Ist unser Lebensstil wirklich „nicht nachhaltig“? – Ein ökologischer Faktencheck

Folgender Gastbeitrag ist von Dr. Thomas Unnerstall. Der international tätige Berater und Buchautor, promovierte in Physik, arbeitete zunächst mehrere Jahre im Umweltministerium Baden-Württemberg und war danach über 20 Jahre lang in leitenden Funktionen in der Energiewirtschaft tätig. 2021 erschien sein Buch “Faktencheck Nachhaltigkeit – Ökologische Krisen und Ressourcenverbrauch unter der Lupe”.

„Wenn alle Menschen so viel Rohstoffe, Energie, Nahrungsmittel, Plastik verbrauchen würden wie die Einwohner der EU, wenn alle Länder ihr Ökosysteme so belasten würden wie wir – dann würden die planetarischen Grenzen gesprengt, die Erde würde über jedes dauerhaft machbare Maß hinaus beansprucht. Kurz gesagt: Unsere Wirtschaft, unser heutiges Konsumniveau sind ‚nicht nachhaltig‘“.

Dies ist der ziemlich einhellige Tenor sowohl der meisten einschlägigen aktuellen Bücher [1] als auch vieler Talkshows und Meinungsartikel zum Thema Nachhaltigkeit. Die unausweichliche Konsequenz sei, so wird meist gefolgert, dass wir unser Wirtschaftssystem, unsere Konsumgewohnheiten, ja unseren ganzen Lebensstil ändern müssen.

Überprüft man jedoch diesen weitverbreiteten Gedankengang anhand der vorliegenden wissenschaftlichen Daten und Fakten, so stellt man fest: Die Grundthese ist nicht richtig, und die sich aus der tatsächlichen Situation nahelegenden Konsequenzen sehen ganz anders aus.

Ich möchte das in drei Schritten deutlich machen:

1. Entkopplung Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch

 Die Annahme, dass das Wirtschaftswachstum und der laufend weiter steigende Konsum in der EU mit entsprechend steigenden Ressourcenverbräuchen und Umweltbelastungen einherginge, ist naheliegend, aber falsch. Seit Jahrzehnten gibt es eine klare Entkopplung der meisten Rohstoffverbräuche und ökologischen Probleme von der Wirtschafts- und Konsumentwicklung. In der EU verbrauchen wir heute weniger Stahl, weniger Kupfer, weniger Blei, weniger Energie, weniger Düngemittel u. v. a. als vor 20 Jahren (dabei sind importierte Rohstoffe, Energie, Produkte natürlich berücksichtigt). Der ökologische Fußabdruck der EU ist gesunken, Luft und Wasser sind sauberer, die Waldfläche wächst, die meisten Biodiversitätsindikatoren sind seit ein paar Jahrzehnten stabil, und seit 40 Jahren sind in der EU keine Tierarten mehr ausgestorben.

Die Ursachen für diesen Befund sind gut nachvollziehbar: Recyclingraten steigen oft schneller als die Zunahme der Materialverwendung in den Produkten, die EU-Länder verfügen über ein umfassendes Abfallmanagement, die Energieeffizienz nimmt schneller zu als der Konsum, die Landwirtschaft wird effizienter, die vielfältigen Anstrengungen zur Reduzierung von Schadstoffbelastungen und zum Erhalt von Tierarten zeigen Wirkung.

Diese Entkopplung findet zwar nicht überall statt – die wichtigsten Ausnahmen sind Aluminium und Kunststoff, deren Verwendungen weiterhin deutlich steigen –, aber sie ist das klar dominierende Phänomen bezüglich Nachhaltigkeit in der EU.

2. Extrapolation: EU-Konsumniveau für zehn Milliarden Menschen

Legt man nun diese in den meisten Fällen stabilen bzw. nicht selten sogar sinkenden Pro-Kopf-Ressourcenverbräuche und Umweltbelastungen in der EU zugrunde und nimmt an, zehn Milliarden Menschen (d. h. die gesamte Weltbevölkerung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts) würden so wirtschaften und konsumieren wie wir – was wären die Konsequenzen? Würden wir tatsächlich in die ökologische Katastrophe laufen, müssten nachfolgende Generationen darunter leiden, würden sie einen „geplünderten Planeten“ vorfinden?

Schauen wir uns diese Frage schlaglichtartig für die zentralen Bereiche an:

Rohstoffe

In der Tabelle 1 sind die sich bei dieser Extrapolation ergebenden Reichweiten für die wichtigsten mineralischen Rohstoffe einerseits auf der Basis aktueller Kenntnisse über Lagerstätten und aktueller Abbau-Technologien (= Reichweite 1), andererseits auf der Basis der tatsächlichen Vorkommen (= Reichweite 2 [2]) aufgeführt. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt im Kern keine Rohstoffknappheit auf unserem Planeten.

Tabelle 1

Ressource Reichweite 1
(in Jahren)
Reichweite 2
(in Jahren)
Eisen 150 30.000
Kupfer 200 2000
Zink 100 4000
Phosphor (Düngemittel) 600 19.000
Aluminium 80 500.000

Auch ein Pro-Kopf-Energieverbrauch auf EU-Niveau von zehn Milliarden Menschen ändert nichts an der – mittlerweile recht bekannten – Tatsache, dass es gemessen am menschlichen Energiebedarf erneuerbare Energien im Überfluss auf der Erde gibt: Nur mit PV-Energie (plus nachfolgender Produktion von Wasserstoff und anderen grünen Brennstoffen) dargestellt würde für diesen Energieverbrauch maximal drei Prozent der Landfläche des Planeten benötigt.

Landwirtschaftliche Ressourcen

Die landwirtschaftliche Fläche pro Kopf der Bevölkerung in der EU (inkl. der „ausgelagerten“ Flächenverbräuche durch Nahrungs- und Futtermittelimporte) liegt mit ca. 0,4 Hektar deutlich unter dem Weltdurchschnitt mit ca. 0,6 Hektar. Ähnliches gilt für den Wasserverbrauch in der Landwirtschaft. Damit ist klar: Auch eine Nahrungsmittelproduktion auf EU-Niveau für zehn Milliarden Menschen würde die Ressourcen des Planeten nicht überfordern – zumal die Menschheit bislang nur etwa 30 Prozent der für den Ackerbau geeigneten Flächen tatsächlich zu diesem Zweck nutzt.

Artensterben/Biodiversität

Was kann man über den wahrscheinlichen Biodiversitätsverlust in einer Welt mit zehn Milliarden Menschen und EU-ähnlichen Wirtschafts- und Konsumstrukturen sagen?
Die Biodiversitätsindikatoren in verschiedenen Weltregionen sind bis heute in erster Linie korreliert mit Art und Umfang der jeweiligen Landnutzung [3]. Daher ist nicht überraschend, dass der Biodiversitätsverlust in der EU bereits vor 100 Jahren – aufgrund ihrer großen Bevölkerungsdichte und ihrem entsprechend hohen Anteil an Acker- und Siedlungsflächen (ca. 30 Prozent) – im weltweiten Vergleich mit am höchsten war. Da sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts diese Flächennutzungen nur noch moderat ändern, sind die meisten Biodiversitätsindikatoren der EU seit Jahrzehnten ziemlich stabil; insbesondere sind sie praktisch unabhängig von der Wirtschafts- und Konsumentwicklung.

Auch bei zehn Milliarden Menschen bleibt die globale Bevölkerungsdichte deutlich unter der der EU, und nach den vorliegenden Prognosen wird – unabhängig von der Entwicklung von Wirtschaft und Konsum – auch die intensive Flächennutzung weltweit eine Marke von 20 Prozent (von heute 15 Prozent) nicht übersteigen; eine deutliche Verschlechterung der Biodiversität auf der Erde ist daher im Rahmen der hier angenommenen Extrapolation nicht zu erwarten.

Beim Thema Artensterben bzw Artengefährdung steht die EU besser da als der Rest der Welt (Tabelle 2). Dies ist sicherlich mit den erheblichen Artenschutzanstrengungen auf unserem Kontinent zu erklären, insbesondere auch mit der Tatsache, dass mittlerweile ca. 70 Prozent der besonders wertvollen Ökosysteme unter Schutz gestellt wurden.

Tabelle 2
Indikator EU Welt
Biodiversitätsverlust
(Rückgang Tierpopulationen)
35 – 40 Prozent 20 – 25 Prozent
Gefährdete Wirbeltierarten
(in Prozent aller Arten)
6 – 7 Prozent 10 – 11 Prozent
In den letzten 40 Jahren ausgestorbene Wirbeltierarten
(in Prozent aller Arten)
0 0,2 – 0,3 Prozent

Fazit

Man könnte die Aufzählung fortsetzen – auf Schadstoffe (die EU ist hier weltweit Vorbild), auf Plastikverbrauch (die EU hat nur einen sehr kleinen Anteil an den Plastikabfällen in den Meeren) und auf weitere Themen ausdehnen, immer mit demselben Ergebnis:

Ja, zehn Milliarden Menschen könnten so viel Rohstoffe, erneuerbare Energie, Nahrungsmittel, Plastik usw. wie wir beanspruchen, ohne das nachfolgende Generationen in ihrem Leben und Wirtschaften signifikant eingeschränkt würden. Die Erde bietet genügend Ressourcen, genügend Platz – sie müssen nur gut gemanagt werden.

3. Klimaschutz

 Dieser Befund ist eindeutig [4]. Allerdings habe ich bisher das wichtigste Nachhaltigkeitsthema der Gegenwart ausgeklammert, den Klimaschutz. In der Tat: Erneuerbare Energien gibt es zwar mehr als genug, aber noch nutzt die EU zu 70 Prozent fossile Energieträger und hat unakzeptabel hohe CO2-Emissionen pro Kopf. Stimmt am Ende das Verdikt „nicht nachhaltig“ bezüglich unseres Wirtschaftssystems/Konsumniveaus also doch?

Nein. Aktuelle Studien [5] zeigen, dass auch ein sehr ambitionierter Klimaschutz nicht auf Kosten von Wohlstand und weiterem Wirtschaftswachstum gehen muss – klug politisch gesteuert, kann er sogar beides befördern. Die mit Abstand dringlichste ökologische Aufgabe heißt daher, genau dies zu tun und in der EU (spätestens) bis 2050 klimaneutral zu werden.

Fazit

Das Gesamtfazit lautet daher: Nicht unser Wirtschaftssystem oder unser grundsätzlicher Lebensstil sind „nicht nachhaltig“, sondern (nur) unser Energiesystem.

Die sich aus dieser sachlichen Analyse, dem ökologischen Faktencheck ergebenden primären Konsequenzen für die EU sind damit: Erstens müssen die EU-Mitglieder ihre eigenen Energiesysteme zügig auf CO2-freie Energien umstellen. Zweitens müssen sie anderen Regionen der Welt bei ihrem Weg in die Klimaneutralität helfen – finanziell, technologisch und auch durch eine sehr aktive Rolle beim Aufbau eines Weltmarktes für grüne Energieträger.

 


[1]  Z. B.: „Die Welt neu denken“ von M. Göpel (2020); „Über Leben“ von Steffens/Habekuss (2020); „Die große Transformation“ von U. Schneidewind (2018).

[2] Reichweite 2 beantwortet folgende Frage: wie lange reicht der Rohstoff unter den Annahmen, dass 1) jährlicher globaler Verbrauch = heutiger jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch der EU x 10 Mrd., 2) 1/1000 der geologischen Vorkommen in der oberen, kontinentalen Erdkruste sind tatsächlich in der Zukunft abbaubar.

[3] Die zukünftige Entwicklung hängt dagegen in erster Linie vom Ausmaß des Klimawandels ab.

[4] Er bedeutet jedoch nicht, dass die EU in puncto Nachhaltigkeit nicht noch besser werden könnte und sollte. Es gibt im Detail durchaus eine ganze Reihe von handfesten ökologischen Hausaufgaben: Beenden der (unsinnigen) Palmöl-Importe v. a. aus Indonesien, Beenden jeglicher Müllexporte, Beenden der Überfischung einzelner Fangzonen, bessere Dosierung von Nitrat-Düngemitteln (um die Grundwasserbelastung zurückzuführen), um nur einige wichtige Herausforderungen zu nennen.

[5] „Aufbruch Klimaschutz“, DENA 2021; „Klimapfade 2.0“, BDI, 2021; u. a.