„Eine Generalüberholung für den Euro?“ Hirngespinst oder machbar?

“Herr Dr. Stelter, mich würde Ihre Meinung zu diesem Artikel interessieren. Es wäre sicher eine Bereicherung für diesen Blog, wenn Sie die darin aufgestellten Thesen genauso bewerten bzw. kommentieren würden wie z. B. die der Schuldenanalytiker in der angelsächsischen Presse. Und, um auch das ehrlich zu sagen: Sie könnten dabei auch eigene Standpunkte mit Gewinn überprüfen und bewerten, weil hier eben nicht nur Bestätigungsthesen dargeboten werden.”

Ich finde es generell gut, eigene Ansichten zu überprüfen und bin deshalb für jeden Hinweis dankbar. Hier nun die Highlights des empfohlenen Artikels mit meinen Kommentaren:

  • “Der Euro ist in seiner jetzigen Ausgestaltung langfristig nicht überlebensfähig. Die hastigen Rettungsmaßnahmen der vergangenen Jahre, die trotzigen Worte Mario Draghis, alles zu tun, um die Währung zu bewahren, eine solide, aber halbfertige Bankenunion – all das wird nicht reichen, um den Euro in einer nächsten echten Krise zu schützen.” – bto: Bis hier fühle ich mich bestätigt. Allerdings denke ich, dass die EZB noch lange nicht am Ende ist. Helikopter etc. kommen erst noch.
  • “Nach einem umstrittenen Brückenbau haben weder Brückenbefürworter noch Brückengegner ein Interesse daran, dass das Bauwerk instabil ist. Wer die Brücke beseitigen will, muss für den kontrollierten Abriss werben. Wer die Brücke bewahren will, muss sie stabilisieren. Ein Einsturz der Brücke ist die schlechteste aller Lösungen. So ist es auch beim Euro.” – bto: Der Vergleich hinkt enorm. Natürlich darf es keinen Einbruch = Chaos geben. Das sage ich auch immer. Nur, es ist keine Brücke, sondern eine Zwangsjacke. Eher mit einem Labyrinth zu vergleichen, wo man immer in einer Sackgasse endet.
  • “Es ist die politische Angst vor der nächsten großen Maßnahme – Abriss oder Generalüberholung –, die beide Seiten dazu bringt, am Status quo festzuhalten. Die Befürworter wissen, dass politische Mehrheiten für neue Integrationsschritte heute fehlen. (..) Und Kritiker der Währungsunion wissen, dass der Wechsel in den neuen Aggregatzustand eines Regimes fester Wechselkurse mit so unüberschaubaren Risiken und langfristigen Kosten verbunden wäre, dass sich die Rückabwicklung letztlich eben doch nicht rechnet.” – bto: Dies setzt rationales Verhalten voraus, was bei der nächsten Krise nicht mehr gegeben sein wird.
  • “Der Euro hat nicht zu Konvergenz im Euroraum geführt, sondern zu Divergenz. Das Versprechen Maastrichts, durch die gemeinsame Währung würden sich auch Wirtschaftszyklen angleichen, der ‚optimale Währungsraum‘ müsse also gar nicht der Startpunkt der monetären Integration sein, sondern könne diesen mit der Zeit hervorbringen, hat sich nicht bewahrheitet. (…) Der Euro muss durch mehr Integration im Binnenmarkt zu mehr Konvergenz geführt werden.” – bto: theoretisch nett, praktisch nicht realisierbar. Wie soll man das denn erzwingen?
  • “Die Maastricht-Regelunion ist gescheitert. Wer glaubte, dass eine vertragliche Vereinbarung tatsächlich Regeleinhaltung hervorbringen würde, musste sich eines Besseren belehrt sehen. Die auf verantwortungsvolle Einzelstaaten gebaute Stabilitätsunion hat nicht funktioniert, weil die Euroländer ihre Haushalts- und Wirtschaftspolitik eben nicht an den Anforderungen der Währungsunion ausgerichtet haben, sondern am nationalen politischen Kalkül. Diese Diagnose ist ernüchternd und macht wenig Hoffnung. Wie noch mehr Regeln das Problem mangelnder Regeleinhaltung lösen sollen, erschließt sich mir nicht. Eine politischere Währungsunion könnte die probatere Antwort sein.” – bto: Sehen wir nicht gerade, dass eine “politischere Union” den Interessen der nationalen Politiker erheblich entgegenläuft?
  • “Die schlechte Wirtschaftslage macht den Euro angreifbar. Die Schulden in Europa sind zu hoch, das Wachstum ist zu niedrig. Strukturreformen sind zu oft ausgeblieben. Investitionen auch. Die wichtigsten Wirtschaftsdaten Europas sind weit hinter die Vergleichswerte vieler anderer Weltregionen zurückgefallen.” – bto: Das stimmt. Schuld hat daran auch die verfehlte Euro-Rettungspolitik unter deutscher Führung.
  • “Das heißt auch, dass die Schuldenstände in vielen Ländern nicht mehr tragfähig sind. Wie soll ein Land wie Italien seinen heutigen Schuldenstand von 135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch Wachstum abtragen? (…) Europa muss einen Weg finden, Strukturreformen umzusetzen, wieder zu investieren und auch die geordnete Restrukturierung von Staatsschulden möglich zu machen, ohne dass damit der Austritt aus dem Euro einhergeht.” – bto: Na, da fühle ich mich voll bestätigt. NUR: a) Es geht auch um faule Privatschulden. b) Der Autor nennt keine Beträge. c) Der Autor sagt nicht, wer den Schaden trägt! Doch das ist der Dreh- und Angelpunkt für jede Lösung!
  • “Der Euro garantiert den gerade für Deutschland wichtigen Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt, weil kompetitive Abwertungen ausgeschlossen sind. Der Euro stärkt die Position des europäischen Kontinents im Weltmarkt, weil er eine Weltreservewährung geworden ist. Der Euro ist zudem die politische Garantie, dass wir es mit dem europäischen Projekt ernst meinen.” – bto: Der Euro dient also der Absicherung des falschen deutschen Exportmodells und soll dauerhafte Kapitalexporte zu damit immer mehr Schulden in den anderen Ländern ermöglichen. Das verstehe ich nicht. 
  • “Auch der Ausschluss einzelner Länder ist gefährlich. Nicht nur, weil politisch und rechtlich völlig ungeklärt ist, wie er ablaufen könnte, sondern auch, weil eine Währungsunion, die eine Exit-Option enthält, nichts anderes ist als ein System fester Wechselkurse.” – bto: Das stimmt.
  • Hätten Irland und Portugal ihre politisch schwierigen, aber ökonomisch dringend notwendigen Strukturreformen durchgeführt, wenn sie die Möglichkeit zum Exit gehabt hätten? Dass es keinen Ausgang gab, hat den Euro in der Krise beschützt.” – bto: ??? Portugal ist immer noch nicht wettbewerbsfähig. Beide sind pleite. Wo ist der Erfolg?

Jetzt kommen die Lösungsvorschläge:

  • “Erstens: den Binnenmarkt vollenden. (…) Der Euroraum muss ein echter Binnenmarkt werden, mit gemeinsamer Regulierung im Kapitalverkehr und im Digitalbereich, mit deutlich erhöhter Arbeitskräftemobilität. Dass in diesen Feldern sehr wenig geschieht, zeigt, dass die Hauptursachen der Divergenzen im Euroraum immer noch verkannt werden.” – bto: Sprachbarrieren, Bildungsunterschiede, unterschiedliche Sozialstandards. Ja, das alles kann man angehen und hätte man auch tun müssen, um den Euro zu sichern. Politisch im heutigen Umfeld undenkbar und keine Lösung für die zwei Kernprobleme: divergierende Wettbewerbsfähigkeit und Überschuldung. 
  • “Zweitens: die Bankenunion vollenden. Obwohl mit einheitlicher Aufsicht und Abwicklung zwei Schlüsselpfeiler aufgestellt worden sind, ist die Stabilität noch nicht garantiert. Die nächste Krise in der Währungsunion könnte durch eine Abwanderung von Einlagen ausgelöst werden. (…)  Dass viele in Deutschland einem europäischen Einlagensicherungssystem skeptisch gegenüberstehen, ist angesichts der verbleibenden Risiken in vielen Ländern nachvollziehbar. Aber die Skepsis ist kurzsichtig. Wer sich einem gemeinsamen System, das ja auch auf dem Weg einer Rückversicherung erreicht werden kann, versperrt, der läuft in die Falle der Zeitinkongruenz. Die langfristigen Kosten aus einem Zusammenbruch der Währungsunion oder auch einer hastigen Übernachtrettung könnten die heutigen Risiken deutlich übersteigen.” – bto: Ja, Chaos ist immer teurer. Aber wer so argumentiert, der muss die Kosten offenlegen und nicht im Allgemeinen bleiben. Dazu sind die Kosten viel zu hoch!
  • “Drittens: die Kriseninstrumente überarbeiten und stärker politisieren. (…) Ein demokratisch kontrollierter Europäischer Währungsfonds, an dessen Spitze ein europäischer Finanzminister steht, der die europäischen Regeln überwachen würde, aber auch politischen Spielraum im Krisenfall hätte und das Gesicht der Troika würde, wäre dringend nötig. Ein solcher Finanzminister sollte im Ernstfall dann auch ein Veto über nationale Haushalte erhalten.” – bto: pure Theorie: Frankreich und Italien haben das schon lange abgelehnt.
  • “Viertens: die demokratische Kontrolle verbessern. Der Euro kämpft überall in der Währungsunion mit einem Legitimationsdefizit, dessen Ursprünge unterschiedlicher nicht sein könnten. (…) Solche Legitimationsdefizite gilt es zu beseitigen – am besten über eine gemeinsame Kammer von nationalen Parlamenten und dem Europaparlament zur Kontrolle des Europäischen Währungsfonds. Europa sollte auch bei den Legitimationsstrukturen den Anforderungen eines echten Mehrebenen-Regierungssystems entsprechen.” – bto: Das fordern die Linken in Europa schon lange, siehe Piketty. Da hätten sie die Mehrheit und könnten zulasten der anderen Länder – vor allem Deutschlands – Ausgabenprogramme beschließen. Das ist der Blankoscheck zu unseren Lasten!
  • “Leistungen wie die Liquiditätshilfen der EZB nicht zu Rettungsseilen werden dürfen, die man nicht mehr loslassen kann. Dass solche Hilfen heute von den nationalen Zentralbanken vergeben werden und nicht von der EZB selbst, ist ein Anachronismus.” – bto: Damit meint er die Geldschöpfung der nationalen Notenbanken (ELA etc). Natürlich ist das ein Unding. Doch welche Regierung wird nach den Erfahrungen der letzten Jahre auf dieses Instrument freiwillig verzichten?
  • “Eine geordnete Staatsinsolvenz ohne Austritt aus der Währungsunion ist möglich, wenn es einen klaren Rahmen dafür gibt. Doch bislang trauen sich die wenigsten in Europa, einen Mechanismus für geordnete Insolvenzen im Euroraum vorzuschlagen. Wohl auch deshalb, weil die weitgehend risikolose Behandlung von Staatsanleihen in Bankbilanzen damit vorbei wäre und Banken Staatsanleihen mit Eigenkapital unterlegen müssten.” – bto: Es ist doch besser, wenn andere für einen bezahlen!

Kann eine Generalüberholung der Währungsunion in naher Zukunft gelingen? Um ehrlich zu sein: wahrscheinlich nicht. Dabei ist weder ein europäischer Superstaat nötig noch eine Transferunion. Wie hier skizziert, geht es um ein Paket aus mehr Souveränitätsteilung, mehr Risikoteilung und mehr Demokratie. Für manche Länder, vor allem für Frankreich, ist die Souveränitätsteilung das Problem. Für Deutschland, gerade nach den vielen Maßnahmen der vergangenen Jahre, ist weitere Risikoteilung das Problem.”

Wer die Renovierung der Währungsunion bis in den Sommer 2018 verschiebt, geht ein zu großes Wagnis ein. Der nächste große Sturm in Europa könnte den Euro schon zerstören. Daran kann niemand ein Interesse haben. Der Einsturz der Brücke wäre fatal. Aber auch ein kontrollierter Abriss wäre aus heutiger Sicht ökonomisch und politisch töricht. Die Generalüberholung ist der richtige Ansatz. Und die Arbeit muss jetzt beginnen.”

Aber diese guten Überlegungen kranken an drei Dingen:

  1. Wie lösen wir das Problem der massiv auseinander gelaufenen Wettbewerbsfähigkeit?
  2. Wie schaffen wir die Billionen an faulen Schulden aus der Welt?
  3. Wie realisieren wir die Reformen, bei denen niemand mitmachen will?

Deshalb wird es – leider – ziemlich schiefgehen.

F.A.Z.: “Eine Generalüberholung für den Euro”, 18. März 2016