Die Sanktions­illusion

Wohl niemand weiß genau, wie es im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine weitergeht. Entgegen den lauten Ankündigungen dürfte die Wirkung westlicher Sanktionen beschränkt sein. Was wirken würde, kann nicht angewandt werden. Was angewandt wird, ist unbequem und störend, aber nicht grundlegend genug. Russland ist nicht der Iran. Das Land ist nicht nur deutlich größer, sondern auch ungemein wichtiger für die Weltwirtschaft.

Nehmen wir als Beispiel den von vielen geforderten Ausschluss des Landes aus dem weltweiten Zahlungssystem SWIFT. Russland hat sich seit 2014 auf ein solches Szenario vorbereitet und könnte auf das eigene System SPFS migrieren. Noch wahrscheinlicher wäre die Nutzung des chinesischen Systems CIP, dem sich auch andere Staaten anschließen könnten. Die US-amerikanische Dominanz im Finanzbereich wäre akut gefährdet.

Oder die Idee, Exporte von Halbleitern nach Russland zu verbieten. Abgesehen davon, dass es erfahrungsgemäß immer Umgehungswege gibt, könnte Russland nicht nur auf chinesische Lieferungen ausweichen, sondern als Gegenmaßnahme den Export von für die Herstellung von Halbleitern unerlässlichen Rohstoffen einstellen. Rund 90 Prozent des weltweiten Angebots von Neon, das als Lasergas für die Chiplithografie verwendet wird, stammen aus Russland und der Ukraine. Ähnlich strategisch wichtige Bedeutung als Lieferant hat Russland auch bei Titan, Palladium und Scandium.

Bliebe der Verzicht auf den Import von Erdgas, was nach Berechnungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,9 Prozent einbrechen ließe. Die Folgen wären zweifellos ein weltweiter Preisanstieg und eine Beschleunigung der Umorientierung Russlands nach China. Existenzbedrohend wäre dies für Russland allerdings nicht. Überschlägig kann das Land zwei Jahre auf die Einnahmen völlig verzichten, ohne in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Kaum denkbar, dass der Westen es zwei Jahre durchhielte.

Viele Beobachter führen die schlechte wirtschaftliche Entwicklung nach der Besetzung der Krim als Beweis für die Wirksamkeit von Sanktionen an. Dabei vergessen sie allerdings, dass in diesem Zeitraum der Preis für Öl auf den Weltmärkten deutlich sank. Heute spricht viel dafür, dass wir vor einer anhaltenden Hausse der Preise stehen, nicht zuletzt aufgrund der deutlich gesunkenen Investitionen für die Erschließung neuer fossiler Energiequellen.

Blicken wir den Tatsachen ins Auge: Russland hat Devisenreserven in Höhe von 635 Milliarden Dollar, die fünfthöchsten der Welt. Das Land hat vor allem die Goldreserven deutlich ausgebaut und den US-Dollar-Anteil reduziert.  Es hat eine Staatsverschuldung von 18 Prozent des BIP, der sechstniedrigste Stand der Welt. Bis zuletzt hatte das Land einen Haushaltsüberschuss, weshalb es nicht von ausländischen Kapitalgebern abhängt. Monatlich fließen rund zehn Milliarden Dollar in den Staatsfonds, dessen Vermögen sich am 1. Mai 2021 auf 185,9 Milliarden US-Dollar belief – gut 12 Prozent des russischen BIP. Kein Wunder, dass der russische Botschafter in Schweden es so zusammenfasste: „Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber westliche Sanktionen wären uns scheißegal.“