COVID-19 – nüchtern betrachtet

Im Januar habe ich den Kommentar des treuen bto-Lesers und -Kommentators Bauer zum monetären Endspiel veröffentlicht:

→ Das monetäre Endspiel wird vorbereitet II

Nun hat der Herr Bauer mir seine Berechnungen zu Infektionsverlauf und Todesrate von COVID-19 zukommen lassen. Eine lohnende Lektüre. Hier nun also sein Gastbeitrag: 

Seitdem die WHO ab Ende Januar 2020 täglich Daten über die COVID-19-Epidemie veröffentlicht, verfolge ich diese und werte sie statistisch aus. Was zunächst ein überschaubares Unterfangen zu sein schien, entwickelte sich zu mathematischer Detektivarbeit. Grund dafür war anfangs, dass die WHO die verschiedenen nationalen Berichtsstandards offensichtlich nicht im Griff hatte und erst ihre Standards einheitlich durchsetzen musste. Das brachte allerdings nicht viel, denn heute ist festzustellen, dass die der WHO gemeldeten Daten immer noch nur mit Vorsicht vergleichbar sind, da offensichtlich nationale, kulturelle und politische Besonderheiten von Einfluss zu sein scheinen, um es zurückhaltend zu definieren.

Trotzdem lohnt es sich, nach rund drei Monaten eine Zwischenbilanz zu versuchen. Da sich meine Arbeitswut trotz Quarantäne in Grenzen hält, beschränke ich mich auf die mir nächstliegenden Länder, die in Folge einzeln abgehandelt werden. Ich habe durchaus eine dedizierte Meinung zu den Ergebnissen, die über das statistische Interesse hinausgeht, will mich jedoch als Privatperson nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und überlasse es dem interessierten Leser, selbst seine Schlüsse zu ziehen. Die Daten sind erfasst bis einschließlich 23. April 2020.

China ist Ausgangspunkt und Prototyp der Krisenbewältigung und muss daher logischerweise als Erstes betrachtet werden. Die übrigen Länder können dann umso kürzer abgehandelt werden. China ist insofern interessant, als es nicht nur als erstes Land betroffen war, sondern offensichtlich auch als erstes die Epidemie eindämmen konnte und teilweise schon zur Normalität zurückzukehren versucht. Alle Daten stammen zu 85 Prozent aus der Provinz Hubei (Wuhan), die übrigen rund 24 Provinzen waren nur am Rande betroffen. Nach Größe, Bevölkerung und wirtschaftlicher Bedeutung ist Hubei etwa mit Frankreich oder Großbritannien vergleichbar.

Wesentliche Etappen sind im Diagramm mit Buchstaben gekennzeichnet. Jede Epidemie folgt qua definitionem anfangs einer Exponentialfunktion, so auch COVID-19. Wird da nicht durch Gegenmaßnahmen Einhalt geboten, entschwindet sie bald im Unendlichen, bis sie an die Grenzen des Substrats stößt (betroffene Bevölkerung, Todesrate und Durchseuchung). Historische Epidemien konnten da schon eine Bevölkerung halbieren.

Punkt A kennzeichnet den Beginn, ab dem eine Epidemie als solche sicher erkannt werden kann. Der ominöse Patient O erkrankte schon einige Wochen oder Monate früher. Bei A hatte China nur 282 Infektionsfälle, damit kann man beginnen zu rechnen.

Zwischen Punkt A und Punkt B erkennt man den schönen noch ungestörten exponentiellen Verlauf. China brachte es fertig, innerhalb von nur zwei Wochen entscheidend einzugreifen, was alle jene Lügen straft, die da von Schlamperei oder Vertuschung reden. Wer hinhören und hinsehen wollte, war rechtzeitig informiert.

Die anschließende Strecke zwischen B und C zeigt, dass die Infektionskurve gegenüber der ursprünglichen e-Funktion zurückfällt, da die Gegenmaßnahmen zunehmend greifen. Es ist zwar immer noch eine nach oben weisende (konkave) e-Funktion, allerdings mit anderen abgeschwächten Parametern bzw. retardierenden Verzögerungsgliedern. Der Abwehrkampf ist im Gange, aber noch keineswegs gewonnen.

Punkt C ist ein kapitaler Wendepunkt, auch im mathematischen Sinne, da die Kurve ihre Krümmung von konkav (nach oben offen) zu konvex (nach unten offen) wechselt. Ab hier wird der Ausblick positiv.

Zwischen C und D flacht die Kurve kontinuierlich ab, das heißt, die Neu-Fälle gehen stetig zurück. Ab D werden täglich noch Neu-Fälle im niederen zweistelligen Bereich gemeldet, womit man sich abfinden muss. Wuhan kehrt zur Normalität zurück, und das primäre Interesse ist nun, ein Übergreifen der Epidemie auf die übrigen Provinzen zu verhindern.

Es gilt jedoch auf eine bemerkenswerte Einzelheit aufmerksam zu machen. Die Zahl der gemeldeten Todesfälle erreichte den Punkt C’ erst ca. 10 bis 12 Tage später, um dann auch langsamer abzuklingen. Dies ist die natürliche Folge der Tatsache, dass die Neu-Fälle am Beginn der Krankheit erfasst werden, die Todesfälle jedoch erst an deren Ende. Vergleiche der Todesfälle mit den Erkrankungen desselben Tages führen daher in die Irre. Da die Krankheitsdauer zwar sicher dokumentiert, jedoch nicht veröffentlicht wird, war ich gehalten, diesen Verzögerungsfaktor aus der Anfangsphase A – B herauszufiltern und dann auf den folgenden Kurvenverlauf anzuwenden. Ich bin mir der Streubreite dieser Methode bewusst; wer es besser weiß, möge sich melden.

Schließlich hat China seine Totenstatistik bei E korrigiert, da man offensichtlich beim Aufräumen in Wuhan noch eine Menge unbemerkt Verstorbener entdeckt hat. Seitdem ist Ruhe und die Todeszahl steigt nicht mehr.

Der Rückschluss aus den Todeszahlen auf die Infektionsfälle mittels der ebenfalls anfangs ermittelten Letalität von rd. 2 Prozent ergibt allerdings eine weit höhere Zahl von Infektionen als angegeben. Nach dem Diagramm (‘dead trend’) könnten es insgesamt etwa 260’000 statt 83’000 sein. Ich sehe da nicht unbedingt eine Verschleierungsabsicht, sondern schreibe es eher der Unsicherheit zu, COVID-19 Fälle von üblichen Grippefällen und anderen Lungenproblemen sauber zu trennen und Laboranalysen im gebotenen Umfang zu realisieren.

Soweit also recht ausführlich China. Dafür können nun die anderen Länder kürzer abgehandelt werden, den Systematik und Bezeichnungen sind dieselben. Bevor wir uns den europäischen Ländern widmen, müssen wir uns mit dem Sorgenfall beschäftigen.

Die USA haben das Gewicht, die gesamte Welt aufs Kreuz zu legen, und die Diagramme schließen dies keineswegs aus. Wenden wir uns zunächst der Todesfallkurve zu, denn sie ist aussagekräftiger.

In bekannter Manier ist die originäre e-Funktion abgebildet mit den Punkten A und B. Man beachte den langen Anlauf zwischen A und B, der doppelt so lang ist wie in Diagramm 1 (China). Da hat jemand einfach weggeschaut. Auch die anschließende Spreizung zwischen der e-Funktion und der Todesfallkurve ist geringer als im vorherigen Fall. Und dann läuft die Kurve geradlinig davon ohne eine Andeutung von C. Der ‘outlook’ ist eine simple lineare Regression, Ziel unbekannt. Im mathematischen Sinne ist dies ein stabiler Zustand, der so lange anhalten kann, als das Substrat es hergibt. Die Hochrechnung auf Jahresbasis ergibt rd. 650’000 COVID-Todesfälle, bzw. 2 Promille der Bevölkerung. Das ist nicht besorgniserregend, aber politisch sicher lästig.

Die damit einhergehende Zunahme der Durchseuchung erfasst rd. 3.3 Prozent der Bevölkerung pro Jahr, zu langsam, um von Nutzen zu sein und wiederum zu viel, um sie politisch zu übergehen.

Diese Pattsituation könnte nur durchbrochen werden, wenn die schon bestehenden Quarantäne-Maßnahmen radikal verschärft würden (China hat es vorgemacht) und damit die Fallkurve gezwungen würde, den Punkt C ehestens zu erreichen und in die konkave Phase abzuschwenken, um damit auch Punkt D rasch zu erreichen. Würden die Maßnahmen dagegen gelockert, um der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, so würde die Fallkurve nach links abschwenken, um wieder steiler in eine neue e-Funktion überzugehen. Wahrlich das Gegenteil einer Win-win-Situation.

Der Nationalökonom mag da unwillkürlich an die Zwickmühle zwischen Vermögens (BIP)-Zuwachs und Inflation denken, die auch nur unter Schmerzen gebrochen werden kann. Bekanntlich hat man sich da bereits für die schmerzlosere Lösung entschieden, die jedoch die Agonie fortschreibt. Wenigstens muss man da nicht täglich Tote in Kauf nehmen und öffentlich verantworten.

Im Diagramm der Infektionszahlen entspricht die e-Kurve wiederum derjenigen in Diagramm 2, lediglich mit anderem Maßstab. Die Fallzahlen laufen ab B geradlinig und sind im Verhältnis zu den Todeszahlen ziemlich unglaubwürdig niedrig. Der ‘dead trend’ zeichnet die Todesfälle nach auf Basis einer Letalität von 1.75 Prozent. Demnach hätten die USA bereits an die 2 Millionen Infektionsfälle, was ich nicht ausschließen kann. Ob das gut geht, steht vorerst in den Sternen.

Italien war das erste europäische Land, in dem COVID-19 virulent wurde. Das Drama ist allgemein bekannt. Hier sind nun die Diagramme dazu.

In Diagramm 4 sieht man die schon bekannte e-Funktion, selbstverständlich ermittelt nach den Daten für Italien, mit den Punkten A und B. Man erkennt den langsamen, beinahe schon unschuldigen Anlauf der Kurve. Ab B blieben allerdings die Fallzahlen signifikant zurück, um nur mehr flach zu verlaufen. Dem konnte ich mich nicht anschließen, da die Todesfälle einen wesentlich anderen Verlauf nahmen, wie dieses Diagramm 5 zeigt.

 

Die Exponentialkurve hat dieselben Parameter wie in Diagramm 4, lediglich der Maßstab ist anders gewählt. Auch hier sind die Punkte A, B und C erkennbar. Nach C folgt ein langsamer Übergang zu einem Punkt D, welcher noch für einige Zeit nicht in Sicht ist. Die Kurve ‘lookout’ zeichnet diese Entwicklung nach (Regression höherer Ordnung). In Italien entwickelte sich die Epidemie mit einer Todesrate um 3 Prozent, deren Begründung noch zu finden wäre. Engere Wohnverhältnisse mit Mehrgenerationen-Familien auf engstem Raum könnten eine Erklärung sein, obwohl ich die Wohnverhältnisse in Wuhan mindestens genauso prekär sind bei einer nur halben Todesrate. Jedenfalls habe ich hieraus eine Tendenzkurve in Diagramm 4 übertragen, welche die 3,5-fache Fallzahl gegenüber der offiziellen Infektionskurve ergeben würde (700’000 gegen 200’000). Mir scheint sie trotzdem plausibler, da die offiziellen Infektionszahlen streckenweise eine Letalität von über 20 Prozent ergeben würden, was in der italienischen Bevölkerung nicht lautlos hingenommen worden wäre. Ich enthalte mich einer weiteren Beurteilung.

Frankreich zeigt in den beiden Diagrammen 6 und 7 prinzipiell dieselbe Charakteristik wie Italien. Allerdings ist der Punkt C noch unbestätigt erst in den letzten vergangenen Tagen erkennbar und es ist noch keineswegs sicher, dass er hält, was er verspricht. Für die Übertragung des ‘lookout’ gilt die Letalität von 1,75 Prozent. Ohne diese Korrektur ergäben die offiziellen Fallzahlen sogar eine Letalität von bis zu 30 Prozent, was ich für ziemlich unwahrscheinlich halten muss. Jedenfalls halte ich mich an die Rückrechnung aus den offiziellen Todeszahlen, denn Tote kann man nicht so einfach unter den Teppich kehren wie Infektionszahlen.

 

 

Die Schweiz zeigt überzeugend, dass Statistik auch anders geht im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Fällen. Diagramm 8 zeigt nahezu exemplarisch den Verlauf mit den kritischen Punkten A bis D (in nächster Zukunft). Ab C zeigt eine multiple Regression eine enge Korrelation bei glattem Verlauf. Auf eine Übernahme der Todesfallkurve in dieses Diagramm konnte ich verzichten, da die erfassten Zahlen konkludent und deckungsgleich sind, wohl dank Schweizer Gründlichkeit.

Deutschland folgt in aller Bescheidenheit als letzter zu erörternder Fall. Und ich muss zugeben, er gibt mir Rätsel auf. Ich stelle daher beide Diagramme in unmittelbarer Folge zur Diskussion:

 

 

Beide Diagramme enthalten wieder dieselbe e-Kurve, allerdings in verschiedenem Maßstab und zeitlich um eine Woche versetzt. In Ersterem folgt die Infektionskurve geradezu lehrbuchmäßig wieder der e-Kurve und zeigt distinkt die Punkte A, B und C. Ab C beginnt wieder der Krümmungswechsel, bestätigt durch Regression und der Punkt D kann in nächster Zukunft erwartet werden. Fast zu schön.

Leider stört die Kurve der Todesfälle das Bild erheblich. Denn in diesem Diagramm ist ab B keine Krümmung zu bemerken, sondern eine Gerade, stocksteif mit linearer Regression (‘death trend’), die nichts Gutes verspricht. Ich verweise auf die Erläuterungen zu Diagramm 2 (USA) weiter oben. Anfangs entsprach die Letalität den erwarteten 1.75 Prozent, um nun umzuschlagen und im Extrem 12.5 Prozent zu erreichen. Die Ableitung hin zu den Infektionen ist ebenfalls mit ‘death trend’ bezeichnet, verlief anfangs konform mit der Infektionskurve, blieb dann anfangs April weit zurück, um nun umso schneller aufzuholen und die Infektionskurve nach oben zu durchkreuzen.

Dieses Rätsel könnte nur ein intimer Kenner des deutschen Gesundheitswesens und Klinikbetriebs lösen. Meine Mittel versagen da. Glaubt man der Infektionskurve, könnte man in naher Zukunft mit einer Lockerung der Quarantäne beginnen. Folgt man der Kurve der Todesfälle, ist dies schlichtweg ausgeschlossen und eher eine Verschärfung der Quarantäne angesagt, um die lineare Entwicklung der Todesfallkurve zu brechen.

Ich wiederhole, dass ich mich zwar redlich bemühe, das vorhandene, aber lückenhafte Zahlenmaterial verdaulich aufzubereiten und lediglich die unvermeidlichen mathematischen Schlussfolgerungen darzulegen.  Die weitergehende wirtschaftliche und politische Diskussion überlasse ich gerne Berufeneren, wenn die nur den Mund aufmachen würden.

 D. H. Bauer

Datenquelle: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports/