Bröckelt die Mittelschicht? – Beispiel für medialen “Spin”

In der letzten Woche wurde mal wieder das Ende der Mittelschicht ausgerufen. Morgen (12. Dezember 2021) beschäftige ich mich mit diesem Thema in meinem Podcast.

Basis war eine Studie der Bertelsmann Stiftung: → bertelsmann-stiftung.de: „Bröckelt die Mittelschicht?”, 1. Dezember 2021

Das war nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass mit dem vermeidlichen Schrumpfen der Mittelschicht, Schlagzeilen produziert wurden.

So war der Präsident des DIW Berlin im Mai 2016 in Medien und Talkshows omnipräsent mit seiner Aussage, dass die Mittelschicht in Deutschland

• schrumpft.
• Und nicht nur das: Es sei in der Entwicklung bei uns ähnlich schlimm wie in den USA.
• Klare Schlussfolgerung: Deutschland wird immer ungerechter.

Weniger Beachtung fand in den Medien dann ein paar Wochen später die Meldung, dass das DIW sich bei der Studie erheblich verrechnet hatte.

n-tv.de: „Gravierende Rechenfehler – DIW räumt Pannen bei Mittelstandsstudie ein”, 13. Mai 2016

  • Trotz dieses peinlichen Fehlers hielten die Forscher aber an der Aussage fest, dass die Mittelschicht seit dem Jahr 1991 geschrumpft sein.
  • Marcel Fratzscher, Präsident des in Berlin ansässigen DIW, schrieb sogar ein Buch mit dem Titel „Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird“.
  • Die gewünschte Nachricht war in der Welt.
  • Egal ob sie stimmte – oder eben wie hier nicht.

Nun also die aktuelle Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

Besonders deutlich vermeldete DER SPIEGEL (online) die Studie.

spiegel.de: „Das gebrochene Versprechen der sozialen Marktwirtschaft”, 1. Dezember 2021

Unter der Überschrift Das gebrochene Versprechen der sozialen Marktwirtschaft war zu lesen:

“Deutschlands sozialer Lift ist kaputt: Immer weniger Bürgerinnen und Bürgern gelingt der Aufstieg in höhere Einkommensgruppen – und zwischen den Generationen öffnet sich eine Kluft. »Die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft sind immer weniger in der Lage, das soziale Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen«, konstatiert die Bertelsmann Stiftung. Vor allem für die »untere Mitte« ist das Risiko des ökonomischen Abstiegs groß: Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent aus dieser Gruppe ab und waren arm oder von Armut bedroht. Zugleich haben sich die Chancen, aus der Armut den Aufstieg in die Mittelschicht zu schaffen, in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert, von 40 auf 30 Prozentpunkte.”

Das ist schon eine alarmierende Nachricht:

  • Die Marktwirtschaft bricht ihr Versprechen.
  • Aufstieg findet nicht mehr statt.
  • Für die „untere Mitte“ ist es besonders bitter, immerhin 22 Prozent rutschen ab und sind arm oder von Armut bedroht.
  • Und für Arme ist es schwerer, in die Mittelschicht aufzusteigen.

    Das sind Themen, die wir ernst nehmen müssen.

    Der SPIEGEL konzentriert sich in dem Artikel auf die Presseerklärung der Stiftung. Dort ist zunächst zu lesen, wie wichtig die Mittelschicht ist:

    “Die Mittelschicht ist ein wesentlicher Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Eine breite Wohlstandsbasis hierzulande sorgt für eine starke Binnennachfrage, ist attraktiv für inländische wie ausländische Investitionen und lässt Innovationspotenziale zur Entfaltung kommen. Eine leistungsfähige Mittelschicht erbringt den Großteil des Steueraufkommens und trägt somit wesentlich zur Handlungsfähigkeit des Staates bei. (…) Eine stabile Mittelschicht sorgt für Vertrauen in demokratische Institutionen und damit auch für die Bereitschaft, sich in die Gestaltung des Systems einzubringen. Gesellschaftliche Fliehkräfte werden im Zaum gehalten. Dies ist gerade in der heutigen Zeit von enormer Bedeutung, da sich die großen Herausforderungen durch Digitalisierung, Transformation zur Nachhaltigkeit und demografischen Wandel nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt bewältigen lassen.”

    Dieser Analyse kann man nur zustimmen. Umso bedenklicher ist die Schlussfolgerung der Stiftung: Die deutsche Mittelschicht bröckelt.

    Es lohnt sich, die Kernnachrichten durchzugehen.

    Beginnen wir mit der Definition des Begriffs „Mittelschicht“, der gar nicht so eindeutig ist, wie die Studie erklärt:

    “(Es) bezeichnen sich etwa 73 Prozent der Menschen in Deutschland selbst als Teil der Mit- telschicht. Es ist jedoch gut dokumentiert, dass es einen „Mittelschichts-Bias“ gibt, das heißt, dass viele Menschen sich selbst als Teil der Mittelschicht begreifen, obwohl ihre sozioökonomischen Verhältnisse etwas anderes vermuten lassen. Daher kann es problematisch sein, sich bei der Untersuchung des wirtschaftlichen Wohlergehens von Mittelschichtshaushalten auf subjektive Einschätzungen des eigenen Status zu verlassen.”

    Nun könnte man natürlich sagen, dass es darauf ankommt, wie die Menschen sich selbst wahrnehmen, ist das doch vermutlich ein klareres Zeichen für das Glücksgefühl. Aber die Stiftung möchte es lieber an finanziellen Kategorien festmachen, was wiederum auch nicht falsch ist, wissen wir doch, dass finanzielle Autonomie mit mehr Zufriedenheit einhergeht:

    “In dieser Studie wird eine einkommensbasierte Definition der Mittelschicht verwendet. (…) Laut dieser Definition gehören jene Personen zur Mittelschicht, die in Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen im Bereich von 75 bis 200 Prozent des nationalen Medians leben. Diese Spanne entsprach im Jahr 2018 einem monatlich verfügbaren Einkommen von etwa 1.500 bis 4.000 Euro im Fall einer alleinstehenden Person und von 3.000 bis 8.000 Euro im Fall eines Paares mit zwei Kindern.”

    Kann man sicherlich so machen. Und wer ist das dann konkret?

    “Die Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und in öffentlichen Dienstleistungen, das heißt in der öffentlichen Verwaltung, im Bildungssektor und im Gesundheits- und Sozialwesen, bilden das Rückgrat der Beschäftigung in der Mittelschicht. Sie repräsentieren mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller Erwerbstätigen mit mittleren Einkommen.”

    Ganz wichtig ist hier das „verarbeitende Gewerbe“, das immerhin für 5,5 Millionen Beschäftigte in Deutschland steht. Das unterstreicht auch die Bedeutung dieses Sektors, weshalb wir vorsichtig mit dem Umbau unserer Wirtschaft vorgehen müssen, wollen wir hier nicht überproportionale Arbeitsplatzverluste riskieren.

    Und das ist vor allem deshalb wichtig, weil die Mittelschicht den Sozialstaat trägt:

    “Die deutsche Mittelschicht ist im Durchschnitt eine Nettozahlerin des Steuer- und Sozialversicherungssystems: Die Summe der auf das Einkommen gezahlten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge übersteigt im Jahr 2018 mit 39 Prozent gegenüber 27 Prozent den Gesamtwert der erhaltenen Sozialleistungen.”

    Allerdings mit einer wichtigen Präzisierung:

    “Innerhalb der mittleren Einkommensgruppen sind nur die mittlere und obere Mitte tatsächlich Nettobeitragszahlerinnen. Haushalte in der unteren Mitte erhalten etwa 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens in Form von Transfers. Demgegenüber zahlen sie 29 Prozent an Steuern und Abgaben. Sie sind folglich Nettoempfänger des Steuer- und Sozialversicherungssystems.”

    Das ist eine wichtige Präzisierung, auf die wir genauer eingehen. Aber der Reihe nach.

    Die Kernaussage der Studie:

    Die deutsche Mittelschicht bröckelt: 1995 zählten noch 70 Prozent der Bevölkerung zur mittleren Einkommensgruppe, 2018 waren es nur noch 64 Prozent.

    • Im Prinzip die gleiche Aussage wie die des DIW vor fünf Jahren.
    • Keine Veränderung.
    •  Gegenüber dem Jahr 1995 eine Veränderung um sechs Prozent-Punkte.

    Der genauere Blick:

    Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht schlecht da

    So schreibt die Stiftung:

    “Nach der oben genannten einkommensbasierten Definition gehörten 2018 etwa zwei Drittel (64 Prozent) der Menschen in Deutschland zur Mittelschicht, etwas mehr als im Durchschnitt der OECD-Länder mit 62 Prozent.”

    Quelle: Bertelsmann Stiftung

    • Das bedeutet, wir liegen auf einem Niveau mit der Schweiz, Schweden, Frankreich (jeweils 1 – 2%-Punkte mehr), aber deutlich vor UK, von den USA ganz zu schweigen.
    • Was auffällt – und darauf kommen wir noch genauer – dass wir mit zehn Prozent Einkommensarmen über den anderen Ländern liegen, die eine ähnlich große Mittelschicht aufweisen.
    • Interessant dabei auch: Schweden liegt mit elf Prozent vor uns.

     So weit, so gut. Blicken wir genauer auf den Rückgang

     Seit 2005 ist die Mittelschicht stabil – immerhin 15 Jahre

    Die Studie beschreibt Entwicklungen, die schon recht lange zurückliegen:

    “Die deutsche Mittelschicht ist kleiner als noch Mitte der 1990er Jahre. Zwischen 1995 und 2018 ist sie um 6 Prozentpunkte geschrumpft, von 70 auf 64 Prozent der Bevölkerung. Der Großteil dieses Rückgangs fand in den frühen 2000er Jahren statt, als sich die Einkommensunterschiede in Deutschland vergrößerten. Die mittlere Einkommensgruppe in Deutschland erholte sich trotz des Wachstums der Beschäftigung ab dem Jahr 2005 nicht (…).

    Das heißt im Klartext:

    • Seit 2005 ist die Mittelschicht stabil. Das sind immerhin 15 Jahre.
    • Von einem Rückgang kann keine Rede sein, man muss von einem fehlenden Wachstum sprechen.
    • Im Kern widerspricht die Analyse der oft zitierten These, dass in Deutschland immer mehr Menschen in Armut abrutschen.
    • Erste Daten weisen laut der Analyse vielmehr darauf hin, dass während der Corona-Krise vor allem Menschen mit mittlerem Einkommen dank staatlicher Hilfen überdurchschnittlich Einkommen dazugewonnen haben, während Spitzenverdiener Einbußen verkraften mussten.

    Und wenn man dann auf die Liste der OECD-Länder blickt, stellt man fest, dass vielleicht zwei bis drei Prozentpunkte mehr drin wären, und zwar vor allem durch eine kleinere Gruppe der Armen bzw. armutsgefährdeten. Die Top-Verdiener sind bei uns nicht häufiger als im nun wirklich nicht als ungerecht bekannten Frankreich.

    Kein Wachstum der Mittelschicht trotz guter Konjunktur

    Die Bertelsmann Stiftung hätte angesichts der guten Konjunktur der letzten Jahre vor Corona erwartet, dass die Mittelschicht wieder wachsen würde:

    “Die mittlere Einkommensgruppe in Deutschland erholte sich trotz des Wachstums der Beschäftigung ab dem Jahr 2005 nicht, da das verfügbare Einkommen der Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen real stagnierte.”

    Das klingt schlecht und deshalb wird es auch betont.

    • An anderer Stelle wird aber festgestellt, dass Deutschland seit 2015 einen „soliden Anstieg der verfügbaren Einkommen aller Haushalte unabhängig von ihrer Position in der Einkommensverteilung“ erlebe. Also kein Abhängen der Mittelschicht.
    • Diese positive Erkenntnis deckt sich mit dem im November erschienenen Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts (WSI). Darin war zu lesen, dass die Abstiegsängste und finanziellen Sorgen in der Mittelschicht in den vergangenen zehn Jahren stetig zurückgegangen sind, was unter anderem auf die gesunkene Arbeitslosigkeit zurückgeführt wird.

    Und witzig: Ausgerechnet das DIW, also die Kollegen von Marcel Fratzscher, haben im Frühjahr 2020 – also vor Corona – vermeldet, dass die Ungleichheit ABNIMMT. Statt zu wachsen, sinke das Verhältnis zwischen kleinen und großen Stundenlöhnen nämlich, und zwar kräftig:

    “Nach einer langen Phase des Rückgangs oder der Stagnation sind die Bruttostundenlöhne in Deutschland zwischen 2013 und 2018 im Schnitt um mehr als acht Prozent real gestiegen. Gerade das unterste Dezil, also die zehn Prozent der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen, verzeichnete (…) einen überdurchschnittlichen Anstieg, was die Lohnungleichheit spürbar zurückgehen ließ.”

    diw.de: „Lohnschere in Deutschland schließt sich langsam – Zahl der Geringverdienenden geht zurück”, 12. Februar 2021

    Klartext: Ohne Corona hätten wir wohl ein Anwachsen der Mittelschicht gehabt. Dann hätte es allerdings auch keine Aufmerksamkeit für die Studie und die gewünschten Schlagzeilen gegeben.

    Das Problem liegt bei den unteren Einkommensgruppen

    Doch blicken wir genauer hin. Es ist nämlich nicht „die Mittelschicht“, die geschrumpft ist, sondern es sind die unteren Einkommensgruppen, wie die Studie betont:

    “Die Verkleinerung der mittleren Einkommensgruppe in den frühen 2000er Jahren spiegelt hauptsächlich eine Schrumpfung der unteren Mittelschicht wider, das heißt des Anteils der Haushalte mit einem Einkommen von 75 bis 100 Prozent des Medians; die mittlere und die obere Mittelschicht sind weitgehend stabil geblieben. In der Zwischenzeit ist der Anteil der Haushalte mit niedrigen (…) Einkommen gestiegen.”

    Wir haben also den Effekt, dass Teile der unteren Mittelschicht abgerutscht sind in die Gruppe mit geringem Einkommen. Und dieser Effekt ist durchaus deutlich:

    “Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent der Personen in der unteren Mittelschicht im erwerbsfähigen Alter in die untere Einkommensschicht. Für sie war das Abstiegsrisiko damit dreimal höher als im mittleren und sogar sechsmal höher als im oberen Teil der Mittelschicht.”

    Darüber, was genau passiert ist, gibt die Studie hier interessante Anhaltspunkte:

    Grund Nummer 1: Die Jugend braucht länger, um zur Mittelschicht zu gehören

    “(…) bei den 18- bis 29-Jährigen ist das Risiko, aus der Mittelschicht herauszufallen, doppelt so groß wie bei älteren Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter. (…) Die hohe Abwärts- mobilität könnte zumindest teilweise darauf zurückzuführen sein, dass viele junge Menschen einen Rückgang des (Haushalts-)Einkommens verzeichnen, wenn sie aus dem Elternhaus ausziehen.”

    Daraus folgern die Autoren, dass es

    • „vor allem für junge Menschen immer schwieriger wird, sich ihren Platz in der Mittelschicht zu sichern”.
    • Im Alter zwischen 20 und 39 Jahren hätten 71 Prozent der Babyboomer (Geburtsjahrgänge 1955 – 1964) zur Mittelschicht gehört.
    • Bei den Millennials (Anfang der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre Geborene) seien es im selben Alter nur noch 61 Prozent.
    • Allerdings könnte es auch daran liegen, dass die Jüngeren heute im Schnitt länger studieren und deshalb oft erst später Geld verdienen als ihre Eltern.

    Für Letzteres spricht die folgende Aussage, die sich zwar in der Studie findet, aber nicht in den meisten Medien:

    “Gleichzeitig haben junge Menschen aber auch eine höhere Chance, in die Mittelschicht aufzusteigen. (…) Eine hohe Aufwärtsmobilität dürfte in vielen Fällen das Ergebnis eines starken Einkommenszuwachses zu Beginn des Berufseinstiegs sein.”

    Vieles spricht also dafür, dass es sich um einen zeitlichen Verzögerungseffekt handelt und man eben nicht daraus schließen kann, dass die Mittelschicht weiter schrumpft. Was sie auch nicht tut.

    Grund Nummer 2: Bildung wird wichtiger

    Die Bedeutung der Bildung hat in den letzten Jahren – wenig überraschend – zugenommen, stellt die Studie fest:

    “Personen mit niedrigem Bildungsniveau und Personen in unteren Berufsklassen haben ein größeres Risiko, aus der Mitte herauszufallen. Das Risiko, eine Position mit einem mittleren Einkommen zu verlieren, ist für ungelernte Arbeitskräfte und für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur mit 16 und 22 Prozent etwa viermal so hoch wie für Fach- und Führungskräfte und für Personen mit Hochschulabschluss.”

    Das kann in einer zunehmend spezialisierten Welt nicht wundern. Wichtig ist aber, dass das keine Aufforderung für mehr Akademisierung sein sollte. Denn nicht nur ein Hochschulabschluss erhöht die Chancen, auch Menschen mit einem Meistertitel gehören oft zur Mittelschicht, was angesichts der demografischen Entwicklung in Zukunft wohl noch mehr zutreffen wird.

    Grund Nummer 3: Die Migration

    Kommen wir zu einem Punkt, der in den meisten Artikeln über die Studie – ARD, ZDF, MDR, taz, ZEIT ONLINE – mit keinem Wort erwähnt wird. Die Migration:

    “Migranten unterliegen einem größeren Abstiegsrisiko als in Deutschland geborene Personen. Das Risiko, aus der mittleren Einkommensgruppe herauszufallen, ist für im Ausland geborene Personen höher als für Einheimische. Unter den Einheimischen ist die Abwärtsmobilität bei denjenigen, die von zugewanderten Eltern abstammen, größer.”

    Und weiter:

    “Die Wahrscheinlichkeit, dass Zugewanderte der Mittelschicht angehören, ist geringer als Mitte der 1990er Jahre, was jedoch die veränderte Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund widerspiegeln könnte. (…) Zu Beginn des Beobachtungszeitraums, im Jahr 1995, stammten die meisten Migranten aus mittel- und osteuropäischen Ländern, der Türkei oder Italien. Die Zunahme sogenannter humanitärer Migranten ab 2015 führte zu einem Anstieg des Anteils von Immigranten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die möglicherweise länger brauchen, um sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und in die Mittelschicht aufzusteigen.”

    Ein politisch heikles Thema. Und auch die Studienautoren versuchen hier auf einen Sondereffekt der Migration des Jahres 2015 zu verweisen. Das stimmt aber so nicht. Denn Migration ist der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, die Zunahme des Armutsrisikos und den zunehmenden Druck auf die unteren Einkommensgruppen zu erklären:

    • Das Problem bestand schon vor der Migrationswelle des Jahres 2015: Laut Daten des „sozioökonomischen Panels“ des DIW lag schon 2012 das Einkommen von Menschen mit Migrationshintergrund deutlich unter dem Niveau der hier lebenden Bevölkerung.
    • Besonders wenig verdienten dabei die Migranten aus „arabischen und anderen muslimischen Ländern“ mit monatlichen Nettoverdiensten von 1.153 Euro bei zugleich deutlich geringerer Erwerbsbeteiligung.
    • Herausstechend ist das erhebliche Armutsrisiko der hier lebenden 2,9 Millionen türkischstämmigen Menschen: Immerhin 36 Prozent gelten als armutsgefährdet. Jeder Zehnte von Armut bedrohte hat türkische Wurzeln.
    • Hinter dieser bestürzenden Entwicklung steht vor allem das schlechte Qualifikationsniveau der Migranten aus diesen Regionen und ihrer Nachkommen. So haben unter den heute 17- bis 45-Jährigen mit türkischen Wurzeln 40 Prozent höchstens die Hauptschule abgeschlossen; 51 Prozent haben nach der Schulzeit keinen Berufsabschluss erreicht.
    • Die Erwerbsquote von Frauen und Männern liegt zudem deutlich unter dem der übrigen Bevölkerung. Gelänge es, die türkischstämmige Bevölkerung auf das Niveau der übrigen Einwohner zu heben, ginge die allgemeine Armutsquote auf das Niveau von 2005 zurück.

    Und das spielt auch bei der Entwicklung der Armut eine Rolle:

    Bereits 2017 habe ich in einem Beitrag für das manager magazin folgende Rechnung aufgemacht:

    • Nach Daten des statistischen Bundesamtes ist die Armutsquote – definiert als weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens – in den letzten Jahren gestiegen. Von 10,8 Prozent (1995) auf 12,6 (2005) und 13,9 (2014). Dabei sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich vom Armutsrisiko getroffen: Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt das Risiko demnach bei 11,3 Prozent. Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist das Risiko deutlich höher. Menschen mit “direktem Migrationshintergrund” haben ein Risiko von 22,2 Prozent, jene mit “indirektem” (also Nachkommen von nach Deutschland eingewanderten Menschen) immer noch ein Risiko von 16,1 Prozent.
    • Legt man die Bevölkerungsanteile im Schnitt der Jahre 2012 bis 2014 zugrunde, waren rund 6,8 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund vom Armutsrisiko betroffen, 2,35 Millionen Menschen mit direktem Migrationshintergrund und 1,65 Millionen mit indirektem. 
    • Bekanntlich steigt seit Jahren der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, was zu der interessanten Erkenntnis führt, dass der Zuwachs der statistischen Armut auch viel mit der Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun hat. Folgende Rechnung mag das verdeutlichen: Bei Annahme gleicher Armutsquoten der Bevölkerungsgruppen wie im Jahre 2014 genügt ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 22 auf den heutigen Wert von 25,6 Prozent, um den Anstieg der Gesamt-Armutsquote seit 2005 zu erklären.

    Zwischen-Fazit zum Thema „Druck auf die unteren Einkommensgruppen“:

    Der entscheidende Einflussfaktor ist unsere Art der Migration, die auf verschiedene Weisen wirkt:

    • höhere Anzahl Unqualifizierter (Mengeneffekt)
    • Druck auf die bereits hier lebenden Menschen in den unteren Einkommensschichten (Wettbewerb)
    • Verstärken des Wertes von Qualifikation als differenzierter Faktor

    Mit Blick auf den „Rückgang der Mittelschicht“ würde ich sagen: Das von den Autoren vermisste Anwachsen der Mittelschicht seit 2005 ist nur deshalb nicht eingetreten, weil wir Zuwanderung von überwiegend gering qualifizierten Menschen haben.

    Dazu passt die bereits zitierte Aussage:

    “Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent der Personen in der unteren Mittelschicht im erwerbsfähigen Alter in die untere Einkommensschicht. Für sie war das Abstiegsrisiko damit dreimal höher als im mittleren und sogar sechsmal höher als im oberen Teil der Mittelschicht.”

    Der Wettbewerb ist im unteren Einkommensbereich deutlich angestiegen. Die Folge muss Lohndruck sein. Das zeigen auch Studien: In Ländern, in denen Zuwanderung Unqualifizierter stattfindet, wirkt das negativ auf die Löhne im unteren Bereich.

    Keine Rocket Science.

    Dies schlägt sich dann in einem wachsenden Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund als Empfänger von Hartz-IV-Leistungen nieder. Während bis zur Corona-Krise dank der guten Arbeitsmarktlage die Zahl der deutschen „Regelleistungsbezieher“ auf zuletzt 3,4 Millionen (5,8 Millionen im Jahr 2007) sank, stieg die Anzahl der Empfänger mit Migrationshintergrund auf zwei Millionen (1,3 Millionen im Jahr 2007). Diese erhielten 12,9 Milliarden Euro. Alleine 6,1 Milliarden Euro entfielen auf Menschen aus den acht wichtigsten Asyl-Herkunftsstaaten.

    Das sind schlechte Nachrichten für die Zukunft. Wir wissen ja, dass die Ampel-Koalition eine besonders liberale Zuwanderungspolitik betreiben möchte. Das heißt, der Druck auf die untere Mittelschicht bleibt bestehen.

    Die Mobilität hat abgenommen – oder nicht?

    Als eine wesentliche Aussage wurde in den Medien aufgegriffen, dass die soziale Mobilität abgenommen hätte. Oft im Titel, verbunden mit „gebrochenen Versprechen der sozialen Marktwirtschaft”.

    Auch dies stellt sich bei der Lektüre der Studie nicht so einfach da. Dort ist zu lesen:

    “(…) Personen, die mit einem niedrigen Einkommen leben (haben), gute Chancen, in die mittlere Einkommensgruppe aufzusteigen. Von denjenigen, die mit einem Einkommen leben, das sie als einkommensarm oder armutsgefährdet einstuft, schafft jeder Dritte über einen Zeitraum von vier Jahren den Aufstieg in die mittlere Einkommensgruppe. (…) Die Chancen von Migranten, in die mittlere Einkommensgruppe aufzusteigen, sind ähnlich wie bei in Deutschland geborenen Personen.”

    Um das zu verdeutlichen: Die Chance zum Aufstieg aus Armut ist demnach größer als die Gefahr, aus der Mittelschicht abzurutschen. 

    Dennoch haben wir auch hier wieder das Problem in der unteren Mittelschicht. Die Studie hält fest:

    “(…) das Risiko, in die Gruppe der Armutsgefährdeten oder Einkommensarmen abzurutschen (ist) für Personen in der unteren Mitte heute um etwa 4 Prozentpunkte höher als noch Ende der 1990er Jahre. Dies könnte ein Zeichen für einen im Anschluss an die Reformen des deutschen Sozialversicherungssystems in den frühen 2000er Jahren schwächer gewordenen Einkommensschutz für Arbeitnehmer und Haushalte in der unteren Mitte der Einkommensverteilung sein. Eine weitere Erklärung könnte der gestiegene Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung sein, von denen viele zu den unteren Einkommensgruppen gehören.

    Auch auf die gemessene Einkommensmobilität muss sich naturgemäß die Zuwanderung in den unteren Einkommensbereich auswirken.

    Fazit

    • Die Medien in Deutschland lieben Studien anerkannter Institutionen, die eine seriös-akademische Grundlage für die eigene Weltanschauung liefern. Passen die Aussagen in das gewünschte Bild, können die Studienautoren sichergehen, dass ihnen höchste Aufmerksamkeit zuteilwird.
    • Die Journalisten müssen sich dazu nicht einmal durch die Details dieser Studien arbeiten, werden doch Presseerklärungen und knappe Zusammenfassungen gleich mitgeliefert. Diese werden dann – oft ohne groß hinterfragt zu werden – in die Welt getragen.
    • Nicht selten geben die Autoren oder Auftraggeber der Studien in Zusammenfassung und Presseerklärung den Studien einen „Spin“, der sich aus der eigentlichen Studie gar nicht ergibt.
    • All dies muss man im Hinterkopf haben, wenn wieder eine Studie in den Medien promotet wird, mit dem Ziel, bestimmte politische Entscheidungen herbeizuführen oder zu rechtfertigen.

     Das gilt besonders beim Thema der „Ungleichheit“.

    • Dabei zeigen Zahlen der OECD, dass Deutschland eines der Länder mit der geringsten Einkommensungleichheit ist und das Land mit dem geringsten Armutsrisiko. 
    • Der Anstieg des Armutsrisikos und der Druck auf die unteren Einkommen lässt sich mit dem gestiegenen Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund erklären.
    • Übrigens trägt die Zuwanderung auch zu einer höheren Ungleichheit der Vermögensverteilung bei, einfach deshalb, weil die Migranten überwiegend kein Vermögen besitzen.
    • Wir werden also, weil wir ein hilfsbereites Land sind und Menschen Asyl geben oder ihnen unabhängig von Qualifikation Zugang gewähren ein immer „ungerechteres Land“, woraus dann Rufe nach mehr Umverteilung und höheren Steuern abgeleitet werden.

    Das finde ich zumindest „befremdend“.