Coronavirus: Folgt nun Lehman 2.0?

Dieser Kommentar von mir erschien bei manager magazin und gehört zum HOTSPOT CORONOMICS:

Am Aschermittwoch forderte ich mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus einen ökonomischen Notfallplan. Am Tag darauf telefonierte ich mit meiner Bank, um meinen eigenen Notfallplan in Gang zu setzen. Die Absicherung meines Aktienportfolios gegen den – damals noch unwahrscheinlich erscheinenden – Fall, dass wir es nicht mit einem “V”, sondern eher mit einem lang gestreckten “U” zu tun bekommen.

Mein Banker war nicht begeistert, schließlich waren die wirtschaftlichen Folgen weiterhin höchst unsicher, und der DAX hatte gegenüber dem Höchststand am 19. Februar bereits rund 1000 Punkte verloren. Wäre es nicht eher der Zeitpunkt, um wieder in den Markt zu gehen? Nach einigem Hin und Her beschlossen wir den Kauf von Verkaufsoptionen zu 11.000 Punkten mit Verfallsdatum 17. April 2020. Diese Optionen, weil deutlich out-of-the-money, also deutlich unter dem damaligen DAX-Niveau von rund 12.500 Punkten und mit verhältnismäßig kurzer Restlaufzeit, waren sehr billig. Wir beide gingen davon aus, dass mein Geld praktisch verloren ist, aber so ist es, wenn man sich absichert. Es war eine Versicherung. Wir nannten es “Armageddon-Put”.

Jetzt, weitere gute 1000 Punkte im Dax tiefer, ist es keineswegs mehr so unmöglich, bis zum 17. April unter 11.000 Punkten zu landen. Rund fünf Prozent fehlen noch und in sechs Wochen kann viel passieren. Natürlich läuft die Zeit gegen mich, wie immer beim Kauf von Optionen, sodass ich sie bald verkaufen werde. Bisher hat die Versicherung aber funktioniert. Sehr gut sogar.

Wars das?

Flossbach von Storch hat den Infektionsverlauf in China untersucht und kommt zu der ermutigenden Feststellung, dass dort das Schlimmste hinter uns liegt. Es gibt weniger Neuinfektionen als Geheilte, wir nähern uns wieder der Normalität. Träfe das zu, könnte die Wirtschaft in China gerade noch rechtzeitig in Gang kommen, um das Schlimmste für die weltweit vernetzte Wirtschaft zu vermeiden. Es käme zu einer raschen, fast schon v-förmigen Erholung in China, und der Rest der Welt würde sehr knapp an der Rezession vorbeischrammen.

Dies setzt allerdings voraus, dass das Virus nicht auch in anderen Ländern die Wirtschaft lahmlegt. Nomura rechnet in einer Studie vor, dass bis zu 890.000 Menschen weltweit infiziert werden könnten, wenn außerhalb Chinas nur halb so rigoros gegen das Virus vorgegangen wird. Gerade die USA könnten hier ein negativer Ausreißer sein, verfügen doch viele Amerikaner über keine Krankenversicherung, während illegale Migranten sich ebenfalls nicht trauen, zum Arzt zu gehen. Eine ideale Brutstätte für die Verbreitung des Virus. Kommt es zu einer Epidemie in den USA, ist die Rezession garantiert.

Noch überwiegt die Hoffnung. Mit Blick auf frühere Epidemien rechnen Berater der Boston Consulting Group vor, dass die Wirtschaft sich durchweg rasch erholt hat. Das “V” ist demnach die typische Form von Rezessionen, ausgelöst durch einen exogenen Schock wie einen Virus. So war es bei SARS, bei der Hongkong-Grippe von 1958 und selbst bei der Spanischen Grippe 1918. Warum sollte es heute anders sein?

Spielen die Börsen “L”?

Doch warum befinden sich die Börsen dann im Sturzflug? Eigentlich müssten doch beherzte Käufer, die sogenannten “starken Hände” schon längst zugreifen. Galten Aktien – namentlich in Europa – vor vier Wochen noch als alternativlos und vor allem als relativ billig zu Anleihen, so hat sich daran nichts geändert.

In der Tat liegt die Dividendenrendite von Aktien durch die Bank weg über der Rendite, die mit Staatsanleihen zu erzielen ist: in den USA mittlerweile rund ein Prozentpunkt, in Europa bis zu vier Prozentpunkte, wenn man den gesamten Markt betrachtet. Und auf der Ebene der Einzelaktien durchaus mehr. Und vor die Wahl gestellt, der Republik Österreich für 100 Jahre Geld zu unter einem Prozent pro Jahr zu leihen oder die Aktie von beispielsweise Nestlé zu besitzen, fällt mir die Entscheidung nicht schwer.

Allein: Die Käufer kommen nicht – beziehungsweise: Wenn sie kommen, dann hält ihre Kraft, den Markt zu drehen, ein paar Tage oder Stunden. Dies spricht dafür, dass die Börsen aus anderen Gründen als nur dem Virus skeptisch sind. In der Tat neigen zyklische Aktien, Rohstoffe und die Schwellenmärkte schon deutlich länger zur Schwäche. Die Zinsen auf Staatsanleihen fallen in den USA seit dem Sommer 2018. Während die Börsianer eine Party feierten – 2019 war ein sehr gutes Jahr – kamen von hier lange vor Corona echte Warnsignale.

Diese Warnsignale sind durchaus ernst zu nehmen. Und sie weisen alle in die gleiche Richtung. Auf eine Welt, die immer mehr dem japanischen Weg in Stagnation und deflationären Tendenzen folgt. Die Indikatoren dafür sind zahlreich:

  • Der Aufschwung seit der Finanzkrise war lang, aber schwach. In den USA, aber vor allem in Euro-Europa, lagen die Wachstumsraten eindeutig unter früheren Werten und unter dem Vorkrisentrend,
  • dies trotz eines noch vor Kurzem für undenkbar gehaltenen monetären Feuerwerks der Notenbanken
  • und trotz weiter deutlich wachsender Verschuldung, nicht mehr der privaten Haushalte, dafür der Staaten und Unternehmen;
  • mit absehbar noch geringeren Wachstumsraten angesichts des als “demografischen Wandel” harmlos; umschriebenen Niedergangs der Erwerbsbevölkerungen und unzureichenden Produktivitätszuwächsen.
  • mit gleichzeitig verfallender Globalisierung angesichts zunehmenden Protektionismus und abnehmender Kooperationsbereitschaft;
  • steigende politische und soziale Spannungen, von der Außengrenze der EU über den Konflikt der USA mit dem Iran bis zu wachsender Ausländerfeindlichkeit.

In diese Gemengelage trifft nun der exogene Schock aus China. Allein dies spricht bereits für eine deutlich tiefere und längere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Ein “V” wird das also nicht, mindestens ein “U”.

Fallen die Börsen weiter, deutet das noch mehr darauf hin, dass kein “U” gespielt wird, sondern ein “L”. Also ein Einbruch, von dem wir uns nicht so schnell wieder erholen. Das ist ein ernst zu nehmendes Szenario. Was vor allem daran liegt, dass – allen Beteuerungen der Politiker und Notenbanker zum Trotz – die Finanzstabilität keineswegs besser ist als vor elf Jahren. Die Medizin der Notenbanken ist in den vergangenen Jahren nämlich nicht beim Patienten Realwirtschaft angekommen, sondern überwiegend in die Spekulation geflossen:

  • Unternehmen haben sich massiv verschuldet.
  • Diese Verschuldung hat zu einer deutlichen Abnahme der Kreditqualität geführt. Sowohl in Europa wie in den USA dominieren die Unternehmen, die gerade noch Investment-Grade (BBB) sind.
  • Deshalb ist der Zinsdeckungsgrad heute tiefer als vor der Krise 2009, obwohl die Zinsen deutlich tiefer sind.
  • Diese Schulden wurden überwiegend nicht für Investitionen verwendet – warum sollte man auch investieren, angesichts von Überkapazitäten und geringem Wachstum? –, sondern zum Rückkauf eigener Aktien oder zur Übernahme anderer Unternehmen.
  • Beides – die höhere Verschuldung und der Rückkauf – führt zu höheren Gewinnen pro Aktie und steht so hinter dem Aufschwung an der Börse. In den USA waren Unternehmen die größten Käufer im Markt.
  • Zeitgleich haben die Investoren ebenfalls mit immer mehr Schulden gearbeitet, um die Rendite zu verbessern.
  • Und immer mehr Leute, die nicht ausreichend Kenntnis von den Risiken haben, sind in Märkte gegangen, die früher nur Profis vorbehalten waren.
  • Indexfonds und andere ETF suggerieren derweil den Privatleuten tägliche Handelbarkeit und geringe Risiken.

Wie 2009 glauben alle, es gäbe keine Risiken oder sie wären in guten, starken Händen. Wie 2009 glauben sie, dass die Notenbanken sie schon raushauen werden. Wie 2009 dürften sie sich irren.

Lehman 2020?

Natürlich werden die Notenbanken und Regierungen eingreifen, wenn es sich weiter zuspitzt. Der Versuch der US-Notenbank Fed, mit einer Ad-hoc Zinssenkung in dieser Woche die Märkte zu beruhigen, hatte eher den gegenteiligen Effekt. Nach dem Motto, “Was weiß die Fed, was wir nicht wissen?” wurde lieber verkauft statt gekauft.

Aus 2009 wissen wir, dass es lange dauern kann, bis die Maßnahmen radikal genug sind, um den Markt zu drehen. Ohne Helikopter-Geld, also notenbankfinanzierte Programme der Staaten, wird es nicht gehen. Hongkong machte es mit 10.000 Hongkong-Dollar pro Kopf schon mal vor.

Um zu ahnen, wie weit wir noch von diesem Gedanken entfernt sind, muss man nur auf die nun auf den Markt kommenden Ideen von Politikern und Ökonomen blicken. Als würden Konjunkturprogramme oder die Senkung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte geeignet sein, einen Melt-Down unseres überschuldeten Systems aufzuhalten. Dazu bedarf es schon deutlich massiverer Geschütze, und da dürften die USA letztlich die Nase vorn haben, was Radikalität und Konsequenz betrifft. Das haben sie schon 2009 bewiesen, als sie konsequent die Banken rekapitalisiert haben, egal, ob die nun wollten oder nicht.

Aber da war doch noch Lehman? Den Fehler haben die Amerikaner auch begangen. Stimmt. Und den Fehler werden sie nicht wieder machen? Richtig. Und deshalb kann es keine neue Finanzkrise geben? Falsch.

Lehman war prominent und zweifellos ein Schock. Der Grund für die Finanzkrise war der Kollaps der Bank nicht, genauso wenig wie Griechenland der Grund für die Eurokrise war. Beide waren nur Symptome für ein überschuldetes Finanzsystem, das sich verspekuliert hatte. Wir brauchen kein neues Lehman für eine neue Finanzkrise.

Dabei scheint es viele Kandidaten für die Rolle der gefallenen Bank zu geben. Der Euro-Stoxx-Bankenindex notiert bei knapp über 50 Prozent vom Buchwert der Banken. Der Markt denkt demnach, dass die Banken fast so schlecht dastehen wie 2012 zum Höhepunkt der Eurokrise. Es gibt also 2020 genügend Kandidaten für die Rolle von Lehman.

Vermutlich kommt der Schock aber aus einer anderen Ecke. Ohnehin werden alle Banken gerettet, egal was die Politik erzählt. Der wahrscheinlichere Auslöser ist beispielsweise ein Hedgefonds, der auf die falsche Seite gewettet hat. Oder ein Industrieunternehmen, das angesichts von Rezession und zerfallender Wertschöpfungskette die Illusion, noch “BBB” zu sein, nicht mehr aufrechterhalten kann. Nicht zufällig ziehen die Risikoprämien im Markt für Unternehmensanleihen bereits an.

Der Hedgefonds-Milliardär Ray Dalio brachte es in einem Kommentar so auf den Punkt: “(…)it seems to me that this is one of those once in 100 years catastrophic events that annihilates those who provide insurance against it and those who don’t take insurance to protect themselves against it because they treat it as the exposed bet that they can take because it virtually never happens. These folks come in all sorts of forms, such as insurance companies who insured against the consequences that we are about to experience, those who sold deep-out-of-the-money options planning to earn the premiums and cover their exposures through dynamic hedging if and when the prices get near in the money, etc. The markets are being, and will continue to be, affected by these sorts of market players getting squeezed and forced to make market moves because of cash-flow issues rather than because of thoughtful fundamental analysis.” Genau das also, was auch 2009 der Fall war: ein Margin Call.

Damit legt das Virus nur die fundamentale Krankheit einer Wirtschaft offen, die zunehmend auf Spekulation statt auf Investition setzt. Die Börsianer ahnen das und bereiten sich vor. Ich denke, das ist keine schlechte Idee. Gerade als Unternehmer sollte man sich nicht darauf verlassen, dass es beim “V” bleibt. Cashflow-Sicherung hat jetzt höchste Priorität.

Nachtrag: Am Montag, 9. März 2020, habe ich die Hälfte der Put-Optionen verkauft.

→ manager-magazin.de: “Was Corona und die Lehman-Krise gemein haben”, 7. März 2020