Gunnar Heinsohn: Die Reichen kön­nen nichts dafür

Mit Bestürzung und Trauer habe ich vom Tode Professor Gunnar Heinsohns erfahren. Er starb am 16. Februar in Danzig (Gdansk) in Polen. Nahe der Stadt war er im November 1943 auch geboren worden. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 lehrte der Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen Sozialpädagogik, bis 2020 zudem Kriegsdemografie am NATO Defense College in Rom.

Ich habe Gunnar Heinsohn vor mehr als 30 Jahren kennengelernt. Bereits in meiner Dissertation habe ich die Werke von ihm und seinem schon vor Jahren verstorbenen Kollegen Otto Steiger zitiert. Sein Blick auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge hat mich bis heute geprägt. Wohl keinen Autor habe ich so oft auf meinem Blog zitiert bzw. kein anderer Autor hat mir so bereitwillig und hilfsbereit Materialien zur Verfügung gestellt. Mit fünf Aufritten war Professor Heinsohn so häufig in meinem Podcast zu Gast wie kein anderer.

Ich werde Gunnar Heinsohn als freundschaftlichen Ratgeber, als intellektuelles Vorbild und als warmherzigen Menschen vermissen. Meine Gedanken sind bei seiner Familie.

Von den insgesamt 97 Beiträgen auf meinem Blog bringe ich in diesen Tagen eine kleine Auswahl: In diesem Gastbeitrag erklärt er den Grund für die immer größere Konzentration von Vermögen. Im Prinzip liegt es am Leverage-Effekt, der natürlich nur bei jenen wirken kann, die etwas zu verpfänden haben:

Peter und Paul haben pfandfähiges und derzeit unbelastetes Vermögen – Firmenanteile und Zentrums-Immobilien – von je zwanzig Millionen. Einer liebäugelt mit einem Aktienpaket, das zehn Millionen kostet und lange schon sichere 400.000, also vier Prozent jährlich abwirft. Doch mit dem Kauf wird es nichts, weil die zu leihenden zehn Millionen nicht nur ein Pfand zum Preis von ebenfalls zehn Millionen, sondern auch noch eine Zahlung von vier Prozent Zins, also von 400.000 jährlich erfordern. Weil sich das nicht rechnet, unterbleibt die Transaktion.

Plötzlich jedoch geschieht etwas Märchenhaftes. Die Investmentabteilung seiner Bank teilt mit, dass die Zentralbank nur noch 0,1 Prozent Zins verlangt. Dass die hohe Instanz auf Gewinn verzichtet und sogar Verluste riskiert, klingt für Peter durchaus bedrohlich. Doch heutige Zentralbanken haben im Staat einen Eigentumsgeber letzter Hand, der für den Notfall ihrer Rekapitalisierung Vermögen und Löhne aller Untertanen heranziehen kann. Dieser Zugriff reicht auch für das Wiederbeleben systemrelevanter, aber bankrotter Geschäftsbanken. Er ermöglicht sogar die Unterbindung des Preisverfalls von Aktien durch deren Direktankauf, womit 2002 für Bankaktien und 2013 für alle Börsenpapiere die Bank of Japan beginnt. Entspannt erteilt Peter die Kauforder, verpfändet zehn Millionen seines Eigentums, sagt 10,000 Zins zu und erhält für die als Kredit erhaltenen zehn Millionen das Aktienpaket, das 400,000 für das regelmäßige Tilgen seiner Schuld sowie die Gebühren der Bankeigentümer abwirft.

Der Handel bleibt Paul nicht verborgen. Absolut macht er ihn nicht ärmer, aber beim Einkommen fällt er gegenüber Peter zurück. Beide gehören zu der kleinen Minderheit, die überhaupt pfandfähiges Eigentum in der gebotenen Größenordnung aktivieren können. Die übrigen neunundneunzig Prozent hören zwar oft von solchen Vermögen und dass sie auch noch dauernd größer werden, bedenken jedoch selten, dass innerhalb des einen Prozents das Gerangel um die auch dort vorhandenen vorderen Plätze niemals aufhört.

Paul will nicht der Dumme sein. Er zieht nach und noch ein paar Schnelle aus dem Umfeld gehen mit. Dazu gehören auch börsennotierte Firmen, die sich über die vier Prozent ärgern, die sie jährliche an ihre Aktionäre als Dividende ausschütten. Mit Nullzinsgeld kaufen sie die ertragssicheren Aktien zurück und steigern so die Einkünfte der verbleibenden Teilhaber. Es wirkt wie ein Wunder und ist doch rundum legale Wirklichkeit.

All diese Käufe verdoppeln über kurz oder lang den Preis des begehrten Aktienpakets auf zwanzig Millionen. In der dahinter stehenden Firma hat sich dabei nichts geändert. Die Rechtfertigung der Zinsnullung als Hilfe für die „Real“-Wirtschaft ist für die Betriebe weitgehend irrelevant. Vielerorts gefürchtete Zombies haben als Halbpleitiers ohnehin kaum noch Pfand für neue Kredite. Ihr Überleben wird mithin keineswegs verlängert. Gesunde bekommen ihr Geld allemal und könnten auch einen höheren Zins aufbringen. Sie werden die Subvention zwar mitnehmen, aber neue Maschinen kaufen sie erst, wenn sie die wirklich brauchen. Tatsächlich hilfreich wären bessere Patente und klügere Leute. Doch da müssen selbst die mächtigsten Zentralbanken passen. Es bleibt also beim Jahresertrag von 400.000. Doch zum gestiegenen Preis von nunmehr zwanzig Millionen sind das nur noch zwei Prozent.

Neue Käufer müssen jetzt also Eigentum zum Preis von zwanzig Millionen verpfänden und nicht mehr nur 10,000, sondern 20,000 Zins jährlich zahlen. Das verringert die Zahl möglicher Konkurrenten, sodass die großen Fische unter sich bleiben. Sie gewinnen zwar nicht mehr das Vierzigfache, aber doch ein immer noch stattliches Zwanzigfaches. Peter hingegen, der noch für zehn Millionen zugegriffen hat, verfügt jetzt über ein Aktienpaket zum Preis von zwanzig Millionen. Mit den nun ebenfalls verpfändbaren Zusatzmillionen setzt er seinen goldenen Weg fort, solange der Zins gegen null oder darunter tendiert und darüber Rentierendes noch zu haben ist.

Beobachter erhitzen sich über eine Vermögenspreis-„Inflation“. Sie streiten darüber, ob und wann sie auch bei Brot und Butter zu Millionenpreisen führen. Doch findet da wirklich Inflation statt? Wenn man 400,000 Zins einsetzen muss, um 400,000 Ertrag zu bekommen, bald danach die Zentralbank aber den Satz  verdoppelt und 800,000 Zins für einen unveränderten Ertrag von 400,000 fällig werden, wird diese Verteuerung mit Recht als Inflation empfunden. Solange jedoch der Zinseinsatz unterhalb des Ertrages bleibt, gibt es keine Inflation, sondern lediglich eine allmähliche Verringerung der Preissubvention. Die Sachen werden durch Zinsnullung schlichtweg billiger. Diese Deflation‘ ist erst vorüber, wenn durch Preissteigerungen beim Gekauften der Zinseinsatz und der Vermögensertrag wieder ähnlich hochstehen.

Die Zentralbanken treiben mit der Zinsnullung den Preis für den Erwerb von Vermögenstiteln also künstlich nach unten. Damit ermuntern sie die Wenigen, die überhaupt Pfand für das Erlangen von Zentralbankgeld stellen können, zum Aufsaugen der plötzlich zu Sonderangeboten werdenden Schätze. Solange diese betörende Melodie für unseren exklusiven Klub erklingt, werden viele seiner Mitglieder auch tanzen. Das vergrößert natürlich den Abstand zwischen dem Kollateral-Adel und dem Rest, der höchstens eine Wohnung belasten kann.

Würde der Staat jedem Käufer eines Kilogramms Butter zum Preis von zehn Euro fünf Euro zuschießen, das Milchfett also künstlich billiger machen, würde das plötzliche Abstellen dieser Subvention ebenfalls als inflationäre Preisverdopplung empfunden und doch nur eine künstliche Preisverringerung beenden. Allerdings käme diese Konsumgüterverbilligung allen zugute, während die Zinsnullung nur Leuten etwas bringt, die das ja weiterhin geforderte Pfand stellen können.

Eine Gleichheit für alle à la Butterpreissubvention gäbe es erst, wenn der Zinsverzicht um einen Pfandverzicht ergänzt würde. Er käme einem Rückzahlungsverzicht gleich, weil nach Tilgungsausfall bei den Kreditnehmern ohne Eigentum ja nichts zu holen wäre. Geld verlöre seinen wichtigsten Knapphalter. Das ist die mit Verlustrisiko verbundene Bereitschaft zur Eigentumsverpfändung. Die Geldemission würde grenzenlos, die Inflation sämtlicher Preise wäre die Folge. Solches Geld würde schnellstmöglich gegen eigentumsbesicherte Währungen abgestoßen und dabei seinen eigenen Preis, also seinen Wechselkurs, gegen null treiben. Die Währung würde unverkäuflich und deshalb unterbliebe auch der Marktverkauf, also die Abtretung von Eigentum gegen seinerseits eigentumsbasiertes Geld. Selbst bei bisherigen Inhabern nur geringer Summen gut besicherten Geldes würde die Freude über die plötzlich pfandfrei, also grenzenlos beschaffbare Währung schnell verfliegen.

Würde eine Zentralbank die Zinsnullung für gestern verliehenes Geld plötzlich zurücknehmen und Nachzahlungen hoch auf vier Prozent verlangen können, zwänge das viele Vermögende zu Notverkäufen. Es käme umgehend zu einem massiven Preisverfall an den Börsen. Die als Pfand gestellten Aktien würden auf einen Bruchteil der damit geliehenen Summen fallen. Banken würden untergehen, weil ihr Eigenkapital für die Differenz zwischen nicht Zurückbekommenen und den jetzt wertlosen Pfändern ihrer Schuldner aufgezehrt würde. Doch niemand wird mit der Rückzahlung gestern gewährter Zins-Subventionen heute einen Mega-Crash initiieren. Hingegen können Zentralbanken die Zinshöhe allmählich wieder an die Vermögenserträge heranführen und so die verführerische Bereicherungs-Tarantella beenden. Die Konzentration von Reichtum in immer weniger Händen würde zwar nicht aufhören, aber doch aufs gewohnte Tempo zurückgeführt.

Im “Lexikon ökonomischer Werke” (Düsseldorf: Wirtschaft und Finanzen 2006), das 650 wegweisende Texte seit Hesiod vorstellt, ist Heinsohn (*1943) – neben dem 1994er Nobelpreisträger Reinhard Selten (1930 – 2016) – als einziger deutschsprachiger Autor mit drei Texten vertreten (zwei davon mit Koautoren). Der Essay ist eine Kurzfassung eines Vortrags im Züricher Efficiency Club.

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