Etwas über Komplexität

Ein Beitrag des bto-Kommentators und gelegentlichen Gastautors Bauer:

Die Ereignisse der letzten drei Jahre haben bewusst gemacht, dass hochentwickelte Zivilisationen nicht ein natürlicher, quasi selbstverständlicher Zustand in der Menschheitsgeschichte sind, sondern eher die Summe möglicher günstiger Umstände, ja vielleicht nur zufälliger Singularitäten. Der Begriff Komplexität ist in diesem Zusammenhang zunehmend zu vernehmen. Er ist nicht neu und beschäftigt schon längst die Wissenschaft, mit Vorzug Soziologen und Historiker, die Literatur ist umfangreich. Da der Eindruck, dass das Leben zunehmend komplexer wird, nicht von der Hand zu weisen ist, stellt sich daher die Frage, wieviel Komplexität wir uns noch erlauben dürfen vor dem Kollaps?

Die vielleicht umfassendste Antwort, findet man in dem Buch ‘The Collapse of Complex Societies’ von J.A. Tainter, erschienen bereits 1988 bei Cambridge University Press, heute in 29. Auflage (2017). Es hat stark verkürzt die nachstehenden Ausführungen und Überlegungen veranlasst.

Zunächst ist zu definieren, was Komplexität in Anwendung auf eine Gesellschaft bedeutet, wie sie entsteht und welche Folgen sie zeitigt. Die Literatur darüber reicht von den Uranfängen der menschlichen Gesellschaft bis nahe zur Gegenwart. Bei aller Verschiedenheit der geschichtlichen Zusammenhänge und Abläufe erweisen sich folgende Zusammenhänge als entscheidend. Sie als Gesetzmässigkeiten zu bezeichnen, ginge zu weit, da sie weitgehend chaotisch ablaufen. Die Beispiele aus der Geschichte sind erdrückend zahlreich aus allen Epochen und geografischen Räumen. Uns zeitlich und räumlich am naheliegensten ist der Kollaps der römischen Zivilisation, auf deren Resten nach annähernd zweitausend Jahren wir noch immer stehen. Diese Zeit von etwa 200 BC bis 1780 AD ist bereits in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung ausführlich belegt.  

Komplexität entsteht durch die individuelle und gleichzeitig gemeinsame Aktivität der Mitglieder einer Gesellschaft (Familie, Clan, Stamm, Volk, Wirtschaftseinheit). Ihre Zunahme ist daher eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Fortschritts in der historischen Entwicklung der Menschheit, ihre Anfänge werden ziemlich übereinstimmend etwa 6’000 BC in Mesopotamien gesehen. Sie wächst mit zunehmender Organisationstiefe von Gesellschaften (von Familie bis Staatenverbund), ist zwar eine soziale Erscheinung, wirtschaftlich betrachtet aber ein Kostenfaktor, nicht ganz zufällig auch mit abnehmendem Grenznutzen.

Komplexität wird fühl- und messbar durch den damit einhergehenden Organisationsbedarf (Recht, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Verwaltung, Verteidigung), welcher Kosten erzeugt, die wiederum einen Teil des in der Gesellschaft erzeugten Mehrwerts (Energieüberschusses) beanspruchen. Bereits Tainter (a.a.O.) hat diesen Zusammenhang bereits unterstrichen, allerdings in seiner Diktion als Historiker, die hier nun in Ökonomen-Sprech übersetzt wird.

Mit zunehmender Komplexität sinkt der Grenznutzen der Komplexität, bzw. sinkt die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel. Solange der Saldo von Grenznutzen minus Grenzkosten positiv ist, wirkt auch die Zunahme an Komplexität positiv. Die Produktivität steigt und damit auch alles, was als Fortschritt bezeichnet wird. Das Fatale ist, dass die Zunahme an Produktivität regelmäßig geschönt wird, während die Grenzkosten ebenso regelmäßig externalisiert bzw. unterschlagen oder in Nebenhaushalten und negativen Sondervermögen versteckt werden. Der kritische Kipppunkt (Grenzkosten >= Grenznutzen) wird dadurch nicht mehr zeitgerecht wahrgenommen.

Praktisch alle geschichtlichen Beispiele, an denen es nicht mangelt, zeigen nach einem positiven Anstieg von Komplexität und Lebensstandard einen oft überraschend lange gehaltene Kulmination (Nutzen gleich oder nahe null), die dann kurzfristig und unvermittelt in den Kollaps übergeht und nicht mehr aufzuhalten ist. Im Beispiel Roms ist dieses Plateau etwa zwischen der Zeitenwende (Kaiser Augustus) und 235 AD (Soldatenkaiser) anzusetzen, während dem Rom auch seine grösste geografische Ausdehnung erreichte.

Die durch eine Gesellschaft erreichbare Komplexität hängt von der verfügbaren Energie ab. Hier schließt sich die Argumentation mit der von >Ian Morris (Why the West Rules-for Now, 2011), der den Energieverbrauch des Menschen von seinen Anfängen an untersucht hat. Bis heute und unbeeindruckt von allen grünen Rechenkunststücken besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Lebensstandard (in int.$/c), in erster Näherung gleich der Komplexität einer Wirtschaftseinheit (Staat).

Die Gründe für den Kollaps von Staaten sind vielfältig, die Literatur hierüber mehr als umfangreich. Tainter, a.a.O. p.42 nennt zusammenfassend nur elf, die ich hier in Stichworten wiedergebe: Depletion or cessation of vital resources, establishment of a new resource base, occurrence of insurmountable catastrophe, insufficient response to circumstances, other complex societies, intruders, class conflict or elite mismanagement, social dysfunction, mystical factors, chance concatenation of events, economic factors.

Weitere Begründungen, den Zuständen agrarischer Gesellschaften entsprechend, werden genannt, wie Gebietsverlust, Klassenkämpfe, Klimaänderung (Minderung der Erträge), Erschöpfung des Bodens (zu enge Fruchtfolge), Übervölkerung ohne Ausweichmöglichkeit und als Gegenteil Bevölkerungsschwund, Epidemien und nicht zuletzt übersteigerte Bauwut der herrschenden Klasse.

Der Begründung ’mystical factors’ kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da der Autor darin auch Religion, Sektenbildung und Aberglauben einschließt. Gemeinsames Merkmal ist, dass sich solche Gründe jeglicher rationalen Bewertung entziehen und nicht argumentativ zugänglich sind. Regelmäßig wird dadurch die Komplexität gesteigert, da Denkverbote, Einschränkungen der Lebensführung und Rituale Kosten verursachen, der Nutzen jedoch imaginär ist oder weit in die Zukunft, sogar ins Transzendente (Paradies), verlegt wird. Diesen Kosten steht daher kein annähernd zeitgleicher Nutzen (Produktivitätsgewinn) gegenüber und kann daher nur von robusten, kerngesunden Gesellschaften verdaut werden. Oder, siehe Iran, durch unendlichen Rohstoffreichtum, ohne den es längst im Chaos versunken wäre. 

Der Komplexität kann nur mit Elastizität in der Organisationsstruktur erfolgreich begegnet werden. Rigidität und Regelungswut führen lediglich zu Beschleunigung der Komplexität. Um ein Beispiel zu erwähnen: Es ist kein Zufall, dass die USA und die Schweiz als föderative Staaten seit über 200 Jahren prächtig überdauern mit Verfassungen, die vor Beginn des Industriezeitalters konzipiert worden waren. In beiden Fällen haben die Mitglieder der Konföderation (die Einzelstaaten, bzw. Kantone) wesentlich mehr Selbständigkeit (Entscheidungsspielräume) als die angeblich so souveränen Mitgliedsstaaten der EU. Ein übergeordnetes Monster wie die EU-Behörde in Brüssel haben beide zum Glück nicht; es läuft eben besser ohne.

Komplexität ist nicht ein Monolith, sondern erscheint auf allen Entscheidungsebenen und Teilbereichen des menschlichen Lebens, dabei ebenso vielfältig und vernetzt. Die verschiedenen Komplexitätsbereiche sind unterschiedlich exponiert. Einzelne können mit einem niedrigeren als allgemeinen Komplexitätsniveau auskommen, was sie widerstandsfähiger macht, allerdings damit auch individuelle Freiheitsgrade einschränkt. Man denke an das Militär oder artverwandte hierarchische Organisationen, wie auch Religionsgemeinschaften und Sekten. Dass nach einem Kollaps das Militär häufig die Macht übernimmt, sollte daher nicht überraschen. Es ist historisch erwiesen, dass der Kollaps überwiegend am Rand seinen Anfang nimmt, wo die Nützlichkeit der Komplexität (als Kosten/Nutzen-Verhältnis) zuerst aus der Balance gerät, und sich dann zum Zentrum weiterfrisst.

Leider hat es noch kaum jemals eine Gesellschaft gleich welcher Größenordnung geschafft, rechtzeitig den Rückwärtsgang einzulegen und ihre Komplexität rechtzeitig zu reduzieren, etwa durch Entlassung von 35’000 überflüssigen EU-Bediensteten, um im Beispiel zu bleiben. Scheidung oder Ausscheiden aus dem Clan ist nur auf unterster persönlicher Ebene üblich.

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Prognose für Deutschland, die EU, den Westen alles andere als günstig. Seit einem halben Jahrhundert wird mit Eifer an der Vertiefung der Komplexität gearbeitet, vielleicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung der steilen und bislang weitgehend konfliktfreien wirtschaftlichen Entwicklung, Globalisierung inklusiv. Dass gleichzeitig die Produktivität schon nicht mehr zunimmt, wurde übersehen, bzw. anders zu begründen versucht.

Auch im Rom des 3. bis 4. Jahdts konnte sich niemand vorstellen, dass es über 1000 Jahre dauern würde, bis der damalige Lebensstandard wieder erreicht würde, und dass der Durchhänger bis zurück an die Grenzen der jüngeren Eisenzeit reichen würde.“ – D. H. Bauer, Dezember 2022