“Die Lebenslüge der EU”

Unaufgeregt kommt die NZZ mit Blick auf Europa auf den Punkt. Natürlich sind die Gründe für die derzeitigen Probleme für jeden offensichtlich, der bereit ist, offen zu schauen und nicht im System gefangen ist. Der Brexit war bis jetzt nicht die Katastrophe für Großbritannien, die viele vorhergesagt haben. Im Gegenteil, die Finanzmärkte sind heute höher als vor der Abstimmung und wie bei bto früh thematisiert, dass Pfund musste sowieso abwerten und eine Abwertung ist gut und nicht schlecht aus britischer Sicht.

Ganz anders die Sicht in Brüssel:

  • In Brüssel hält indes die Schockstarre an. Es dominieren Konsternation und Ratlosigkeit. Man fühlt sich erinnert an das Diktum des österreichischen Kaisers Ferdinand I. im Revolutionsjahr 1848. Dieser soll – ob wahr oder gut erfunden – beim Blick auf den Protest aufgebrachter Bürger nur ein irritiertes Ja, dürfen’s denn des?gestammelt haben.” bto: Das ist ein gutes Bild!
  • Mancher Berufseuropäer scheint die Abspaltung als neuzeitliche Majestätsbeleidigung zu werten. Erneut bestätigt sich in diesen Kreisen der Verdacht, dass dem Stimmvolk nicht zu trauen sei. Das ist kein Novum: Die Beziehung zwischen der EU und der direkten Demokratie ist voll von Irritationen und Rückweisungen.”  bto: Man lässt dann einfach solange abstimmen, bis es passt.
  • Auch in anderen Mitgliedstaaten befinden sich europakritische Parteien im Aufwind. Die Angst vor Nachahmern und weiteren Abspaltungen geht um, etwa mit Blick auf Frankreich, die Niederlande oder Österreich. Die Entfremdung zwischen der Brüsseler Elite und der Bevölkerung wächst.”  bto: “Elite” nicht wegen der Qualifikation, sondern wegen der Rolle.
  • Diesen Unmut als Ausgeburt von Populismus und Hinterwäldlertum herunterzuspielen, ist wenig hilfreich und nährt nur den Verdacht einer abgehobenen und sich verselbstständigenden EU-Kaste.”
  • Nötig ist eine Neuorientierung. Dabei gilt es sich zu fragen, was die EU im Kern zusammenhält und somit erhaltenswert ist – und was die EU entzweit und daher angepasst werden muss.”
  • Als einigende Klammer der EU kann die Grundidee des Binnenmarktes betrachtet werden. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital hat Europa nicht nur Wohlstand gebracht.”
  • Wenn der freie Güter- und Dienstleistungsverkehr breiten Rückhalt geniesst, wo verlaufen dann die Bruchlinien? Zu nennen sind zwei Elemente: der Euro und der freie Personenverkehr.”  bto: wie hier immer wieder geschrieben. 
  • Beim Euro sind die Konstruktionsfehler sattsam bekannt: Wirtschaftlich und stabilitätspolitisch höchst heterogene Länder werden durch eine Währung aneinander gekettet, obwohl sie weiterhin eine autonome Wirtschaftspolitik betreiben. (…) Die zur Rettung des brüchigen Elitenprojektes praktizierten Hauruckübungen und Regelbrüche haben dem Ansehen der EU als Rechtsgemeinschaft schwer geschadet.”  bto: In der Tat sind es Rechtsbrüche der wildesten Art, nur noch getoppt von der einseitigen Aufhebung von Dublin durch die Bundesregierung.
  • “Der Euro hat sich als das herausgestellt, was Ralf Dahrendorf schon 1995 weitsichtig ahnte: als abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet.”
  • In der auf 28 Staaten angewachsenen EU steigt das Bedürfnis weiter Bevölkerungsteile, eine als unkontrolliert empfundene Migration zumindest teilweise wieder steuern zu können. Dass dies nicht möglich ist, wird als Ohnmacht empfunden, als Selbstaufgabe nationaler Selbstbestimmung.”
  • Man kann einen Sozialstaat haben, und man kann freie Zuwanderung haben. Aber man kann nicht beides gleichzeitig haben, meinte dazu der liberale Ökonom Milton Friedman. Diese ökonomischen Anreizprobleme dürften auch Brüssel bewusst sein. Dennoch verknüpft man den Binnenmarkt mit unbeschränkter Wanderungsfreiheit – wohl im Bestreben, Fakten zu schaffen und das Ziel einer Sozialunion vorwegzunehmen.”
  • Eine affektive Bindung an Europa lässt sich nicht per Währung oder Dekret oktroyieren, und auch nicht über freien Personenverkehr. Wird Letzterer von einer Mehrheit der Landesbevölkerung als nachteilig empfunden, resultiert eher das Gegenteil (…).” bto: so richtig!

Die uneingeschränkte Personenfreizügigkeit gilt als sakrosankt, selbst Debatten darüber sind tabu. Mit dieser Haltung gefährdet man das übergeordnete Ganze, den Binnenmarkt. Der Brexit, der bei mehr Entgegenkommen Brüssels in der Migrationsfrage kaum eine Mehrheit gefunden hätte, sollte ein Weckruf sein. Gefordert ist ein kontrollierter Rückbau, der die EU wieder in Einklang bringt mit der Realität souveräner Mitgliedstaaten.”

bto: Was der Autor dann nicht mehr schreibt  natürlich muss auch der Euro neu geordnet oder abgeschafft werden.

→ NZZ: “Die Lebenslüge der EU”, 6. August 2016