Deflationsspirale in Zeitlupe

„Deflation“ hat gute Chancen, wieder zu einem breit diskutierten Thema zu werden. Einige Länder Europas haben schon leichte Deflation, für die Eurozone als Ganzes wird es befürchtet. Die USA sind mit einer geringen Inflation nicht weit entfernt, und Japan exportiert Deflation in alle Welt, dank der drastischen Abwertung des Yen. China und Korea wird nicht viel anderes übrig bleiben, als in diesen Preiswettbewerb ebenfalls einzusteigen.

Die Wirkung von Deflation ist umstritten. In einem Papier analysieren Forscher der Federal Reserve Bank von Minneapolis (also einer regionalen Zweigstelle der US-Notenbank Fed) den Zusammenhang von Deflation und Depression und kommen zu der Schlussfolgerung: Es gibt keinen.

Minneapolis Fed: Deflation and Depression: Is There an Empirical Link?, Januar 2004

Wobei man wissen muss, dass in einer Welt stabilen Geldwerts, zum Beispiel wenn ein Goldstandard gilt, Deflation völlig normal ist. Unternehmen erreichen Produktivitätssteigerungen und geben diese im Wettbewerb an ihre Kunden weiter. Die Folge: ein konstanter Rückgang der Preise. Eine Deflation. Weder schlimm für Anbieter, noch für die Volkswirtschaft als Ganzes. Im Gegenteil, die Wirtschaft kann sogar gut gedeihen. Genau dieses Phänomen konnte über mehr als hundert Jahre beobachtet werden.

Anders ist es, wenn Deflation im Zusammenhang mit exzessiver Verschuldung eintritt. Dann ist die Deflation ausgelöst von eben dieser Verschuldung und nicht allein aus dem normalen Verbesserungsprozess im Wirtschaftssystem. Irving Fisher hat den fatalen Zusammenhang von Schulden und Deflation in den 1930er-Jahren eindrücklich in seiner „Debt Deflation Theory of Great Depressions“ beschrieben:

Irving Fisher: The Debt Deflation Theory of Great Depressions, 1933

  • Die Liquidation von Schulden führt zu Notverkäufen, man muss seine Schulden tilgen und verkauft dafür Vermögensgegenstände.
  • Dies führt zu einem Rückgang der Geldmenge, weil Bankdarlehen getilgt werden. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verlangsamt sich. Es wird weniger gekauft und verkauft.
  • Der von den Notverkäufen verursachte Rückgang der Geldmenge und der Umlaufgeschwindigkeit drückt das Preisniveau beziehungsweise führt zu einer Aufwertung des Geldes. Wenn niemand mehr etwas kaufen will, sinken die Preise. Das nennt man Deflation.
  • Das Angebot passt sich der Nachfrage an.
  • Geht man davon aus, dass der Rückgang des Preisniveaus nicht von Reflation (also einer künstlich herbeigeführten Inflation) oder anderen Entwicklungen aufgefangen wird, sinkt zwangsläufig das Reinvermögen der Unternehmen noch stärker, und die Insolvenzen häufen sich.
  • Die Gewinne sinken, was in einer „kapitalistischen“, also auf private Gewinne angelegten Gesellschaft Sorge vor potenziellen Verlusten auslöst, worauf mit Drosselung der Produktion, Reduktion des Warenangebots und Entlassungen reagiert wird.
  • Verluste, Insolvenzen und Arbeitslosigkeit führen zu Pessimismus und Vertrauensverlust, die ihrerseits in Hamsterkäufen und im Horten von Waren münden und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes noch stärker bremsen.
  • Die genannten Veränderungen stürzen den Kapitalmarkt in schwerwiegende Turbulenzen. Insbesondere fallen die nominalen oder Geldkurse, während die realen oder effektiven Zinssätze steigen. Es entsteht ein Teufelskreis.

Fisher nannte die Kombination von Überschuldung und Deflation eine Katastrophe. „Die beiden Krankheiten reagieren aufeinander“, sagte er. Überschuldung führe zu Deflation, und „umgekehrt reagiert eine von Schulden ausgelöste Deflation auf die Verschuldung. Jeder Dollar, der als Kredit aufgenommen und noch nicht zurückgezahlt wurde, wiegt schwerer, und wenn die Ausgangsverschuldung groß genug ist, kann die Rückzahlung oder Liquidation der Schulden nicht mit dem Preisverfall Schritt halten, den sie auslöst. In der Folge verpufft die Wirkung der Schuldenrückzahlung. Sie verringert die Summe der geschuldeten Dollars, aber der dadurch ausgelöste Wertverfall ist schneller”.

Genau eine solche Entwicklung konnten wir in den letzten Jahren in Europa und den USA zum Teil beobachten. Nur die drastische Intervention von Staaten und Notenbanken hat diese Deflationsspirale aufgehalten (zum Beispiel USA, UK) oder zumindest abgeschwächt (wie in Spanien, Portugal, Irland). Doch gerade in den Krisenländern Europas wachsen die Gesamtschuldenstände relativ zum BIP weiter. Das sogenannte “Deleveraging” hat also noch nicht mal begonnen, beziehungsweise die Wirtschaften der Länder schrumpfen schneller als die Schulden, was die Quoten weiter nach oben treibt.

Fisher sieht zwei Wege, die aus der Depression herausführen. Der eine ist die natürliche, langwierige Talfahrt durch Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und Verelendung. Der andere Weg – künstlich und schnell – besteht in einer bewussten Inflationierung: die Preise also auf das Durchschnittsniveau „reflationieren”, zu dem die bestehenden Kreditverträge abgeschlossen wurden. Der Wert des beliehenen Eigentums würde wieder steigen, die Überschuldung wäre erledigt und neue Verschuldungskapazität geschaffen. Geld würde entsprechend an Wert verlieren.

Übertragen auf heute hieße dies, die Immobilien in den USA und in Spanien wieder mit dem Preisschild auszustatten, das sie bis zum Jahre 2007 hatten.

Das und nichts anderes versuchen Regierungen und Zentralbanken heute rund um den Globus. Doch so recht will es nicht funktionieren, wie auch die Thesen von Larry Summers unterstreichen. Wir sind gefangen in einer Welt untragbarer Schulden (oder uneinbringlicher Forderungen), die zudem mit jedem Versuch, die Wirtschaft zu stabilisieren oder anzukurbeln, weiter anwachsen. Die Schuldner spielen auf Zeit und leihen sich das Geld für Zinszahlungen. Die Gläubiger fordern weiter und scheuen die Erkenntnis, dass ein (immer größer werdender Teil) ihrer Forderungen nicht erfüllt werden wird, weil er nicht erfüllt werden kann.

Wir beobachten damit den gleichen Prozess wie Irving Fisher in der großen Depression der 1930er-Jahre – nur in Zeitlupe. Die Medizin von Fisher wirkt nicht stark genug, um die Krankheit zu besiegen, sondern schafft es nur, die Schmerzen zu verringern. Sollte es wirklich zu breiter Deflation kommen, sind die westlichen Länder endgültig in Schulden und Stagnation gefangen und können sich am Beispiel Japans anschauen, wohin die Reise geht. Immer mehr Staatsschulden, die nur lindern aber nicht heilen.

Da die demographische Entwicklung ziemlich sicher auch eine Rolle spielt bei der Entstehung von Deflation, ist es gerade in Europa eine realistische Gefahr.
Das wissen auch Politiker und Notenbanker. Deshalb wird es auf absehbare Zeit zu keinem ernsthaften “Tapering”, also einer Reduktion der Anleihekäufe in den USA kommen, und die EZB wird weitaus aggressiver intervenieren, als wir es uns heute vorstellen können. Doch was, wenn es einfach nicht funktionieren will? Der Berg an uneinbringlichen Schulden ist nach 30 Jahren Party vielleicht selbst für die Notenbanken zu groß.