in der Welt behaupten, dass ähnliche Katastrophen ausgeschlossen sind.

Die Geschichte spricht dafür, dass es zu einem deutlichen Anstieg der Zinsen kommen könnte und dies auch noch sehr schnell. Ein – wie auch immer ausgelöster – Anstieg des risikofreien Realzinses würde sich überproportional im allgemeinen Zinsniveau niederschlagen. Dies liegt daran, dass die Fähigkeit der Schuldner ihren Verpflichtungen nachzukommen, abnimmt, sobald die Zinsen steigen. Da die Qualität der Schuldner in den letzten Jahren dramatisch gesunken ist – Beispiel: rekordhohe Verschuldung der US-Unternehmen –, wäre eine Flucht der Investoren aus den dann wieder als hoch-riskant angesehenen Papieren die Folge.

Historische Beispiele gibt es dafür genug. Zuletzt war zum Höhepunkt der Finanzkrise zu beobachten, dass Anleihen, die zuvor noch als solide eingestuft wurden, dramatisch an Wert verloren. Dies wäre dann Auftakt für eine deflationäre Entwicklung, wie wir sie in der Weltwirtschaftskrise erlebt haben und die Irving Fisher in seiner „Debt-Deflation-Theory of Great Depressions“. eindrücklich beschrieben hat. Es wäre der ultimative Margin Call für die Weltwirtschaft.

Notenbanken halten dagegen?

Ein Albtraumszenario, welches schon 2008 fast wahr geworden wäre. Deshalb gehen die Optimisten davon aus, dass die Notenbanken eine solche Entwicklung um jeden Preis verhindern werden. Gelang es doch in den letzten 70 Jahren eine Deflation zu verhindern und jede Krise mit noch mehr und noch billigerem Geld zu unterdrücken. Warum sollte es also nicht bei der nächsten Krise wieder funktionieren?

Die Frage ist berechtigt. Bisher gibt es keinen Grund an der Allmacht der Notenbanken zu zweifeln. Natürlich ließen sich auch im historischen Vergleich noch tiefere Realzinsen durchsetzen. Natürlich können die Notenbanken zur direkten Finanzierung der Staaten übergehen, natürlich können die Helikopter zum Einsatz kommen und das Geld über den Städten abwerfen. Natürlich können die Notenbanker eine noch größere Blase an den Märkten aufpumpen.

Andererseits sind die Notenbanken schon einen weiten Weg gegangen. Es besteht die realistische Gefahr, dass das Vertrauen in unsere Geldordnung bei weiteren drastischen Interventionen der Notenbanken abnimmt. Die politische Akzeptanz für weitere Maßnahmen dürfte auch sinken. In Europa, weil die Maßnahmen der EZB immer auch eine Umverteilung zwischen den Mitgliedsländern bedeuten, der jegliche demokratische Legitimierung fehlt. In den USA, weil eine immer größere Gruppe an Politikern die Rettungspolitik der Notenbanken kritisch sieht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass es die US-Notenbank Fed war, die in der Finanzkrise den europäischen Banken die dringend erforderliche US-Dollar-Liquidität zur Verfügung gestellt hat. Kommt es zu einem Zinsschock und damit zu einer neuen Krise in den Märkten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine US-Administration, die sich an den amerikanischen Interessen orientiert („America first“), eine erneute Rettung verweigert. Dies ist umso wahrscheinlicher, je größer die vorangegangene Katastrophe war, die den Zinsanstieg ausgelöst hat.

Die gute Nachricht ist, dass es noch lange bei tiefen Zinsen bleiben kann. Die schlechte, dass eine Trendwende rasch und drastisch verlaufen dürfte, mit entsprechenden Folgen für alle Assets, deren Preis am billigen Geld hängt. Nachdem niemand den Zeitpunkt vorhersagen kann, wäre es falsch, aus den Märkten auszusteigen. Es ist aber genauso falsch voll investiert zu bleiben. Cash bleibt im heutigen Umfeld die billigste Möglichkeit Risiken zu begrenzen.

→ WiWo.de: “Die Sorglosigkeit der Anleger trügt Cash ist King”, 9. November 2017