Geschichten vom Zins

Wie wichtig tiefe Zinsen sind, um einen Zusammenbruch unseres finanziellen Kartenhauses zu verhindern, habe ich in dieser Woche schon betrachtet. Wie ungewöhnlich die heutigen tiefen Zinsen sind, hat Thomas Mayer in der F.A.S. schön zusammengefasst:

  • Er sagt, dass “(…) nach moderner ökonomischer Auffassung die Einführung eines negativen Zinses nichts Besonderes sei.” Weiter: “Eine ältere Auffassung, nach der ein negativer Zins unnatürlich und damit Ausdruck von Verrücktheit sei, sei weitgehend überwunden. Heute herrsche eine ‘säkulare Stagnation’ der Wirtschaft, bei der die Zinsen auf natürliche Weise bis in den negativen Bereich fielen.”
  • “‘A History of Interest Rates’ von Sidney Homer und Richard Sylla (…) erschien 1963 und erlebte 2005 seine vierte Auflage. Das schwergewichtige Buch beschreibt die Entwicklung des Zinses über die vergangenen 5000 Jahre. Eines sei hier schon verraten: Noch nie seit es schriftliche Überlieferungen gibt, war der Zins so niedrig wie heute.”
  • Bei den Sumerern und Babyloniern bewegten sich in der Zeit von 3000 bis 600 v. Chr. die jährlichen Zinsen zwischen 10 und 25 Prozent.”
  • “Die Griechen kamen dann in der Zeit von 600 vor bis 100 nach Christus schon in den Genuss niedrigerer Zinsen zwischen 6 und 18 Prozent.”
  • “Bei den Ägyptern und Römern pendelte sich der Zins in der Zeit von 500 vor bis 400 nach Christus auf etwa 12 Prozent ein. Im Byzantinischen Reich fiel er in der Zeit von 500 bis 1000 n. Chr. auf 6 bis 12 Prozent.”
  • “Mittelalter und Renaissance brachten Zinsen am unteren Rand von 4 bis 10 Prozent, wobei der Zins in Deutschland im 17. Jahrhundert einmal bis unter 2 Prozent absackte.”
  • “In der Moderne (18. bis 20. Jahrhundert) pendelte der untere Rand der verzeichneten Zinsen zwischen gut 2 und knapp 6 Prozent.”
  • “Im 20. Jahrhundert wurden in der ersten Hälfte in England und den Vereinigten Staaten mit 0,8 bzw. 0,9 Prozent die niedrigsten Zinsen auf hochwertige Kredite mit kurzen Laufzeiten registriert.”

bto: Es ist interessant, wie die Zinsen strukturell fallen. Zu Beginn war der Zins auch so hoch, weil man sich mit Gütern, die auch einem Wertrisiko unterlagen, bezahlte. Die Erfindung von Geld als umlauffähig gemachte Schulden und danach des Papiergeldes mit seiner (fast) unendlichen Vermehrbarkeit und der Schaffung des privaten Bankensystems mit seiner ebenfalls (fast) unbeschränkten Möglichkeit, Geld zu schaffen, dürfte hinter dem säkularen Trend der Zinssenkung stehen.

  • Der Zins könnte den Aufstieg und Fall von Nationen, ja ganzen Zivilisationen reflektieren. Hoch sind die Zinsen im Frühstadium der Entwicklung (solange noch größere Unsicherheit über die Zukunft herrscht), danach ein Rückgang, wenn mit zunehmendem Entwicklungsstand das Gefühl, in sicheren Zeiten zu leben, steigt – und schließlich ein erneuter scharfer Anstieg beim Scheitern der Zivilisation, wenn die Unsicherheit über die Zukunft jäh ansteigt. Sofern der Aufstieg und Niedergang historischer Zivilisationen mit einer Entwicklung der Zivilisation insgesamt einhergeht, wäre eine langfristig fallende Tendenz der Zinsen denkbar.” – bto: was eine ebenfalls denkbare Begründung ist. Ich denke, nur bei höchstem Vertrauen ist man auch bereit, in einem Geldsystem wie dem unsrigen zu leben.
  • Die Vorstellung, dass der Zins eine ‘säkulare Stagnation’ der Wirtschaft widerspiegeln könnte, fehlt bei Homer und Sylla jedoch völlig. Das ist auch nicht verwunderlich, überwogenen doch im betrachteten Zeitraum von 5000 Jahren die Zeiten von Nullwachstum, also der ‘Stagnation’.” – bto: was wiederum die Thesen von Robert Gordon so interessant macht – siehe Montag. Er betont immer, dass die letzten 200 Jahre die Ausnahme gewesen seien und nicht die Regel. 
  • “Für den Zeitraum vom Jahr Null bis 1000 gibt er ein Jahreswachstum von durchschnittlich 0,01 Prozent an, von 1000 bis 1820 kommt er auf 0,22 Prozent und von 1820 bis 1998 errechnet er 2,21 Prozent.”
  • “Während der Stagnation im ersten Jahrtausend nach Christus betrug der Zins nach Homer und Sylla zwischen 6 und 12Prozent (…). Wirtschaftliche Stagnation bedingt also keineswegs einen Null- oder Negativzins.” – bto: Wenn das Piketty wüsste. Damals müssen die Vermögen relativ zum Einkommen wahrlich explodiert sein. Sind sie auch, aber nicht exponentiell und nicht ewig.

Fazit Mayer: “Man könnte daher auch anführen, dass es in der fünftausendjährigen Vorgeschichte des Zinses eines nicht gab: eine globale Politik der Niedrigzinsen. Noch nie in der Geschichte wurden die Zinsen in stärkerem Maße von staatlichen Behörden mit der Absicht gelenkt, durch Absenkung des Zinsniveaus das Wachstum anzukurbeln.”

F.A.S.: “Geschichten vom Zins”, 17. September 2016