Der Brexit und die Folgen

Bevor wir einsteigen, kurz eine Standortbestimmung meinerseits. Ich bin kein Fan des Brexits, vor allem aus Eigeninteresse. Es wäre für alle Beteiligten ökonomisch und wohl auch politisch besser, wenn es keinen Brexit gäbe:

  • Es gäbe keine zusätzliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Großbritannien, in der EU, der Eurozone und vor allem auch nicht in Deutschland.
  • Ein Austritt aus der EU macht Großbritannien nicht weniger anfällig für Krisen in der EU/Eurozone, die unabhängig vom Brexit auf uns zukommen – eventuell wegen der von einem Brexit ausgelösten Rezession sogar früher.
  • Großbritannien könnte ohne Brexit eine wichtige Stimme der Vernunft sein, um weitere Fehlentwicklungen in der EU zu verhindern – vor allem den unweigerlichen Marsch in eine immer mehr staatsgläubige Umverteilungs- und Schuldenwirtschaft.
  • Deutschland wäre nicht in der Minderheit bei wichtigen Weichenstellungen in der EU.

Was nun zu den verschiedenen Fragen führt:

  1. Wie kam es zum Brexit?
  2. Wie wird sich Großbritannien nach dem Brexit entwickeln?
  3. Was bedeutet der Brexit für Deutschland und die EU?
  4. Wie hätten EU und Deutschland nach reagieren sollen?
  5. Was passiert bis Ende 2020?

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich für treue Leser wiederhole, hier also der Versuch von Antworten:

1. Wie kam es zum Brexit?

Viel wurde zu diesem Thema geschrieben. Im Kern sehe ich folgende Gründe für die (kleine) Mehrheit der Briten, die für einen Brexit gestimmt haben:

  • Eine Ursache ist die zunehmend größere Schicht der Bevölkerung, die relativ zurückgefallen ist. Man sieht es eklatant an der unterschiedlichen Entwicklung in der Weltstadt London und auf dem Land. Hier hat sich Frust aufgestaut, ähnlich der Unzufriedenheit, die Donald Trump und anderen Stimmen bescheren.
  • Das springt aber zu kurz. Die 52 Prozent stammen wahrlich nicht nur aus den „weniger privilegierten Schichten“. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Brexit-Unterstützung bis weit in die sogenannte „Elite“ hineinreicht: alteingesessene Familien, erfolgreiche Unternehmer und Banker, Akademiker.
  • Dazu gehört auch die Feststellung, dass viele Briten zwar die Wirtschaftsgemeinschaft schätzen, nicht jedoch die Idee der Vereinten Staaten von Europa mit immer mehr Zentralisierung und Verlust an nationaler Souveränität. Ich denke, dass in vielen Ländern bei Volksabstimmungen durchaus ähnliche Ergebnisse herauskämen, wenn man diesen Punkt betonte. Die Deutschen dürften mit ihrer Bereitschaft, in den Vereinigten Staaten von Europa aufzugehen, recht allein sein, zumindest wenn man die Umfrageergebnisse ansieht:
    Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission, Oktober 2018, 

    abrufbar hier.

  • Nach Luxemburg und Irland liegen wir auf Platz 3. Die anderen großen Länder, Frankreich, Großbritannien und Italien befinden sich am anderen Ende des Spektrums. Ja, es ist immer noch eine (kleine!) Mehrheit, die sich als „Bürger der EU“ fühlen. Aber ganz anders als bei uns.
  • Was damit auch bedeutet, dass man mit einer Kampagne, die gegen die EU zielt, auch dort erfolgreich sein könnte. Die Kampagne hat bekanntlich mit einer Mischung aus Versprechen und Unwahrheiten mobilisiert. Trifft das auf ein durchaus begründetes negatives Gefühl, ist alles möglich.

    Hinzu kommt – wie ich immer wieder geschrieben habe – das Versagen der EU in den zwei zentralen Versprechen: der Schaffung von Wohlstand und der Sicherung der Außengrenzen.

    • Seit der Einführung des Euro entwickelt sich die Wirtschaft immer schlechter – nach einer kurzen schuldenfinanzierten Blüte. Die Sparpolitik nach der Eurokrise hat das verstärkt. Und das wirkt ebenfalls auf Großbritannien aus, auch wenn es nicht Mitglied im Euro ist. Die Löhne stagnieren seit Langem.
    • Die Brexit-Abstimmung fand zum Höhepunkt der Migrationskrise statt. UKIP, die Partei von Nigel Farage, hat das Land damals mit Plakaten überzogen, die die Kolonnen der Zuwanderer zeigte und damit für den Brexit geworben. Nach dem Motto: Deutschland ist die Zwischenstation, danach kommen alle zu uns. David Cameron hatte auf dem EU-Gipfel vor der Volksabstimmung darum gebeten, die Personenfreizügigkeit temporär auszusetzen. Also die Zuwanderung nach Großbritannien aus Ländern der EU begrenzen zu dürfen. Dies wurde abgelehnt, vor allem auf Betreiben von Kanzlerin Merkel. Das war schon deshalb falsch, weil die Briten im Unterschied zu Deutschland von Anfang an Personenfreizügigkeit für Osteuropäer hatten. Wir hatten da eine Übergangsfrist. Es wäre also ein Leichtes gewesen, den Briten diese „Pause“ nachträglich zu gönnen.

    Deshalb haben Kritiker wie Thomas Piketty durchaus recht: Deutschland unter Führung von Frau Merkel hat einen Anteil am Brexit. Er fokussiert auf die Austeritätspolitik. Ich würde die Weigerung, die Freizügigkeit temporär einzuschränken, dazurechnen.

    2. Wie wird sich Großbritannien nach dem Brexit entwickeln?

    Bei diesem Punkt sind sich die Kommentatoren weitgehend einig. Kurz- und mittelfristig droht ein Einbruch der Wirtschaftsleistung. Doch was dann?

    Zunächst die Feststellung von Michael Cembalest, CIO von JPMorgan Asset Management:

    • UK growth will suffer a huge hit. Of all the analyses I’ve read about a possible Brexit scenario, I found Open Europe’s report to be the most clear-headed and balanced. Their realistic case estimates the cumulative impact of Brexit on UK GDP at just –0.8% to 0.6% by the year 2030; hardly the stuff that economic calamity is made of.” bto: Überhaupt sind die Berechnungen so von Annahmen abhängig.
    • UK-EU trade will collapse.Not necessarily. Norway, Iceland and Switzerland have entered into agreements with the EU on trade and labor mobility (European Economic Area, European Free Trade Area). These three non-EU countries export as much to the EU as its members do.” bto: Vor allem haben wir ein großes Interesse am britischen Markt.

    Unzweifelhaft würde ein No-Deal-Brexit die Wirtschaft Großbritanniens hart treffen. Und das Risiko bleibt bestehen, muss doch der Vertrag zu den neuen Beziehungen zwischen UK und der EU bis Ende 2020 ausgehandelt werden. Die Frage ist nur, wie es auf lange Sicht aussieht? Hier meine – bekannten – Überlegungen dazu:

    1. Kein Absturz der Konjunktur

    Ginge es nach den Experten, müsste sich die britische Wirtschaft heute in einer tiefen Rezession befinden. Alle namhaften Auguren vom IWF bis zur Bank of England haben vor dramatischen Folgen gewarnt, sollten die Befürworter eines Brexits bei der Volksabstimmung Erfolg haben. Der Immobilienmarkt würde kollabieren, der Konsum einbrechen und die Wirtschaft abstürzen. Nichts davon ist geschehen. Zwar stimmt es, dass sich die Preise für Wohnungen im obersten Preissegment in London um circa zehn Prozent ermäßigt haben, dies aber von einem sehr hohen Niveau aus.

    1. Heilsamer Schock zur Modernisierung der Wirtschaft

    Richtig ist, dass das Pfund, wie vorhergesagt, deutlich eingebrochen ist. Dadurch wurden Exporte gefördert und Importe verteuert. Ein höchst willkommener Effekt, war doch das Handelsdefizit von rund fünf Prozent des BIP ohnehin nicht auf Dauer tragbar. Im Zuge des Brexits stellt die Regierung das bisherige Wirtschaftsmodell infrage und strebt eine Modernisierung und Re-Industrialisierung an. Tiefere Steuern können das Land zudem attraktiv für ausländische Investoren machen. Gut möglich also, dass der Brexit-Schock die Grundlage für einen mittelfristigen Aufschwung der britischen Wirtschaft legt.

    1. Positive demografische Entwicklung

    Großbritannien wird spätestens 2050 mehr Einwohner haben als Deutschland. Die Bevölkerung ist kontinuierlich gewachsen und es sieht so aus, als würde sich an diesem Trend nichts ändern. Wir hingegen stehen vor einem dramatischen Rückgang der Bevölkerung von heute rund 82 auf dann 75 Millionen. Daran ändert auch die jüngste Zuwanderung der Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika nichts. Besonders die Erwerbsbevölkerung steht in den nächsten zehn Jahren vor einem dramatischen Einbruch. Da Wirtschaftswachstum im Kern von der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung und deren Produktivität abhängt, stehen die Chancen Großbritanniens also gar nicht so schlecht.

    1. Attraktiv für qualifizierte Zuwanderung

    Die positive Entwicklung der Bevölkerung hat natürlich etwas mit der Zuwanderung der letzten Jahre zu tun, die auch zu der Brexit-Stimmung beitrug. Man könnte also davon ausgehen, dass die Briten in Zukunft deutlich restriktiver mit der Zuwanderung umgehen und damit das Wachstumspotenzial beschränken.

    Was hier in der Diskussion immer wieder übersehen wird, ist, dass die Befürworter des Brexits keineswegs gegen jede Einwanderung sind. Im Gegenteil, ein Punktesystem wurde nach kanadischem Vorbild diskutiert. Verbunden mit dem Vorteil der Sprache, bliebe das Land damit nicht nur für qualifizierte Zuwanderer attraktiv, es könnte sogar gerade gegenüber der EU noch attraktiver werden. Länder, die sich die Migranten aussuchen können, haben weniger Zuwanderung in Sozialsysteme und deutlich mehr Erfolg bei der Integration. Deshalb sind die Lasten der Umverteilung geringer, was wiederum das Wirtschaftswachstum und die Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer erhöht.

    1. Führende Stellung in Elitenbildung

    Dabei hilft auch die Tatsache, dass die Spitzenbildung in Großbritannien durchaus etwas zu bieten hat. Neben den berühmten Privatschulen sind dies vor allem die Universitäten. Im letzten Ranking der 100 besten Universitäten der Welt ist Großbritannien mit immerhin achtzehn Universitäten vertreten. Die EU bringt es (ohne GB) auf 12, davon je drei in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden und je eine in Schweden, Dänemark und Belgien. In den Krisenländern der EU gibt es übrigens keine Universität in den weltweiten Top 100. → Die besten Universitäten der Welt

    Eine gesteuerte Einwanderung, ein herausragendes Bildungssystem und die geringe Sprachbarriere dürften für Großbritannien in den kommenden Jahren außerhalb der EU zu einem deutlichen Wettbewerbsvorteil werden.

    1. Marktwirtschaftliche Tradition

    Schon vor dem Votum hat JPMorgan aufgezeigt, dass die EU Großbritannien an Länder bindet, die nicht das gleiche Wirtschaftsprofil und eine unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit haben. Deutschland, Holland, Schweden und Irland fallen in dieselbe Kategorie wie UK. Frankreich, Italien, Spanien und Portugal eindeutig nicht. Deshalb sei es für Großbritannien gut, nicht mehr in diesem Klub dabei zu sein. Höhere Produktivität und geringere Umverteilung zugunsten der schwächeren Länder würden sich entsprechend positiv für Großbritannien auszahlen. Hinzu kommt eine stark marktwirtschaftliche Tradition, die noch mehr als wir auf die Kraft der Märkte und persönliche Freiheit setzt als auf staatliche Umverteilung. Auch dies dürfte sich entsprechend positiv auf das langfristige Wachstum auswirken.

    1. Unbestrittenes Weltfinanzzentrum

    Mögen Frankfurt und Paris noch so träumen, die City of London bleibt das Weltfinanzzentrum. Es ist nicht so einfach, ein Kompetenzzentrum zu verlagern. Zu eng sind die Verbindungen, zu bedeutend das vorhandene Geschäft. Zwar gab es eine Welle von Gründungen von Tochtergesellschaften im Euroraum, die Masse der Kompetenz wird bleiben, wo sie ist: in London.

    Den Unkenrufen zum Trotz könnte London von der unstrittigen Kompetenz, der eigenen Währung und der Befreiung von Brüsseler Bürokratie sogar profitieren. Erste Stimmen sprechen bereits von einer künftigen Schweiz für die Fluchtgelder aus aller Welt. Gerade aus der Eurozone dürfte die große Flucht noch bevorstehen.

    1. Höheres Wirtschaftswachstum

    Großbritannien hat gute Chancen, in den kommenden Jahrzehnten schneller zu wachsen als die Eurozone und auch Deutschland. Zwar beabsichtigt die EU, mit ihrer harten Verhandlungshaltung ein Exempel statuieren, doch ist das für beide Seiten ein Verlust.

    Das höhere Wachstum in Großbritannien ist angesichts der aufgezählten Faktoren fast garantiert. Eine wachsende Bevölkerung, gesteuerte Zuwanderung, herausragende Bildungseinrichtungen und das Weltfinanzzentrum sind die Treiber.

    1. Renaissance des Commonwealth

    Kritiker der britischen Entscheidung machen sich gerne über jene Brexit-Befürworter lustig, die eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Commonwealth beschwören. Natürlich wird es nicht dazu kommen. Allerdings ist auch mit Blick auf die Haltung der derzeitigen US-Regierung das Szenario eines großen angelsächsischen Handelsraums nicht so abwegig. Die USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland als Kern. Kanada dürfte sich dem nicht entziehen können. Zugleich dürfte aus Sicht der skandinavischen Staaten ein solcher Bund, der mehr auf marktwirtschaftliche Freiheit setzt, über Zeit eine deutliche Sogwirkung entfalten. Es könnte ein attraktiver Gegenentwurf zu einer EU werden, die auf immer mehr Bürokratie und Umverteilung setzt.

    Wie man angesichts dieser Fakten zu der Einschätzung kommen kann, dass Großbritannien eine nachhaltige schlechtere wirtschaftliche Entwicklung haben muss, nach dem Brexit verschließt sich mir. Mit der richtigen Politik hat das Land viele Trümpfe in der Hand für eine gute Entwicklung, vor allem relativ zur EU und Deutschlands. Und darum geht es ja bei der Frage, wo man investieren soll und sich persönlich ausrichtet.

    3. Was bedeutet der Brexit für Deutschland und die EU?

    Hierzulande herrscht derweil die Überzeugung vor, dass uns der Brexit nicht betrifft. Das halte ich für eine Fehleinschätzung:

    • Deutschland im falschen Boot: JPMorgan hat basierend auf Daten der Wettbewerbsfähigkeit von Ländern des Weltwirtschaftsforums ausgewertet, welche Länder mehr oder weniger gemein haben. Deutschland, Schweden, Irland und die Niederländer haben mehr mit Großbritannien gemein als mit Frankreich, Spanien, Portugal und Italien. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens fehlt uns dieser Anker und wir sitzen mit jenen im Boot, die weniger wettbewerbsfähig sind und vor allem aus Tradition auf Umverteilung und Staatswirtschaft setzen.


    • Deshalb ist es auch so bedauerlich, dass die Bundesregierung im Falle Griechenlands, das wirtschaftlich und politisch unbedeutend ist, alle Grundsätze über Bord geworfen hat (Bail-out-Verbot), um das Land im Euro und in der EU zu halten. Hingegen lässt sich Deutschland bei dem ungleich wichtigeren Großbritannien auf einen harten Kurs ein – angeführt von Frankreich und der EU-Kommission –, anstatt alles zu tun, um das Land in der EU zu halten. Zur Erinnerung: → Das BIP Griechenlands liegt bei rund 180 Milliarden Euro, das Großbritanniens bei 2320 Milliarden! Nach Großbritannien exportiert die deutsche Wirtschaft Waren im Wert von 85 Milliarden, nach Griechenland im Wert von etwas über fünf Milliarden. Die Wirtschaftskraft des Vereinigten Königreichs ist genauso groß wie die der 20 kleinsten EU-Länder zusammengenommen. Es ist, als würden 20 von 28 Ländern gleichzeitig austreten.
    • Eurozone gefangen in Dauerstagnation: bedingt durch zu viele faule Schulden, rückläufige Erwerbsbevölkerung, schwaches Produktivitätswachstum, Reformstau und eine Mentalität, die die Umverteilung von Wohlstand über die Schaffung von Wohlstand stellt. Was wir brauchen, sind Schuldenrestrukturierungen, Reformen und eine Neuordnung der Eurozone. In keinem der drei Punkte ist auch nur ansatzweise ein Fortschritt zu sehen. Nur noch dank der Geldschwemme der EZB ist es bisher nicht zum Kollaps gekommen.
    • Mehr Umverteilung: Die Vorstellung der Politik, durch eine „sozialere“ Gestaltung der EU den gefühlten Wohlstand und damit die Attraktivität der EU zu erhöhen, wird das Gegenteil bewirken: Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Verteilen vor Schaffen von Wohlstand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aussichten, weil unsere Handelsüberschüsse fälschlicherweise mit Reichtum gleichgesetzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU-Ländern das Privatvermögen pro Kopf deutlich über hiesigem Niveau liegt.
    • Stimmenmehrheit für die Umverteiler: Der Ökonom Hans-Werner Sinn verweist auf das Stimmengewicht im Ministerrat, das sich durch den Austritt Großbritanniens zulasten Deutschlands verändert: „Für die meisten Abstimmungen braucht man dort 55 Prozent der Länder und 65 Prozent der dahinter stehenden Bevölkerung, was umgekehrt bedeutet, dass Länder, die zusammen mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung auf sich vereinen, eine Sperrminorität bilden können. Zusammen mit Großbritannien hat der ehemalige „D-Mark-Block“ (Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) einen Bevölkerungsanteil von 35 Prozent, also gerade die Sperrminorität. Das sind allesamt Länder, die sich dem Freihandel verschrieben haben. Gleichzeitig haben die eher staatsgläubigen Anrainer des Mittelmeers, denen man wegen der Schwäche der eigenen Industrien protektionistische Attitüden unterstellen kann, mit 36 Prozent der EU Bevölkerung ebenfalls die Sperrminorität. Diese im Lissabon-Vertrag angestrebte Balance ist nun zerstört, denn der erste Block schrumpft mit dem Brexit auf einen Bevölkerungsanteil von 25 Prozent, und die Mittelmeerstaaten erhöhen ihren Anteil auf 42 Prozent.“
    • Militärische Bedeutung: Ohne Großbritannien wird Europa noch schwächer auf der militärischen Bühne. Immerhin 75 Prozent der Militärausgaben im Rahmen der NATO werden von den USA getragen, die sich immer unzufriedener mit dem Beitrag der Europäer zeigen. Großbritannien hat nicht nur das Zwei-Prozent-Ziel eingehalten, es verfügt auch über Atomwaffen.

      FAZIT:
      Der Austritt Großbritanniens ist auch aus Sicht der EU ein Desaster und vor allem für Deutschland dürfte es sich als fatal herausstellen. Weshalb ich bei meiner Einschätzung bleibe, dass wir eventuell in zehn Jahren traurig nach Großbritannien blicken. Angesichts des Niedergangs hierzulande.

    4. Wie hätte man meiner Meinung nach reagieren sollen aufseiten der EU/Deutschlands?

    Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nach dem oben genannten von allein:

    • Kritik ernst nehmen: Statt selbstgefällig auf das Votum zu reagieren, hätte die EU die Kritik von Großbritannien ernst nehmen sollen und das nachholen, was man vor der Volksabstimmung versäumt hat: mehr Subsidiarität statt Einmischung in Details von Bananenkrümmung bis Trinkwasserqualität, Lösung der Migrationskrise durch wirksamen Schutz der Außengrenzen und Anpassung der Sozialleistungen, Lösung der Eurokrise durch wirkliche Reformen und Schuldenschnitte.
    • Versuch, durch Reformen Großbritannien zu halten: Mit solch einem Reformprogramm hätte man Großbritannien vielleicht in der EU halten können, hätte man doch den Brexiteers Argumente weggenommen – vor allem mit Blick auf die Souveränitätsrechte.
    • Verhandlungen statt Strafaktion: Dazu gehört auch, dass man konstruktiv verhandelt. Der Vertrag mit Theresa May war für die Briten nicht ernsthaft zu akzeptieren, hätte es doch eine  Fortsetzung des Status quo ohne Mitspracherecht bedeutet. Und dies noch unbefristet. Das war weder für Remain noch für Leave eine akzeptable Option.
    • Regelung des neuen Verhältnisses im selben Vertrag: Im Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union wird der Austritt eines Landes geregelt. Dort steht: „Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird.“ Genau das haben die Franzosen verhindert. Sie bestanden darauf, den Austritt zu regeln und erst danach über das künftige Verhältnis zu reden. Nur deshalb hatten wir das Backstop-Theater. Das passt allerdings zu einer Politik, die auf Sanktionierung statt Attraktivität der EU setzt.
    • Deutschland hätte die eigenen Interessen verfolgen sollen: Dies bedeutet zum einen eine andere Verhandlungsstrategie, zum anderen, dass wir – wie Hans-Werner Sinn vorschlägt – auf eine Neuordnung des Lissabonner Vertrages hätten drängen müssen, um die Stimmrechte im Rat wieder so zu ordnen, dass wir nicht dauerhaft überstimmt werden können.

    5. Was passiert bis Ende 2020?

    Ich bin auch kein Hellseher, denke aber, dass es nach dem letzten Jahr recht klar ist, was auf uns zukommt:

    • Die Briten treten wie geplant am 31. Januar 2020 aus der EU aus. Das steht nach dem Ergebnis der Wahlen fest.
    • Nun beginnen die Verhandlungen zu den neuen Beziehungen zwischen der EU und UK, mit dem Ziel bis Ende 2020 einen entsprechenden Vertrag zu haben. Gelingt dies nicht, gäbe es theoretisch die Möglichkeit einer Verlängerung. Dies setzt aber voraus, dass beide Seiten zustimmen. Boris Johnson hat bereits erklärt, unter keinen Umständen einer Verlängerung zuzustimmen. Einig man sich nicht, kommt es doch noch zum gefürchteten Hard-Brexit.
    • Die EU stellt sich recht hart auf, wie man den Äußerungen von Frau von der Leyen entnehmen konnte. In London sagte sie bei einem Vortrag an der LSE: “But the truth is that our partnership cannot and will not be the same as before. And it cannot and will not be as close as before – because with every choice comes a consequence. With every decision comes a trade-off. Without the free movement of people, you cannot have the free movement of capital, goods and services. Without a level playing field on environment, labour, taxation and state aid, you cannot have the highest quality access to the world’s largest single market. The more divergence there is, the more distant the partnership has to be. And without an extension of the transition period beyond 2020, you cannot expect to agree on every single aspect of our new partnership. We will have to prioritise. The European Union’s objectives in the negotiation are clear. We will work for solutions that uphold the integrity of the EU, its single market and its Customs Union. There can be no compromise on this.” Übersetzt bedeutet dies, die EU ist zwar freundlich in der Wortwahl, aber knallhart in ihren Interessen. Der Franzose Barnier, der die Verhandlungen führt sagte gleich zu Jahresbeginn: “Nobody, nobody should doubt the determination of the commission, and my determination, to continue to defend the interests of EU27 citizens and businesses, and to defend the integrity of the single market (…).”
    • Aus Sicht von Großbritannien kann es kein Interesse daran geben, alle Regeln der EU – siehe Äußerung von vdL – zu akzeptieren, denn dann hätte man in der EU bleiben können. Der Reiz liegt doch gerade darin, sich positiv zu unterscheiden. Andere/weniger Regulierung, Autonomie bei der Zuwanderung, günstigere Steuern. All dies will die EU verhindern, fürchtet sie doch eine offensichtlich bessere Alternative vor ihren Toren.
    • Boris Johnson wird also die erfolgreiche Strategie der letzten Monate fortsetzen. Er stärkt seine Verhandlungsposition, indem er klar macht, dass das Parlament ihm nicht in den Rücken fallen kann. Es gibt nun eine breite Mehrheit und seine Drohung mit einem No-Deal/harten Brexit ist realistisch.
    • So werden wir ein hochvolatiles Jahr erleben. Mit Achterbahnfahrt an Börsen und Devisenmärkten, je nachdem welche Nachrichten gerade aus den Verhandlungsräumen kommen. Am Ende wird es einen Deal geben. Davon bin ich überzeugt und sei es einen, in dem bestimmte Dinge im Nachhinein konkretisiert werden.

    Konkret:

    • UK wird bei den Fischereirechten hart bleiben, allein schon, um es für Schottland unattraktiver zu machen, das UK zu verlassen.
    • Das liegt vor allem an Irland. Ein No-Deal würde zu einem Einbruch des irischen BIP von über vier Prozent führen. Das kann die EU nicht zulassen – eben, weil es EU und Euro weiter destabilisiert.
    • UK ist für die EU ein viel zu großer Markt, um einen Exporteinbruch und damit eine weitere Destabilisierung der EU und der Eurozone zu riskieren. Deshalb gibt es einen Deal. Spät, aber noch rechtzeitig.
    • Deshalb wird es auf jeden Fall bis zum Jahresende zu einer Vereinbarung kommen, die den EU-Waren-Exporteuren freien Zugang nach Großbritannien sichert. Dafür wird die EU mehr Konzessionen machen, als sie heute zugibt.

    Und damit wird UK zur attraktiven Alternative zum europäischen Superstaat, der dabei ist, zur zweitgrößten Planwirtschaft der Welt zu werden.