“Die Gefahr der frustrierten Jugend”

Heute Morgen hatte ich Gunnar Heinsohn zu den demografischen Hintergründen des Syrien-Konfliktes. Aus der NZZ nun eine etwas andere Einschätzung zur Bedeutung der Demografie bei diesen Konflikten:

  • „Dass die Jugend die rastlose Kraft der Weltgeschichte ist, mag keine revolutionäre Erkenntnis sein. Von der 68er-Bewegung über die Tiananmen-Proteste in China bis zur Arabellion 2011 waren es stets Studenten, die gegen die herrschende Elite aufbegehrten. Ungelöst scheint hingegen das Rätsel, wann der jugendliche Tatendrang zu positiven Erneuerungen führt oder im Gegenteil in zerstörerische Gewalt umschlägt.“
  • „(…) demografische Entwicklungen (…) ändern sich meist nur langsam und erlauben deshalb einen strategischen Blick in die Zukunft. (…) An einer ihrer Konferenzen präsentierte der Geograf Garry Fuller die Theorie des youth bulge – des Jugend-Bauches. Am Beispiel von Sri Lanka zeigte er, wie die Bevölkerungsentwicklung die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Singhalesen und Tamilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten befeuerte. Es werde kritisch, wenn der Anteil der 15- bis 24-Jährigen auf 20 Prozent der Gesamtpopulation ansteige.“
  • „Gestützt auf Fullers Theorie thematisierte der deutsche Völkermordforscher Gunnar Heinsohn in seinem Buch Söhne und Weltmacht bereits 2003 das demografische Konfliktpotenzial in der islamisch-arabischen Welt. Heinsohn warnte vor Unruhen, Krieg und Terror, weil es im Nahen Osten einerseits zu viele Söhne und andererseits zu wenige gesellschaftliche Positionen gebe, die ihren Ansprüchen genügten.“ – bto: Man konnte also als Politiker in Europa sehr wohl wissen, was da auf uns zukommt.
  • „Diese verschärfte Konkurrenz um Zukunftsperspektiven ist für Heinsohn die Ursache, die frustrierte Männer nach radikalen Ideologien suchen lässt, um in ihrem Namen zu töten. Es ist nicht die Ideologie selbst, die zu Gewalt führt.”
  • “Auf den ersten Blick bestätigt der brutale Krieg in Syrien diese Theorie. Der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren lag 2011 bei über 21 Prozent.“
  • „Allerdings hatten Marokko, Jordanien oder Algerien etwa ähnlich junge Gesellschaften. Warum ist es dort nicht zum Krieg gekommen? Die Antwort liegt in Syriens ethnisch-religiösen Spannungen zwischen Sunniten, Alawiten und Kurden. Spannungen, die vom Regime und von Teilen der Opposition während Jahrzehnten für ihre Machtkämpfe instrumentalisiert wurden, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Spannungen, die nun wiederum durch die Rivalitäten der Regionalmächte Saudi-Arabien, Iran und Türkei befeuert werden.“ – bto: Außerdem würde ich anmerken, dass es zu früh ist, Marokko und Algerien als stabile Staaten zu beschreiben. Auch die Türkei hat einen Bevölkerungsboom.
  • „Hinzu kommt die durchaus auch ideologisch getriebene Konfrontation (Demokratie contra Autoritarismus) zwischen den USA und Russland. Der zunehmende russische Militarismus unter Wladimir Putin zeigt im Übrigen, dass auch schrumpfende Gesellschaften zu Gewalt neigen können. Grosse Eroberungszüge sind angesichts der knappen Jugend allerdings schwierig.“ – bto: Ich denke, sie sind genau die Folge dieser Entwicklung, weil Russland um die abnehmende Kampfstärke weiß und deshalb heute handelt.
  • Die gute Nachricht für Nordafrika und den Nahen Osten ist, dass die youth bulge abklingen. (…) Ursache dafür war vor allem die bessere Bildung der Frauen sowie eine bessere Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung der ländlichen Gebiete.
  • Der Demograf Youssef Courbage und der Politologe Emmanuel Todd hatten aufgrund dieser Entwicklung die Arabellion bereits 2007 in ihrem Buch Die unaufhaltsame Revolution vorausgesagt. Eine gebildete, urbane Jugend geht für moderne Werte – Freiheit, Gleichheit und politische Partizipation – auf die Strasse. Die Umwälzungen und Kriege sind demnach bloss Krisen des Übergangs und der Islamismus ein verzweifeltes Rückzugsgefecht der Traditionalisten. Angesichts sinkender Kinderzahlen, so die Hoffnung, sollten die arabischen Staaten nach dem ostasiatischen Vorbild nun ihre demografische Dividende ernten können. Die jungen Gesellschaften, die weniger Kinder und alte Menschen versorgen müssen, können vermehrt in höhere Bildung, Forschung, in Infrastruktur oder private Unternehmen investieren. Bis jetzt jedoch fallen die Früchte der Arabellion sehr enttäuschend aus.“ – bto: was wiederum zeigt, dass Kultur und Art der Bildung ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
  • „Die eigentliche demografische Zeitbombe – mit der Ausnahme von Pakistan – aber tickt in Subsahara-Afrika. (…) Die Geburtenraten in Schwarzafrika sinken zwar auch, aber der Abwärtstrend begann später, verläuft langsamer und ist in einigen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Bevölkerung hat sich im vergangenen Jahrhundert verzehnfacht und wird sich bis 2050 auf rund zwei Milliarden Menschen verdoppeln.“ – bto: und dann auf den Weg nach Europa machen.
  • „Der afrikanische Sonderfall hat viele Ursachen: unter anderem mangelnde Bildung, landwirtschaftlich geprägte Gesellschaften oder die weitgehende Abwesenheit von staatlichen Informationskampagnen für Familienplanung. Aber auch wenn sich diese Rahmenbedingungen verbessern sollten, die youth bulges bestehen bereits.“
  • „Und sie werden vermutlich gerade dort zu grossen Konflikten oder Fluchtbewegungen führen, wo die Moderne in Form von Bildung und Urbanisierung bereits voranschreitet, aber ihre Versprechen nicht halten kann. In Uganda etwa, wo 68 Prozent der Bevölkerung jünger als 24 Jahre alt sind und wo jedes Jahr 40 000 Universitätsabgänger um 8000 Stellen kämpfen. Besorgt sind die Experten auch über Äthiopien, das bisher als Stabilitätsanker für das ganze Horn von Afrika galt, aber seit vergangenem November von Unruhen erschüttert wird.“
  • „Im Vergleich mit den demografischen Übergängen in anderen Weltregionen hat Afrika einen weiteren Nachteil. In Zeiten einer zunehmend automatisierten Produktionsweise lässt sich das chinesische Modell einer Werkbank mit einer fast unbegrenzten Menge an billigen Arbeitskräften kaum mehr kopieren. Ein grosser Teil des Wirtschaftswachstums in Afrika sei jobless growth, (…) Es ist riskant, wenn junge, gut ausgebildete und körperlich tüchtige Afrikaner unbeschäftigt sind.

Die NZZ optimistisch: „Wenn wir dem Einwanderungsdruck nicht allein mit Abschottung begegnen, sondern in Afrika auch geduldig in die Problembewältigung investieren, lassen sich die schlimmsten Gewaltexzesse vielleicht verhindern.“

„Der Historiker Herbert Moller neigte indes zu einer pessimistischen Einschätzung. Die meisten Gesellschaften seien immer schon zu arm, ihre Machtstrukturen zu starr und ihre Bildungseinrichtungen zu schlecht gewesen, um das kreative Potenzial ihrer Jugend zu nutzen, resümiert er in seinem Essay von 1968. Die große Mehrheit des menschlichen Talents bleibt unerkannt und wird verschwendet.

-> NZZ: “Die Gefahr der frustrierten Jugend”, 25. Oktober 2016