Jakob Augstein – oder Wunsch statt Realität

Jakob Augstein schreibt im Titel seiner Kolumne gleich, wo er steht. Nämlich politisch links. Mir persönlich ist das herzlich egal, da die hier vertretenen Positionen im besten Sinne „übergreifend“ sind – ich trete allen auf die Füße:

  • So sehe ich Schuldenschnitte als unumgänglich an (die Linke jubelt);
  • halte die Politik des Sparens für falsch (da jubelt sie wieder);
  • denke aber nicht, dass Deutschland Eurogewinner ist (keiner jubelt);
  • auch nicht, dass wir Lohndumping betrieben hätten (die Rechten jubeln);
  • halte die Idee, mit Lohnsteigerungen könnten wir den Euro retten, für absoluten Quatsch (die Rechten freuen sich);
  • und bin entschieden gegen Transferunion (wieder Rechts).
  • Dafür sollten wir bei der Lösung der Krise Vermögen beteiligen (weil es anders nicht gehen wird! – Aber die Linke freut es …).

Egal, nun zu Augstein. Es ist ein schönes Beispiel für die politisch korrekte Argumentation OHNE die wirtschaftlichen und vor allem finanziellen Folgen zu benennen:

  • „Schon im ersten Satz der Gipfelerklärung vom vergangenen Wochenende steht das Wort ‚Vertrauen‘. Es ist da von Griechenland die Rede. Aber Griechenland ist der falsche Adressat. Wichtiger wäre es gewesen, sich an Deutschland zu wenden. Das größte und stärkste Land der Europäischen Union hat in dieser Krise viel Vertrauen verspielt.“ – bto: Da stimme ich voll zu. Allerdings weil wir nicht früh genug gegengehalten haben. Eine ganz andere Antwort, als sie Augstein gibt.
  • „Es herrscht schon wieder jene typisch deutsche nassforsche Selbstüberhebung vor, wie sie sich in den Worten von Thomas Strobl äußert, stellvertretender Vorsitzender der CDU: ‚Der Grieche hat jetzt lange genug genervt.‘“ – bto: Ist unsere Rolle die des schweigenden Zahlmeisters? Doch sicherlich nicht. Natürlich hat sich Herr Strobl nicht gut geäußert. Doch vertreten wir unsere Interessen in Europa so schlecht, dass man wahrlich nicht so argumentieren kann. Wenn überhaupt sind diese Äußerungen die Folge der schwachen Vertretung unserer Position, nicht die Ursache.
  • „Aber es braut sich da etwas zusammen am europäischen Horizont, für das Deutschland sich gar nicht wappnen kann. Der alte Europäer Romano Prodi hat gewarnt: ‚Meine Sorge ist, dass sich eine antideutsche Spannung entwickelt. Wir haben das Schlimmste verhindert, aber es entsteht ein tiefer Bruch zwischen Deutschland und vielen anderen Ländern.‘ Sein Landsmann Matteo Renzi formulierte es kürzer: ‚Genug ist genug.‘“ – bto: Da bin ich voll bei ihm. Aber die Antwort kann nicht lauten, einem nicht-funktionsfähigen Konstrukt über die – im Gegensatz zu Augsteins impliziter Annahme – nicht endlos tiefen Taschen der deutschen Steuerzahler über die Runden zu helfen. Denn Augstein will auch nur Zeit kaufen, denn die wahre Lösung des Problems setzt auch einige unangenehme Entscheidungen voraus.
  • „Aber es ist eben nicht nur eine weitere Verbalinjurie des brauseköpfigen früheren Finanzministers, wenn Yanis Varoufakis sagt, die Vereinbarung von Brüssel sei das ‚Versailles unserer Tage‘. Und es ist eben nicht nur angelsächsische Kenntnislosigkeit europäischer Verhältnisse, wenn der englische ‚Telegraph‘ schreibt: ‚Griechenland wird behandelt wie ein besetzter Feindstaat.‘ Oder wenn der ‚Guardian‘ entsetzt feststellt: ‚Die Euro-Familie wurde als Klub der Schuldenhaie entlarvt, dem die Demokratie gleichgültig ist.‘“ – bto: Lieber Herr Augstein, dies ist ein klassischer Gläubiger-Schuldner-Konflikt. Dass dabei Nicht-Beteiligte, also jene, die nicht bezahlen müssen, Sympathien für den Schuldner hegen, ist o.k., aber kein Ausdruck überlegener Kenntnisse. Richtig ist: Wir machen uns massiv unbeliebt und verlieren unser Geld trotzdem, weil Griechenland wirklich pleite ist. Deshalb auch mein Kommentar bei den Kollegen von mm. Unsere Politik ist gescheitert und in der Beratersprache unten links. Aber ihre Idee, einfach zu bezahlen, löst das Problem nicht. Der Telegraph, den Sie zitieren, hat übrigens auch geschrieben, dass Schäuble mit seinem Grexit auf Zeit der Ehrlichste gewesen ist und Griechenland wirklich einen Weg aus der Misere gewiesen hat.
  • „Auch heute wird schon ein neues Sacrum Imperium gebraucht, ein Reich mit höheren Weihen als Exportquote und Bruttosozialprodukt. Merkels Heiliges Europäisches Reich Deutscher Nation empfängt seine Sakralisierung durch einen neuen Kult der Vernunft. Der Neoliberalismus ist eine Religion, und die Politik der Austerität ist ihr Ritus. Ihr Anspruch ist nichts weniger als die Wahrheit: Die Regeln des Neoliberalismus sind Ausdruck einer höheren Vernunft.“ – bto: oh je. Ich selbst halte die deutsche Wirtschaftspolitik für verfehlt, weil der Verkauf auf Kredite, wenn diese nicht bedient werden, ein ziemlich schlechtes Geschäft ist. Natürlich nicht, wenn andere – in diesem Fall alle Steuerzahler – die Rechnung bezahlen, während nur ein Teil den Nutzen hat. Doch ein Blick auf die deutsche Wirtschaftspolitik zeigt alles, nur keinen Neoliberalismus! – Außer, man will wie Piketty einen Staatsanteil von 75 Prozent …
  • „Tatsächlich spricht aber viel dafür, dass es den Griechen heute schlechter geht als zu Beginn der Krise, nicht weil sie diesen Rat in den Wind geschlagen haben, sondern weil sie ihm gefolgt sind.“ – bto: Nur diesem Satz verdanken die Leser von bto, dass ich mich überhaupt damit beschäftige. Diese Aussage passt zu den Talkshow-Statements von Augstein, wonach die Staatsschuldenkrise nur eine Folge der Bankenkrise sei. Beides ist Quatsch. Die Staaten hatten zumeist schon hohe Schulden vor der Krise (Griechenland, Italien, Frankreich, Portugal) oder mussten den hoch verschuldeten Privatsektor (Haushalte und Nicht-Finanzunternehmen) auffangen, dessen Überschuldung die Banken (die daran natürlich selber Schuld hatten!) in die Knie zwang, auffangen (Irland, Spanien). Griechenland geht es nicht mehr so gut, wie zu den Zeiten, als sich das Land jedes Jahr mit zehn Prozent des BIP im Ausland verschuldet hat. Das stimmt! Ohne die neuen Kredite wären die Griechen wieder auf dem Niveau vor dem Schuldenboom angekommen. Die Kredite verzögern diesen Prozess. Den Einbruch auf „neoliberale Politik“ zu schieben, gilt vordergründig, weil die Maßnahmen in der Tat oftmals blödsinnig sind. Aber das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Aus unserer Sicht übrigens besser: keine Kredite verloren und wenn wir den Griechen humanitäre Hilfe gewährt hätten, wären wir heute die europäischen Lieblinge. Das war und ist natürlich dumm.
  • „Zur Zeitenwende des Mauerfalls im Jahr 1989 prophezeite der Historiker Gordon Craig: ‚Schließlich wird ein Staat, der die größte Wirtschaftsmacht in Europa ist, früher oder später neue politische Ideen entwickeln. Das können gute Ideen sein, das können aber auch schlechte, gefährliche Ideen für Deutschlands Nachbarn sein.‘ Craig behielt Recht.“ – bto: Ich wünschte, wir hätten eine Idee, einen Plan. Haben wir aber nicht. Wir taumeln ins Unglück und politische Schulung, wie in diesem Beitrag, hilft uns nicht.

Übrigens: kein Wort zu den Kosten für uns. Nur Allgemeinplätze. Ob die Leser Herrn Augstein auch so viel zustimmen, wenn er ihnen sagt, dass es in Europa einmalig rund 1.000 Milliarden Euro sind und dann jährlich nochmals so 50 bis 100?

SPIEGEL ONLINE: Im Zweifel links: Trau, schau, wem!, 16. Juli 2015