Best of 2015: „Wie Deutschland seinen Wohlstand verschleudert“

Dieser Beitrag erschien im Oktober bei manager magazin online. Eigentlich hätte ich ihn auch „Bilanz von 10 Jahren Merkel“ nennen können – natürlich unvollständig, weil nur auf die ökonomischen Aspekte beschränkt. Dazu hätte ich lediglich neben den hier genannten Punkten auf den Reformstillstand verweisen müssen und die Tatsache, dass wir den wirtschaftlichen Aufschwung vor allem dem schwachen Euro und dem Investitionsboom der Schwellenländer verdanken. Nicht der Politik der Regierung.

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Als der Ökonom Thomas Piketty im Herbst letzten Jahres seine Forderung nach radikaler Umverteilung im Bundeswirtschaftsministerium vortrug, war der Hausherr Sigmar Gabriel (SPD) sichtlich begeistert. Es spiele keine Rolle, ob die Thesen des Franzosen richtig oder falsch seien. Politisch relevant seien sie allemal.

Auch eine Idee für die Mittelverwendung hatte Gabriel parat: Liebend gern würde er vier Milliarden mehr für Bildung ausgeben. Was ihn daran hinderte, blieb völlig unklar, hatte die Bundesregierung doch kurz zuvor Rentengeschenke in Höhe von rund 200 Milliarden verteilt. Dagegen sind vier Milliarden für Bildung doch ein Klacks.

Diese kleine Anekdote zeigt gut, woran Deutschland krankt. Wir konsumieren, statt in die Zukunft zu investieren. Wir geben uns einer Wohlstandsillusion hin und denken, wir könnten „alles schaffen“. Die Flüchtlingskrise, die Energiewende, die Rettung des Euros, die Umstellung unsere Wirtschaft auf neue Technologien und letztlich den Übergang zu einer schrumpfenden Gesellschaft mit immer mehr Alten.

Das Problem ist: Jede einzelne dieser Herausforderungen kostet Billionen. In Summe zu viel – selbst für eine noch starke Volkswirtschaft wie die unsere. Nicht nur die Kosten sind enorm. Wir müssten jeweils investieren, statt zu konsumieren. Doch wir tun das Gegenteil. Investitionen legen die Grundlage für künftigen Wohlstand, Konsum verbraucht vorhandenen Wohlstand.

Energiewende: Vernichtung von Milliardenvermögen

Die Energiewende kann man wollen. Ich will jetzt gar nicht in die Diskussion einsteigen, wie sinnvoll es ist, bei uns – fernab von jedem Erdbeben- und Tsunami-Gebiet – Atomkraftwerke abzuschalten, wenn in Japan ein Unglück passiert. Ich will auch nicht groß hinterfragen, ob wir wirklich sicherer sind, wenn andere Länder um uns herum dafür mehr auf Atomkraft setzen. Problematisch sind aber Umsetzung und Folgekosten. Der Kurswechsel über Nacht hat volkswirtschaftliches Vermögen in Milliardenhöhe vernichtet. Nun mag dies nur für die Aktionäre der Energiefirmen unmittelbar relevant erscheinen.

In Wirklichkeit schwächt diese Vermögensvernichtung eine ganze Branche und erschwert den Übergang zu wirklich neuen Technologien mehr, als dass sie ihn erleichtert. Die gleichzeitige Förderung der alternativen Energien war nichts anderes als ein gigantisches Subventionsprogramm, von dem vor allem die chinesischen Solaranbieter profitiert haben. Für den Standort Deutschland bedeutet sie dauerhaft deutlich höhere Energiekosten. Die Belastung für Unternehmen und Verbraucher wird auf eine Billion geschätzt. Diese Billion ist Konsum und fehlt an anderer Stelle. Wie weit Industrien für erneuerbare Energien davon wirklich profitieren, vor allem am Standort Deutschland, bleibt abzuwarten.

Flüchtlinge: die Milliardenkosten einer verschenkten Chance

Mindestens eine Million zumeist junger Flüchtlinge nehmen wir in diesem Jahr auf. Ein Ende der Völkerwanderung ist nicht abzusehen. Inklusive Familiennachzug werden schon jetzt Zahlen von bis zu 10 Millionen Flüchtlingen bis 2020 gehandelt. Vor einigen Wochen habe ich an dieser Stelle vorgerechnet, was passieren müsste, damit die Zuwanderung zu einem Gewinn für beide Seiten wird. Für die Flüchtlinge und auch für uns.

Der entscheidende Hebel ist dabei, den Anteil der produktiven Flüchtlinge möglichst hoch zu bekommen. Bei einem Anteil von 50 Prozent Flüchtlingen, die wir in Arbeit bekommen, wäre die Bilanz schon neutral. Die Mehrkosten würden durch einen Mehrertrag kompensiert. Schaffen wir es hingegen nicht, haben wir es mit jahrzehntelangen finanziellen und sozialen Belastungen zu tun. (Passend dazu nun auch die ersten Meldungen, die von erheblichen Steuererhöhungen ausgehen.)

Wie vorgerechnet, erreichen diese Belastungen mit über einer Billion Euro leicht die Kosten der deutschen Einheit. Um diese zukünftigen Kosten zu vermeiden, müssten wir heute massiv investieren. In Deutschkurse, die Vermittlung der Werte des Grundgesetzes und in Berufsausbildung. Nichts davon passiert und schon gar nicht im erforderlichen Umfang. Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin Neukölln rechnet vor, dass es alleine an 20.000 Deutschlehrern fehlt.Derweil weigern wir uns den Mindestlohn aufzuweichen. Mit 8,50 Euro schon für uns zu hoch, ist er nun völlig illusorisch. Kein Unternehmer kann es sich leisten, zu diesen Kosten Mitarbeiter ohne Deutsch-Kenntnis und mit unklarer Qualifikation zu beschäftigen. So sehr es den Gewerkschaften gefällt, dass die Regierung am Mindestlohn festhält, so klar sind die finanziellen Konsequenzen für uns alle. Eine Billion Euro und mehr, die an anderer Stelle fehlen werden, weil wir den Flüchtlingen die Chance für eine rasche und echte Integration verwehren.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute freuen sich über die positive Wirkung der Flüchtlingskrise auf das BIP 2016. Verpflegung, Kleidung und Unterkunft führen zunächst zu Mehrnachfrage und damit mehr Wirtschaftsleistung. Doch auch dies ist nur Konsum. Wahre Investitionen wären deutlich höher – und eben nicht ohne drastische Einschnitte an anderer Stelle und Steuererhöhungen zu finanzieren. Doch davor schreckt die Politik zurück. Ein weiteres Beispiel für kurzfristige Optimierung zulasten künftiger Generationen.

Ungelöste Eurokrise

Die Flüchtlingsthematik beherrscht die Medien und verdrängt die anderen ungelösten Probleme Europas. Henrik Müller betont zu Recht den Zusammenhang zwischen Eurokrise und Fluchtwelle. In den letzten Jahren ist nicht zuletzt wegen der völlig verfehlten deutschen Euro-Politik in Europa viel politischer Goodwill verloren gegangen. Zielsicher haben wir uns nach „unten links“ manövriert, also den politischen und finanziellen Schaden für uns maximiert. Alles immer begleitet von der völlig irrigen Annahme, wir seien die Nutznießer des Euros. Dass dem nicht so ist, kann man hier nachlesen.

Nun haben sich die Gewichte verschoben. Nicht wir können den anderen sagen, wie es geht, sondern wir brauchen die anderen. Griechenland wird den Schuldenschnitt bekommen, im Gegenzug für Auffanglager auf den Inseln. Europa wird die Schuldenunion bekommen, die teuerste für uns denkbare Variante, als Gegenleistung für eine etwas solidarischere Verteilung der Flüchtlinge. Gemeinsam werden wir die Politik des Sparens endgültig beerdigen für ein weiteres Leben auf Pump. Kombiniert mit der Bankenunion wird das für uns ein teurer Spaß. Bei einer Billion Euro, wie von mir noch vor Kurzem geschätzt, wird es nicht bleiben. Auch diese Billion ist letztlich Konsum, egal wie sie uns von der Politik verkauft wird. Damit sind wir schon bei mehr als drei Billionen Euro die wir in den kommenden Jahrzehnten verbrauchen.

Wer zahlt unsere Renten?

Weitere Billionen wird die Versorgung einer immer älteren Gesellschaft verschlingen. Nirgendwo wurde für diese Kosten vorgesorgt. Studien rechnen vor, dass es enormer Kraftanstrengungen bedarf, um die Staatsfinanzen unter Kontrolle zu halten. Noch stehen wir in Deutschland relativ zu anderen Ländern recht gut da. Wenn wir unsere Ausgaben für Renten, Pensionen und Gesundheitsleistungen für Alte auf dem derzeitigen Niveau des BIP einfrieren, können wir eine Explosion der Staatsschulden vermeiden. So die Berechnung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), angestellt vor der Rentenreform der Großen Koalition.

Pro Kopf gerechnet sind das angesichts explodierender Rentnerzahlen natürlich schlechte Nachrichten. In der Praxis wird es auf Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und mehr Schulden hinauslaufen. Auch dies ist wiederum Konsum und ein Anspruch auf das Volkseinkommen, welches wir erarbeiten, in Billionenhöhe. Finanzieren wir alles mit Schulden, so erwartet die BIZ für 2040 einen Schuldenstand von über 300 Prozent des BIP. Überschlägig also ein Anstieg um sechs Billionen. Auch dies für Konsum, nicht für die Sicherung künftigen Wohlstands.Diese Zahlen unterstreichen nochmals die vergebene Chance einer ungesteuerten Zuwanderung, die nicht nach Qualifikation unterscheidet und die erforderlichen Integrationsinvestitionen nicht tätigt. Statt die Last der alternden Gesellschaft zu mindern, droht eine Verstärkung der Verteilungskonflikte.

Deutschland vor gefährlichen Verteilungskämpfen

Der VW-Skandal sollte es dem letzten Skeptiker vor Augen führen. Die deutsche Wirtschaft ist dominiert von der Automobilindustrie, die vor erheblichen Herausforderungen steht. Technologischer Wandel, neue Wettbewerber und verändertes Konsumentenverhalten sind Herausforderungen, die wir bewältigen können. Sicher ist dies allerdings nicht. Die Tatsache, dass ein weltweit führendes Unternehmen wie Volkswagen zur Manipulation gegriffen hat, zeigt, wie groß die technologische Herausforderung ist. Selbstfahrende Autos und der Verlust der Rolle als Statussymbol bei künftigen Generationen können die Industrie mehr als erschüttern. Zeit, neue Branchen zu entwickeln. Doch damit tun wir uns schwer.

Was wir bräuchten, wäre eine Investitionsoffensive von privater und öffentlicher Seite. Stattdessen fallen die Ausgaben für Investitionen seit Jahren kontinuierlich. Unternehmen investieren lieber in den Märkten der Zukunft, der Staat konzentriert sich auf Konsum statt Investition. Der Verfall des Bildungswesens tut ein weiteres.

Wir können vieles  aber nicht alles gleichzeitig.

Jede einzelne der beschriebenen Herausforderungen können wir meistern, vielleicht auch zwei. Alle schaffen selbst wir nicht. Wir verteilen unseren vorhandenen Wohlstand freimütig und versäumen es, die Grundlagen für den zukünftigen Wohlstand zu legen. Damit ist aber auch klar, dass wir die heute gemachten Versprechen unmöglich erfüllen können. Alle Teile der Gesellschaft werden verlieren. Ohne Friktionen wird das nicht gehen. Im Gegenteil: Die kommenden Jahre werden geprägt sein von Verteilungskämpfen, wie wir sie uns heute nicht vorstellen können

→ manager magazin online: „Wie Deutschland seinen Wohlstand verschleudert“, 13. Oktober 2015